I. EINLEITUNG
'Vom face
to face zum interface': Unter dieses Motto
läßt
sich die mediale Veränderung ethischer Reflexion stellen, bewirkt
durch die Neuen Medien und ihre globale Vernetzung. Eine neue Form
universalen
ethischen Dialogs scheint greifbar nah. Nimmt man diese mediale
Revolution
ernst, so kann man sogar von einer – etwa gegenüber Kant und
Habermas
– neuen Informationsethik sprechen, welche sowohl die Grenzen der
Gedankenfreiheit
des gedruckten Wortes (Kant) als auch die einer "von
elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten
(sic!),
von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten
Öffentlichkeit"
(Habermas 1995) sprengt.
Der Ausdruck face to face deutet auf die Auffassung von
Emmanuel
Lévinas hin, wonach das Ethische nicht auf einer abstrakten
Norm,
sondern auf einem unmittelbaren und leibhaftigen Verhältnis face
à face – das Medium des Ethischen ist für
Lévinas
das Gesicht selbst – gegründet ist (Lévinas 1987). Ich will
damit nicht behaupten, daß durch die technische Medialisierung
zwischenmenschlicher
Beziehungen die leibhaftige Begegnung und die strukturelle Bedeutung
dessen,
was Lévinas "das Gesicht" nennt, obsolet geworden wären.
Aber
ich meine, daß sowohl die Massenmedien (Rundfunk und Fernsehen)
als
auch Individualmedien wie das Telefon und die weltweite Vernetzung
durch
das Internet, ja daß die verschiedenen Hybridformen dieser neuen
Medien untereinander und mit den klassischen Medien (Oralität,
Printmedien)
uns vor neue ethische Fragen stellen, die das Paradigma des face
à
face in einem anderen Licht erscheinen lassen. Mit anderen Worten,
die Frage des Mediums steht heute für die Ethik erneut im
Mittelpunkt
der Reflexion.
Bereits
am Beginn der abendländischen Denktradition finden wir den
Übergang vom oralen Medium - personifiziert in der Figur des
öffentlich
und ‚face to face‘ argumentierenden Sokrates – zur schriftlichen
Darstellung
eben dieses Mediums in den platonischen Dialogen und wir finden dort
eine
Reflexion über diesen Übergang. Bekanntlich hat Platon auf
die
Schwächen der Schrift aufmerksam gemacht. Bei Aristoteles scheint
das Vertrauen in die Schrift größer zu sein, wenngleich
viele
seiner Schriften, nicht zuletzt seiner ethischen, im Kontext der
mündlichen
Lehre und ihrer pädagogischen Ziele eingebettet sind. Pierre Hadot
hat überzeugend gezeigt, daß der Hauptcharakter der ganzen
antiken
(griechisch-römischen) Philosophie in ihrem Bezug zur konkreten
individuellen
und sozialen Lebensgestaltung besteht. Die philosophischen Schriften
stehen
im Dienste dieser Aufgabe (Hadot 1991). Das Medium Schrift hat
gegenüber
der Oralität eine dienende Funktion. Öffentlichkeit wird
primär
oral hergestellt. Eine ethische Grundforderung lautet deshalb die
‚Freiheit
der Rede‘ (parrhesia) wie sie z.B. von den Kynikern kultiviert
wurde
(Capurro 1995: 108
Das unterscheidet die antike von der modernen Informationsethik, so wie
diese zum Beispiel durch Immanuel Kant formuliert wird. In der Schrift Beantwortung
der Frage: Was ist Aufklärung? (Kant
1968, AA
VIII) unterscheidet Kant zwischen dem "öffentlichen Gebrauch" und
dem "Privatgebrauch" der eigenen Vernunft. Er schreibt:
"Welche
Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? Welche
nicht,
sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche
Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein
kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch
derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne
doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.
Ich
verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauch seiner eigenen
Vernunft
denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen
Publikum
der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen,
den
er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten,
oder Amte, von seiner Vernunft machen darf." (AA, S. 37)
Kant kehrt
die Rangfolge der antiken medialen Verhältnisse um. Das kommt in
seinem
Gebrauch der Termini ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ zum Ausdruck.
Öffentlichkeit
wird, im Gegensatz zur Antike, "durch Schriften" (ebd.) hergestellt.
Der
orale Charakter des "Privatgebrauchs" – in unserer heutigen
Terminologie
ist der amtliche Gebrauch der Vernunft ‚öffentlich‘ – wird von
Kant
dadurch betont, wenn er schreibt, daß die ihm entsprechende
"Gemeinde"
"immer nur eine häusliche, obzwar noch so große, Versammlung
ist." (AA, S. 38) Die Gedankenfreiheit im "öffentlichen Gebrauch"
der eigenen Vernunft ist die "wahre Reform der Denkungsart" (AA, S.
36),
die eine politische "Revolution", so Kant, niemals zustande bringen
kann.
Kant erhofft sich aber, daß das "freie Denken" sich auf die
"Sinnesart
des Volkes" auswirkt, so daß dieses der "Freiheit zu handeln"
"nach
und nach fähiger wird" und daß jene Denkfreiheit sich "sogar
auf die Grundsätze der Regierung" auswirkt, so daß
der
Mensch, der nicht nur "Theil der Maschine" (AA, S. 37) oder "der nun mehr
als Maschine ist" (AA, S. 42), "als Glied eines ganzen gemeinen
Wesens,
ja sogar der Weltbürgergellschaft" (AA, S. 37), "seiner Würde
gemäß" behandelt wird (AA, S. 42). Die Gedankenfreiheit wird
um den Preis einer unmittelbaren Einschränkung der
Handlungsfreiheit
erkauft. Das Medium der (gedruckten) Schriften dient der Vermittlung
zwischen
dem Allgemeinen der menschlichen Gemeinschaft und dem Besonderen der
politischen
Sphäre, vorausgesetzt, daß letztere keine Zensur
ausübt.
Nicht
die Einschränkung der Freiheit im "öffentlichen
Gebrauch"
– Kant bezieht sich auf die drei gesellschaftlichen Sphären:
Militär
("Offizier"), Kirche ("Geistlicher") und Politik ("Bürger") –,
sondern
die Einschränkung der Freiheit sich als "Gelehrter" "vor dem
ganzen
Publikum der Leserwelt" äußern zu können, ist
der
Aufklärung hinderlich. Die "Gelehrten" sind wiederum nicht im
Sinne
eines gesonderten Standes zu verstehen, sondern jeder, ob
Offizier,
Bürger oder Geistlicher, sollte die Möglichkeit haben, als
Gelehrter seine Gedanken "öffentlich, d.i. durch Schriften,
über
das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen"
(AA, S. 39). Durch den Gebrauch der "eigenen Vernunft" versteht sich
der
Einzelne "als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der
Weltbürgergesellschaft"
(AA 37) und genau dies verleiht diesem Gebrauch den Charakter des
Öffentlichen. Mit anderen Worten, das Medium der Schriften – Kant
lebt im Gutenberg-Zeitalter, die "Schriften" sind keine Handschriften,
sondern "Bücher" – ist untrennbar von der Freiheit des Denkens.
Oder,
anders ausgedrückt, Denken ist ein sozialer und ein medialer
Prozeß.
Dies wird von Kant in der Schrift Was heißt: Sich im Denken
orientieren?
folgendermaßen ausgedrückt:
"Zwar
sagt man: die Freiheit zu sprechen oder zu schreiben,
könne
uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken durch
sie
gar nicht genommen werden. Allein wie viel und mit welcher Richtigkeit
würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in
Gemeinschaft
mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mittheilen,
dächten!" (Kant, AA VIII, S. 144)
Was
ist, nach Kant, ein Buch? In der Metaphysik der Sitten (Rechtslehre
§ 31, II) gibt er folgende Antwort:
"Ein
Buch ist eine Schrift (ob mit der Feder oder durch Typen, auf
wenig
oder viel Blättern verzeichnet, ist hier gleichgültig),
welche
eine Rede vorstellt, die jemand durch sichtbare Sprachzeichen an das
Publikum
hält.- Der, welcher zu diesem in seinem eigenen Namen spricht,
heißt der Schriftsteller (autor). Der, welcher durch eine
Schrift im Namen eines anderen (Autor) öffentlich redet, ist der Verleger.
Dieser, wenn er es mit jenes seiner Erlaubnis thut, ist der
rechtmäßige,
thut er es aber ohne dieselbe, der unrechtmäßige Verleger,
d.i.
der Nachdrucker. Die Summe aller Copeien der Urschrift
(Exemplare)
ist der Verlag." (Kant 1968 § 31, II)
Sprechen
wird öffentlich durch die Schrift und diese bedarf eines
Vermittlers,
nämlich des Verlegers. Über den Zusammenhang zwischen
Oralität
und Schriftlichkeit schreibt Kant anschließend:
"Schrift
ist nicht unmittelbar Bezeichnung eines Begriffs (wie etwa ein
Kupferstich,
der als Porträt, oder ein Gipsabguß, der als Büste
eine bestimmte Person vorstellt), sondern eine Rede ans
Publikum,
d.i. der Schriftsteller spricht durch den Verleger
öffentlich."
(ebd.)
Das Buch
ist einerseits "ein körperliches Kunstprodukt (opus
mechanicum)"
und hat ein "Sachrecht", andererseits aber ist es eine "bloße
Rede"
des Verlegers, der "im Namen eines anderen (des Autors)" "nachspricht"
(praestatio operae). Somit ist das Buch "ein persönliches
Recht".
Der Autor spricht, indem er im eigenen Namen schreibt und
er tut dies durch die Vermittlung eines Verlegers, der ihm
"nachspricht",
indem er ein "körperliches Kunstprodukt" herstellt. Der
Büchernachdruck
ist deswegen "von rechtswegen verboten", weil der Nachdrucker keine
Vollmacht
des Autors hat: Er tut so, als ob das Buch ein bloßes
"körperliches
Kunstprodukt" wäre, das er nachbilden darf. Ein Buch ist aber
nicht
nur ein Kunst-Werk (opus mechanicum), sondern der Ausdruck der
(freien)
(Denk-)Handlungen (praestatio operae) einer Person (Benoist
1995).
Fazit:
Wenn Kant an die Zensurfreiheit denkt, dann denkt er an das
Medium
Buch, das ein Gegenstand des "Sachrechts" und des "persönlichen
Rechts"
ist und er denkt insbesondere an Druckschriften, sofern diese
paradigmatisch
für den Vorgang der – wie er in einem offenen Brief an den
Verleger
Friedrich Nicolai Über die Buchmacherei schreibt –
"fabrikenmäßigen"
Vervielfältigung und somit der potentiellen universalen
Verbreitung für den universal gewordenen Lesebedarf stehen. Es
lohnt sich, Kant hier erneut ausführlich zu zitieren:
"Die
Buchmacherei ist
kein unbedeutender Erwerbszweig in
einem der Cultur
nach schon weit fortgeschrittenen gemeinen Wesen: wo die Leserei zum
beinahe
unentbehrlichen und allgemeinen Bedürfniß geworden ist.-
Dieser
Theil der Industrie in einem Lande aber gewinnt dadurch
ungemein:
wenn jene fabrikenmäßig getrieben wird; welches aber
nicht anders als durch einen den Geschmack des Publicums und die
Geschicklichkeit
jedes dabei anzustellenden Fabrikanten zu beurtheilen und zu bezahlen
vermögenden Verleger geschehen kann." (Kant 1968, AA
VIII, S.
436)
Kant reagiert
in diesem zweiten offenen Brief An Herrn Friedrich Nicolai, den
Verleger
verärgert auf den in Nicolais Verlag erschienenen satirischen
Roman Leben und Meinungen Sempronius Gundibert’s eines deutschen
Philosophen,
in dem die Kantische Philosophie lächerlich gemacht wird, unter
anderem
durch die Übertragung der Termini a priori und a
posteriori
durch die Ausdrücke von vorne und von hinten! Er läßt
aber
die Möglichkeit offen, daß Nicolai nur der Verleger des
Romans
sei. Hier Kants Antwort:
"Der,
welcher in Fabrikationen und Handel ein mit der Freiheit des Volks
vereinbares
öffentliches Gewerbe treibt, ist allemal ein guter Bürger; es
mag verdrießen, wen es wolle. Denn der Eigennutz, der dem
Polizeigesetze
nicht widerspricht, ist kein Verbrechen; und Herr Nicolai als Verleger
gewinnt in dieser Qualität wenigstens sicherer, als in der eines
Autors:
weil das Verächtliche der Verzerrungen seines aufgestellten Sempronius
Gundibert und Consorten als Harlekin nicht den trifft, der die Bude
auffschlägt, sondern der darauf die Rolle des Narren spielt" (Kant
1968, AA, S. 437, Siehe: Anmerkungen des Herausgebers H. Maier, S. 518)
Kant bringt
die Grundkategorien der modernen Informationsethik in ihren dualen
Spannungen
zum Ausdruck: Privatgebrauch vs. öffentlichen Gebrauch der
Vernunft,
Gelehrtenfreiheit vs. Bürgerpflicht, Oralität vs.
(Druck-)Schriften,
Freiheit zu handeln vs. Freiheit zu denken, Autor vs. Verleger,
Verleger
vs. Nachdrucker, Handlung (oder Diskurs) vs. Werk, Freiheit vs. Zensur.
II.
VON KANT ZU HABERMAS UND DARÜBER HINAUS
Ist dieses
Kantische
duale Konstrukt heute, im
Informationszeitalter,
zeitgemäß?
Jürgen Habermas hat "aus dem historischen Abstand von 200 Jahren"
auf einige Grenzen der politischen Philosophie Kants und seiner damit
zusammenhängenden -
wenngleich nicht so genannten - Informationsethik hingewiesen (Habermas
1995). Habermas nimmt Bezug unter anderem auf Kants Schrift Zum
ewigen
Frieden sowie auf die Metaphysik der Sitten (Rechtslehre
§
61 ff). Das "Weltbürgerrecht" soll, nach Kant, den "Naturzustand"
zwischen den kriegführenden Staaten beenden und zwar in Analogie
zum
Gesellschaftsvertrag. Dabei hat Kant die Analogie so weit gelten
lassen,
als er die dem Staat entsprechende Idee einer Weltrepublik durch einen
"permanenten Staatenkongreß" (ibid.) ersetzt. Im Licht der
Geschichte
der letzten zweihundert Jahren kommen aber, so Habermas, drei
Entwicklungen
entgegen, welche die Kantischen Prämissen reformbedürftig
erscheinen
lassen. Kant traute nämlich im Hinblick auf den Weltfrieden drei
Tendenzen,
nämlich der republikanischen Regierungsart, der Kraft des
Welthandels
und der Funktion der politischen Öffentlichkeit. Dazu bemerkt
Habermas:
- Kant
konnte
nicht erkennen, daß Republiken sich zu nationalistischen Staaten
entwickeln würden, wo also die Menschen doch nur als "Maschinen"
gebraucht
wurden. Zugleich aber tendieren demokratischen Staaten sich "weniger
bellizistisch"
(S. 9) zu verhalten als autoritäre Regime.
- Der
freie
Handelsgeist mündete in die kapitalistische Ausbeutung, in
Imperialismus
und Bürgerkrieg. Erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts
führten
zu einer Abschwächung der einzelstaatlichen Interessen zugunsten
"einer
eigentümlichen Diffusion der Macht selber." (ebd. S. 11)
- Kant
rechnete
mit der Möglichkeit einer öffentlichen freien Diskussion
über
das Verhältnis zwischen den Verfassungsprinzipien und den
"lichtscheuen"
Absichten der Regierungen. Dabei rechnete er, so Habermas,
"natürlich
noch mit der Transparenz einer überschaubaren, literarisch
geprägten,
Argumenten zugänglichen Öffentlichkeit, die vom Publikum
einer
vergleichsweise kleinen Schicht gebildeter Bürger getragen wird."
(ebd. S. 11) Kant dachte also, kurz gesagt, an die Öffentlichkeit
der "Gelehrtenrepublik". Was er nicht voraussehen konnte, war, so
Habermas,
"den Strukturwandel dieser bürgerlichen Öffentlichkeit zu
einer
von elektronischen Massenmedien beherrschten semantisch degenierten
(sic),
von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten
Öffentlichkeit."
(ebd. S. 11) Kant konnte also nicht mit der Informationsgesellschaft
rechnen.
Die
von Kant "hellsichtig" (Habermas) antizipierte weltweiten
Öffentlichkeit
sollte, wie wir gezeigt haben, eine schreibende sein. Es bedürfte
allerdings der totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts bis am
10. Dezember 1948 die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte verabschiedeten. Im Artikel 19 heißt
es:
"Jeder
Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses
Recht
umfaßt die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und
Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne
Rücksicht
auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten." (Heidelmeyer
1982)
Allerdings
konnte Kant die medialen Veränderungen am Ende des 20.
Jahrhunderts
nicht erahnen. Habermas äußert sich im pejorativen Sinne
kulturkritisch,
wenn er schreibt:
"Er
(Kant, RC) konnte nicht ahnen, daß dieses Milieu einer
"sprechenden"
Aufklärung sowohl für eine sprachlose Indoktrination wie
für
eine Täuschung mit der Sprache umfunktioniert werden würde."
(Habermas 1995: 11)
Die
"sprechende"
Aufklärung war, wohl gemerkt, eine schreibende. Sofern sie die
"Weltbürgergesellschaft"
bzw. " das ganze Publikum der Leserwelt" und nicht eine
transparente
"kleinbürgerliche" und "sprechende" Gesellschaft als Adressat
hatte,
ist (war) sie keineswegs so überschaubar wie sich das Habermas
vorstellt.
Mit der Wahl des Mediums Buch dachte Kant gerade an die potentielle
Universalität
der Adressaten jenseits der raum-zeitlichen Einschränkungen oraler
Mitteilung an eine "Gemeinde". Kant konnte nicht voraussehen, daß
die Welt der Schriften sich zu einer unüberschaubaren
"Gutenberg-Galaxis"
(McLuhan) entwickeln würde. Habermas ist in dieser Galaxis
aufgewachsen.
Unklar
bleibt, inwiefern Habermas 1995 zwischen Massenmedien und
Internet
"hellsichtig" unterscheidet. Immerhin schreibt er: "diese
Weltöffentlichkeit
zeichnet sich heute, in der Folge globaler Kommunikation, ab" (Habermas
1995: 11). Es ist nämlich die Frage, ob die elektronische
Weltvernetzung
– wozu bereits das heutige Internet eine bescheidene Vorstufe sein mag
– eine andere Form von Weltöffentlichkeit als die von Kant und
Habermas
anvisierten, darstellt. Sie ist in der Tat weder Kants "Leserwelt" der
Gelehrten noch Habermas’ transparente Kommunikationsgemeinschaft der
rational face to face Argumentierenden. Sie vereint die
Struktur
der Massenmedien
mit der der Individualmedien. Dies sind zwei Kommunikationsformen, die
noch in Vilém Flussers Kommunikologie
auseinandergehalten
werden. Flusser unterscheidet nämlich zwischen den dialogischen
Medien mit den Strukturen von Kreisen und Netzen und den diskursiven
Medien mit pyramidalen, baumartigen und (amphi-)theatralischen
Strukturen
(Flusser 1996). Während die dialogische Kommunikationsform der
Erzeugung
von neuen Informationen dient, zielen die diskursiven Medien auf die
Verteilung
und Bewahrung bestehender Informationen. Das Internet vereint aber die
dialogische Struktur des Telefons mit der diskursiven Struktur der
Massenmedien.
In seiner Konkretion übersteigt es in räumlicher und
zeitlicher
Hinsicht das universale Verbreitungsideal des Aufklärungsmediums
Buch.
Die
Frage nach der Freiheit der Verbreitung – vor allem in Form von
Pressefreiheit
(freedom of the press), als moderne Fassung der antiken
Redefreiheit
(freedom of speech) – wird jetzt in Form der Frage nach der
Freiheit
der Zugänglichkeit zur Weltvernetzung (freedom of access)
gestellt.
Sie ist die Kernfrage einer postmodernen Informationsethik. Dadurch
werden
auch zumindest teilweise die modernen Machtverhältnisse umgekehrt:
Aufgrund der dezentralen und globalen Struktur des Netzes werden die
Sphären
der bürgerlichen Gesellschaft (Politik, Wirtschaft, Militär,
Kirche) von einem Medium umspannt, das sie nur unzureichend regulieren
können. Die globale Vernetzung in der Gestalt des Internet hat
weder
nur kritisch-aufklärerische Ziele im Sinne Kants noch entspricht
sie
der Vorstellung einer rationalen Kommunikations- gemeinschaft mit dem
Ziel
eines universalen Konsensus. Es (das Internet nämlich) aber als
eine
täuschende,
indoktrinierende und sprachlose mediale Öffentlichkeit zu
kennzeichnen
– Habermas schreibt, daß durch die elektronischen Massenmedien
die
Aufklärung "sowohl für eine sprachlose Indoktrination wie
für
eine Täuschung mit der Sprache" (Habermas 1995, S. 11)
umfunktioniert
wird –, halte ich auch in bezug auf die Massenmedien für eine
übertriebene
Pauschalierung. Diesen
Vorwurf könnte man auch seitens einer
oralen
Kultur gegenüber der modernen Buchkultur erheben. Er klang schon
bei
Platon an. Demgegenüber gilt, daß innerhalb eines Mediums
wie
dem Internet, wo die starre pyramidale One-to-many-Struktur der
Massenmedien nicht mehr maßgeblich ist, unterschiedliche
Diskussions-
und Mitteilungsformen (und –foren) mit verschiedenen kulturell
geprägten
Rationalitätskriterien und mit veränderbaren
Relevanzmaßstäben
möglich und wünschenswert sind. Das Internet ist
außerdem
in bezug auf Oralität und Schriftlichkeit ein Hybridmedium. Das
gilt
nicht nur im Hinblick auf die Multimedialität, sondern auch auf
die
Form oder den Stil der Schrift selbst, etwa bei E-Mail sowie bei den
unterschiedlichen
Formen von Diskussionsforen. Man schreibt wie man spricht – im
Gegensatz
zum modernen Diktum: ‚Jemand spricht druckreif‘ – und die Zuhörer
sind gleichzeitig weltweit verteilt.
Ich
will keineswegs bestreiten, daß sowohl die Massenmedien als
auch
das Medium Internet weit entfernt sind von dem, was man
Informationsgerechtigkeit
nennen könnte (Capurro 1998a). Die Spannung zwischen den
Informationsarmen
und –reichen wird sich womöglich verschärfen, ja sie hat sich
in vieler Hinsicht – zum Beispiel in bezug auf die Verteilung von
Netzen
und Servern – bereits verschärft. Wenn jetzt neben den
neuzeitlichen
Handelskriegen Informationskriege geführt werden, dann ist
Habermas‘
Suche nach einem Grundkonsens auf der Basis einer normativen
Übereinstimmung
in diesem Bereich eine notwendige Voraussetzung für den
anzustrebenden
Weltfrieden. Kant stellte, wie wir gezeigt haben, zwei Bedingungen
für
den fortschreitenden Aufklärungsprozeß, nämlich eine
institutionelle
(den "permanenten Staatenkongreß") und eine mediale (die
zensurfreie
Verbreitung von "Schriften"). Für Habermas sollten die Vereinten
Nationen
der Ort einer universalen rationalen Diskussion sein. Es ist dann die
Frage,
ob eine UN Informationsagentur notwendig wäre, worauf ich noch zu
sprechen komme. In einer solchen Institution können sich die
nationalen
Partikularinteressen (die einzelnen Informationsmoralen) artikulieren
und
mögliche cyberwars könnten entschärft werden.
Gleichwohl
bedarf der Gebrauch der eigenen Vernunft des offenen Mediums der
Weltvernetzung
als Erweiterung und Überbietung des Aufklärungsmediums Buch.
Weltinstitutionen ent- sprechen, mit anderen Worten,
Weltforen.
Während in der
Aufklärung die staatlichen
Moralen den freien
Raum des Ethischen nur im Sinne von "Gedankenfreiheit" und nicht von
"Handlungsfreiheit"
zu gewähren bereit waren, dann stellt heute, im
Informationszeitalter,
die globalisierte Informations- und Kommunika- tionsstruktur eine
zugleich
theoretische und praktische Einschränkung der staatlichen
Informationsmoralen
dar. Eine Umkehrung der Verhältnisse findet statt: Nicht die
staatliche
Informationsmoral gewährt den freien Raum des Ethischen, sondern
der
globale Raum des Ethischen bedingt die staatlichen Informationsmoralen.
Gedanken- und Handlungsfreiheit lassen sich aber in der globalen
Vernetzung
nicht mehr voneinander trennen. Handeln heißt immer auch
Informationshandeln
und dieses findet heute in einem globalen Medium statt, während
das
Medium Buch eine deutliche Trennung zwischen Theorie und Praxis
erlaubte.
Wenn aber Freiheit der Maßstab des Universalen ist, ist dann im
Internet
‚alles erlaubt‘? Wie steht es bei einem Medium, bei dem es zugleich um
Handlungen geht? Die theoretische und praktische Hybridnatur
des
Mediums Internet und die vielfältigen Spannungen zwischen dieser
Konkretisierung
des Ethischen und den (staatlichen) Einzelmoralen verlangen nach einer neuen
Informationsethik, die sich diesen Fragen
stellt.
Ich sehe genau in
dieser Hybridnatur des Mediums
Internet die Frage
nach
den Grenzen der Ethik angesiedelt. Dieser Ausdruck ist insofern
mißverständlich, als die globale Natur des Internet die
einzelnen
Informationsmoralen einschränkt, so daß der Titel
lauten
müßte: Internet und die Grenzen der Informationsmoralen. Das
Internet ist aber selber Ausdruck einer sich universal gebenden und
wollenden
Informationsmoral oder eines Weltinformationsethos. Ethik im Sinne
einer
Reflexion über Moral läßt sich wiederum nicht von einem
bestimmten Medium einschränken. Gleichwohl findet aber ethische
Reflexion
immer in einem bestimmten Medium statt und wird von diesem mitbestimmt.
Die Rede von den ‚Grenzen der Ethik‘ meint in diesem Zusammenhang die
Frage,
ob ethisch begründete Vorschriften einen normativen Charakter
für
das Medium Internet haben können, da ein heilloser Krieg der
Informationsmoralen
kaum eine Alternative sein kann. Anders ausgedrückt: Wo sind die
Möglichkeiten
und Grenzen der ethischen Reflexion im Hinblick auf die Aufstellung und
Begründung einer Internetmoral?
Diese
Frage umfaßt folgende Aspekte:
- Gedankenfreiheit
im Netz muß nicht gleich Anarchie oder Anomie bedeuten. Ethische
Reflexion kann auf der Basis der "Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte"
einen Vorschlag zu einem Minimalkonsens der UN-Mitgliedstaaten
erarbeiten
und diese können ihn als Basis eines zu praktizierenden
Weltinformationsethos
annehmen. Das schließt nicht aus, daß die Netgemeinde
sich selbst ethische Verhaltensvorschriften gibt, wie das schon der
Fall
ist. Konfliktfälle und somit Grenzen einer universalistischen
ethischen
Reflexion finden sich sowohl in jeder dieser Alternativen als auch in
ihrem
Zusammenspiel. Letzteres halte ich für positiv. Nicht nur die
Sphären
der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch eine universale auf
Konsens
ausgerichtete politische Institution bedarf der kritischen Prüfung
durch die "eigene Vernunft" (Kant) in einem offenen Medium.
Öffentliche
Foren im Internet können eine ähnliche Rolle spielen wie die
freie Presse in einem Nationalstaat. Das Internet ermöglicht, als
universales Medium, und beschränkt zugleich die Ansprüche
einer
universalistischen Ethik, da es nur Austragungsort und nicht
Richtschnur
für die Konflikte zwischen den Moralen darstellt.
- Der
Gedanke
liegt nahe, das Internet als eine, im Sinne Karl-Otto Apels, reale
Kommunikationsgemeinschaft
zu verstehen, die sich womöglich in Richtung einer "idealen" oder
"unbegrenzten" Kommunikationsgemeinschaft hin bewegt oder diese als ihr
Apriori voraussetzt (voraussetzen muß) (Apel
1976, Bd. 2)
Das Internet ist aber, so wenig wie die Schrift oder sogar die Sprache,
kein Medium, bei dem es allein auf rationale Argumentation mit
dem
ethischen Ziel eines idealen Konsensus ankommt. Dies vorauszusetzen
käme
der Idee nahe, menschliches Mitsein mit einer engelischen
Gemeinschaft
"reiner Vernunftwesen" (Kant) zu verwechseln. Es ist deshalb nicht
verwunderlich,
wenn Vittorio Hösle in seinem an Hegel orientierten "objektiven
Idealismus"
dieses Ideal (Apels und Hegels) sogar überbietet, wenn er
schreibt: "Für
einen objektiven Idealismus ist das Absolute die Totalität der
apriorischen
Wahrheiten, für einen objektiven Idealismus der
Intersubjektivität
ist die höchste Bestimmung des Absoluten die Idee einer
vernünftigen
Intersubjektivität, deren Realisierung das Sittengesetz den
endlichen
Vernunftwesen unbedingt gebietet." (Hösle 1997: 230) So
gesehen
steht das Internet unter dem unbedingten Gebot, die Idee einer
vernünftigen
Intersubjektivität zu realisieren, was wohl für endliche
Vernunftwesen
nur bedingt möglich ist. Hier wird letztlich menschliches Handeln
als das Handeln eines endlichen Vernunftwesens (oder eines "endlichen
Geistes")
von und mit Ideen im Medium eines Widerstand leistenden Leibes
aufgefaßt.
Daher auch die Versuchung in einem Medium, wo Handeln sich als
Informationshandeln
vollzieht – und ‚Information‘ hat in diesem Kontext wesentlich mit
‚Formen‘
oder ‚Ideen‘ zu tun (Capurro 1978) –, das Ideal einer (absoluten)
Kommunikationsgemeinschaft
vor- oder zurückzuprojizieren. Auch die vielbesprochene
Virtualität
dieses Mediums mit der Möglichkeit des Absehens von konkreter
Leiblichkeit
kann zu pseudoreligiösen Vorstellungen führen (Esterbauer
1998,
Capurro 1995). Ich meine aber, daß solche säkularisierten
ethischen
Ideale – die auf einer hier nicht weiter zu hinterfragenden
Geistesmetaphysik
beruhen – das Medium Internet überfordern und verfälschen,
indem
sie es in einem Licht erscheinen lassen, bei dem die konkrete
Pluralität
von Meinungen und Handlungszwecken zu einem Negativum wird. Internet
ist
keine Vorstufe eines Netzes reiner Vernunftwesen.
- In
Anschluß
an Gianni Vattimos "schwaches Denken" können wir im Falle des
vernetzten interface von einer Abschwächung der ‚starken‘
Intersubjektivität
des face to face (Vattimo 1992) sprechen. Die Cyberkultur des
Internet
ist (könnte) eine Massenkultur mit menschlichem Antlitz (werden).
Die neuen ethischen Sätze finden ihre Grenze im Sinne der alten
(Aristotelischen) Abschwächung der (Platonischen) Ethik. So
schreibt
Aristoteles zu Beginn der Nikomachischen Ethik:
"Die
Genauigkeit (akribés) darf man nicht bei allen
Untersuchungen
in gleichem Maße anstreben, so wenig als man das bei den
verschiedenen
Erzeugnissen der Künste und des Handwerks tut. Das sittlich Gute
und
das Gerechte, das die Staatswissenschaft untersucht, zeigt solche
Gegensätze
(diaphorán) und solche Unbeständigkeit (plánen),
daß es scheinen könnte, als ob es nur auf dem Gesetz, nicht
auf die Natur beruhe. (...) So muß man sich denn, wo die
Darstellung
es mit einem solchen Gegenstand zu tun hat, und von solchen
Voraussetzungen
ausgeht, damit zufrieden geben, die Wahrheit in gröberen Umrissen
zu beschreiben. (...) Darin zeigt sich der Kenner, daß man in den
einzelnen Gebieten je nach Grad von Genauigkeit verlangt, den die Natur
der Sache zuläßt, und es wäre genauso verfehlt, wenn
man
von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen, wie
wenn
man von einem Redner in einer Ratsversammlung strenge Beweise fordern
wollte."
(Nik.Ethik 1094 b 12-27)
Mit
anderen Worten, die irrende, täuschende, umtreibende,
"gegensätzliche"
und "unbeständige" (Aristoteles) Natur des Menschen ist dem Medium
Internet keineswegs fremd, sofern das Netz ein Wohnort des Menschen
ist.
In der Transparenz und ‚akribischen‘ Genauigkeit des Digitalen kommt
stets
das Halbdunkel und die beunruhigende Unschärfe der menschlichen
Freiheit
zum Vorschein. In diesem deshalb ‚un-heimlichen‘ Medium bieten die Homepages
nur eine prekäre Behausung.
III.
ANSÄTZE ZU EINER NEUEN INFORMATIONSETHIK
Die weltweite
digitale Vernetzung stellt die bisherigen
Informations-
und
Kontrollmonopole zumindest teilweise in Frage. Das gilt sowohl für
die Möglichkeit der Kontrolle durch Gesetze als auch für die
Informationsmonopole der Massenmedien (Presse, Rundfunk, Fernsehen).
Wie
schwierig und umstritten die Kontrolle des Internet (mit den
verschiedenen
Diensten: World Wide Web, E-Mail etc.) seitens nationaler und
internationaler
Gesetzgebung ist, zeigen die bekannten Fälle öffentlicher
Zensur
bei Internet-Providern. Zugleich wird der dringende Bedarf an
politischer
Gestaltung offensichtlich, wie die Berichte der Enquete- Kommission Zukunft
der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschlands Weg in die
Informationsgesellschaft (Enquete-Kommission 1997, 1998) sowie die
Aktivitäten
der Europäischen
Union und insbesondere die Programme der DG XIII
zeigen. Die öffentliche Diskussion wird besonders durch die
Pornographie-Debatte
und auch durch die Möglichkeiten von politischer Subversion und
organisierter
Kriminalität mittels digitaler Vernetzung geprägt.
Während
die globalisierte Wirtschaft auf einen weiteren Ausbau der Datennetze
verbunden
mit einer verschärften Sicherheitskomponente (Stichwort:
Kryptographie)
drängt, sucht der Gesetzgeber sowohl nach einem besseren Schutz
des
Einzelnen als auch nach einem gerechteren Zugang zu den elektronischen
Märkten. Die Stichworte dazu sind informationelle Selbstbestimmung
und informationelle Grundversorgung (Zum folgenden siehe auch: Capurro
1998a).
Der
Informationsmarkt im Sinne der Aufteilung und Verwertung von Medien
und Inhalten zwischenmenschlicher Kommunikation macht gegenüber
anderen
Märkten keine Ausnahme: Es geht hier - wie auch im Falle von
Rohstoffen
oder industrieller Produktion - um Besitz, Kontrolle und Macht. Die
digitale
Vernetzung verändert abermals die Rahmenbedingungen der zum Teil
über
Jahrhunderte gewachsenen gesetzlichen und moralischen Regeln im Umgang
mit Schrift, Bild und Ton. Datenschutz und Copyright, Zensur und
Kontrolle
sowie Zugang zu und Austausch von elektronisch kodifizierten Sendungen
aller Art sind Themen, die zur Zeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen
zum Teil heftig diskutiert werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich
dabei
letztlich auf das Maß des Wünschbaren und/oder des
Erträglichen.
Der klassische Ausdruck für die Suche nach einem Maß
menschlicher
Handlungen ist Gerechtigkeit. Wie ist Informationsgerechtigkeit im
Zeichen
der Globalisierung aufzufassen? Ich werde zunächst einen
möglichen
theoretischen Rahmen für die ethische Diskussion dieser Fragen
kurz
erörtern (siehe dazu Capurro) und
anschließend
die Ergebnisse eines UNESCO-Forums über die Frage nach der Kluft
zwischen
Informationsarmen und –reichen darstellen.
Eine
Auswahl der vielfältigen Ressourcen zur informations- und
medienethischen
Diskussion findet man auf der Ethik-Website
der FH Stuttgart, des International
Center
for Information Ethics (ICIE) sowie in (Wiegerling 1998, Kolb 1998,
Capurro 1995a, Capurro
et al. 1995b).
Informationsethik
läßt sich als deskriptive und als emanzipatorische Theorie
auffassen.
Als deskriptive Theorie beschreibt sie die verschiedenen Strukturen und
Machtverhältnisse, die das Informationsverhalten in verschiedenen
Kulturen und Epochen bestimmen. Als emanzipatorische Theorie
befaßt
sie sich kritisch mit der Entwicklung moralischen Verhaltens auf
individueller
und kollektiver Ebene im Informationsbereich. Informationsgerechtigkeit
stellt den utopischen Horizont – sie ist eine "regulative Idee" (Kant)
- beider Theorieformen dar. Mit anderen Worten, sie hat den Status
eines
kritischen Korrektivs gegenüber konkreten Ausformungen oder
"Lösungen"
informationsethischer Konflikte.
Der
Kern einer normativen Informationsethik läßt sich auf der
Grundlage
einiger Artikel der "Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte"
näher
bestimmen. Ich meine dabei insbesondere die Achtung vor der
Menschenwürde
(Art. 1), das Recht auf Vertraulichkeit (Art. 1, 2, 3, 6), das Recht
auf
(Chancen-)Gleichheit (vor dem Gesetz) (Art. 2, 7), das Recht auf
Privatheit
(Art. 3, 12), das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art.
19),
das Recht auf Beteiligung am kulturellen Leben (Art. 27), das Recht auf
den Schutz der materiellen und geistigen Arbeit (Art. 27).
Wenn
wir uns in bezug auf Informationsgerechtigkeit die Frage stellen: "Wer
trägt welche Verantwortung wem gegenüber?", dann kann man
diese
Frage analytisch auf der Ebene des Einzelnen (Mikroebene), der
Institutionen
(Mesoebene) und der (Welt-)Gesellschaft (Makroebene) behandeln. Dabei
sollte
man die Unterscheidung zwischen Moral, Ethik und Recht nicht aus den
Augen
verlieren. Während Moral (oder Ethos) die gelebten
Sitten
und Traditionen meint, bezieht sich Ethik auf den kritischen
Diskurs
über Recht und Moral und Recht auf die staatlich
sanktionierten
Normen. Ethische Konflikte lassen sich nicht a priori
lösen,
zum Beispiel durch den Vorrang der Moral gegenüber der Ethik
(Fundamentalismus),
oder des Rechts gegenüber Ethik und Moral (Legalismus) oder eines
bestimmten ethischen Prinzips (ethischer Rigorismus), sondern sie
müssen
von Fall zu Fall, durch individuelle und soziale Abwägungsprozesse
und durch das Zusammenwirken dieser drei Dimensionen entschieden werden.
So
kann man sich zum Beispiel fragen, wie das Recht auf Privatheit eines
Informationsnutzers
gegenüber Maßnahmen einer Organisation oder gegen rechtliche
Eingriffe am (ethisch-)gerechtesten geschützt werden kann
(Mikroebene).
Oder wie die Verantwortung von Institutionen gegenüber der
Gesellschaft
bei der Verbreitung von Informationen aussehen soll (Mesoebene). Oder
welche
Verantwortung der Einzelne gegenüber der Gesellschaft und die
Gesellschaft
insgesamt gegenüber ihren Mitgliedern bei der Gestaltung des
Informationsmarktes
übernehmen soll (Makroebene). Auf allen Ebenen können
vielfältige
Konflikte zwischen Ethik, Moral und Recht auftreten.
Ein
heute besonders "heißdiskutierter" Konflikt bei Fragen der
Informationsgerechtigkeit
auf Makroebene ist die Kontrolle über die inhaltliche und
technische
Gestaltung des Cyberspace. Die Diskussion entzündete sich
zunächst
in den USA in Zusammenhang mit der geplanten rechtlichen Zensur
bestimmter
Inhalte (Communication Decency Act), wogegen sich die
"Internet-Gemeinde",
vertreten vor allem durch die Electronic
Frontier Foundation (EFF) , heftig wehrte und zwar im Namen
von Privatheit, freiem Zugang und freier Meinungsäußerung.
Aufgrund
der dezentralen Natur des Netzes erweisen sich nicht nur die
(rechtlichen)
Kontrollversuche, sondern auch die technischen
Gestaltungsmaßnahmen
als äußerst schwierig. Die Diskussionsbeiträge der
diesjährigen
Konferenz der Internet Society
(ISOC) (Genf, 21.-24. Juli 1998) zeigen die Suche nach einer
dezentralen,
auf Selbstorganisation basierenden Lösung der (einiger) Probleme
im
Gegensatz (oder in Ergänzung) zu staatlichen
Regulierungsmaßnahmen.
Bernhard
Debatin (1998) analysiert die Grenzen der Ethik im Internet
anhand
von folgenden drei Funktionsbereichen:
- Der
Funktionsbereich
Wissen: Das Internet als gigantischer Wissensspeicher ermöglicht
nicht
die Herstellung oder das Finden von Wahrheit per Knopfdruck. Die
Probleme
der Delegation von Such- und Selektionsprozessen an technische Medien
sind
aber schon aus der ‚Gutenberg-Galaxis‘ (Bibliothekskataloge!) bekannt.
Auch die dauernden Modifikationen des Geschriebenen (Digitalisierten)
erinnern
nicht nur an die Handschriftenkultur, sondern sind m.E. ein Zeichen des
oralen Charakters dieses Mediums. Dies gilt auch für die
Abschwächung
des modernen Begriffs des Autors. Das Medium Internet ermöglicht
eher
eine andere interface-vermittelte Form von Dialog, bei dem die
Meinungen
eines ‚Autors‘ nur im Gewebe des Gesprächs verstanden werden
können.
Debatin hat Recht, wenn er den "Information broker" bzw. den
Informationsmanagern
eine (den Journalisten vergleichbare) Vermittlungsrolle in diesem
Bereich
zuweist.
- Der Funktionsbereich
Freiheit: Die ‚elektronische Agora‘ bringt aufgrund der
Interaktivität
des Mediums eine neue Dimension für die liberale Demokratie, da
sie
"eine neuartige Kombination von Individual- und Massenkommunikation"
darstellt.
Hier sieht Debatin einen Ort und die Chance für eine diskursive
Netzöffentlichkeit.
Demgegenüber steht die "anarchistische Freiheitsversion" mit dem
Anspruch
einer eigenen Selbstregulierung, wie sie von der Electronic
Frontier
Foundation propagiert wird. Schließlich spielt die
"wirtschaftsliberalistische
Freiheitsidee" eine immer mächtigere Rolle. Die ethisch
prekäre
Frage lautet dann, wie weit, wer und wo reguliert werden soll.
- Der
Funktionsbereich
Identität: Dieser Bereich umfaßt Fragen einer
philosophischen
Anthropologie bis hin zu elektronisch vermittelten
(Cybersex-)Beziehungen
und Fällen von wechselnden Identitäten. Eine prekäre
Internetethik
verweist hier auf die Möglichkeit normativer Selbstregulationen.
Wie
Debatin betont, lassen sich diese Probleme nicht durch das Recht allein
lösen. Auch die Philosophie im Sinne einer ethischen Normierung
kann
die konkrete Auseinandersetzung nicht ersetzen. Sie kann aber z.B.
durch
Teilnahme an computervermittelter Kommunikation einen (möglichen)
Bezugsrahmen stellen (Debatin
1998).
Bill
Clintons Sonderberater in Sachen Cyberspace, Ira Magaziner,
befürwortet
die Moderatorenrolle der Regierungen und die Selbstkontrolle der
Netzteilnehmer.
Das bedeutet, auf die obige Unterscheidung bezogen, den Vorrang von
Moral
(und Ethik) gegenüber Recht. In einem Beitrag für DIE ZEIT
mit
dem Titel Verfassungsvater des Cyberspace. Die US-Regierung will
das
Internet durch Selbstkontrolle regulieren – hinter der Idee steckt
Clintons
Berater Ira Magaziner schreibt Ludwig Siegele:
"Die
Online-Industrie soll sich einen strikten Ehrenkodex geben, Verbraucher
etwa darüber aufklären, welche Informationen gesammelt werden
und zu welchem Zweck. Unterwirft sich ein Netzdienst solchen Regeln,
soll
er ein Gütesiegel auf seine Seiten heften dürfen. Bisher ist
der Ansatz ein Reinfall. Nach einer Studie der
Verbraucherschutzbehörde
Federal Trade Commission (FTC) geben nur zwei Prozent der Netzdienste
Auskunft
darüber, wie sie gesammelte Daten verwenden. Und kein Ehrenkodex
bietet
Verbrauchern die Möglichkeit, sich zu beschweren." (Siegele 1998)
Wo die
Ethik ihre Grenzen hat, versucht das Recht Abhilfe zu schaffen, und
umgekehrt.
Das Zusammenwirken von Selbstkontrolle und staatlichem Handeln auf
technischer
Ebene zeigt zum Beispiel der Vorschlag des US Department of Commerce
für die Gründung einer Non-for-profit Organisation (IANA
= Internet Assigned Numbers Authority), die sich mit dem Management
von Internet-Namen und -Adressen befassen soll. Inwiefern tragen solche
Maßnahmen zu mehr Informationsgerechtigkeit bei? Die Internet
Society ist sicherlich ein besonders geeigneter Rahmen für
die
Diskussion dieser Fragen. Die von der UNESCO veranstalteten Kongresse
und
das soeben abgeschlossene virtuelle Forum über Informationsethik
sind
ebenso geeignet, globale Abwägungsprozesse zu initiieren oder in
Gang
zu halten.
Vom
10. bis 12. März 1997 fand der erste UNESCO-Kongreß
über
ethische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte der digitalen
Information
in Monaco statt. Mit Unterstützung der UNESCO organisierte das
Institut
für Informationswissenschaft der Universität Konstanz ein
Virtual
Forum-INFOethics (VF-INFOethics),
das zunächst in einem Expertenkreis (ca. 50 Teilnehmer), dann aber
mit der Möglichkeit allgemeiner aktiver Beteiligung 1997/1998
stattfand.
Die Sprache des Forums war Englisch. Im Anschluß an dieses Forum
fand eine zweite
UNESCO-Konferenz im Oktober 1998 in Monte Carlo statt. Hier die
Themen:
A.
Public domain and multilingualism in cyberspace.
B.
Privacy, confidentiality, security in cyberspace.
C.
Societies and globalization.
Die erste
Phase des Virtual Forum befaßte sich mit folgenden
Themen:
1.
Theoretische Bestimmung von Informationsethik, Rolle der
UNESCO
2.
Gesellschaftliche und politische Aspekte der
Informationsethik:
a)
Informationsreiche und Informationsarme
b)
Information als öffentliches und/oder privates Gut
3. Ethische
Aspekte globaler Informationsmärkte
a)
Vertrauen, Eigentum, Gültigkeit von Information
b)
Privatheit, Vertraulichkeit, Sicherheit, Haß und Gewalt im
Internet.
Die zweite
Phase bezog sich auf die Themen: Privatheit, Informationskluft,
Wissenschaft
und Ausbildung, Informationsmarkt/öffentliche Aufgaben.
Da
ich selber die Koordination des Themas "Informationsreiche und
Informationsarme"
übernommen hatte, stellte ich am Ende der ersten Phase die
Ergebnisse
der Diskussion in Form von Empfehlungen an die UNESCO zusammen. Man
findet
sie sowie die jeweiligen Einzelbeiträge in der oben angegebenen
Website.
Ich gebe sie hier in Deutsch wieder:
- Ärmeren
Ländern bei der Vernetzung helfen, indem vorhandene Ressourcen
für
eine sinnvolle Nutzung eingesetzt werden. Dadurch sollte auch die
Entwicklung
von globalen und lokalen Informationskulturen und -ökonomien
gefördert
werden.
- Die
Entwicklung
eines Weltinformationsethos fördern.
- Konkrete
Projekte in informationsarmen Ländern unterstützen, um
länderspezifische
Informationszentren zu schaffen.
- Förderung
des öffentlichen Bewußtseins über diese Sachverhalte
durch
virtuelle Foren, Veröffentlichungen und Konferenzen.
- Ständige,
spezifische und detaillierte Information über existierende
Informationsaktivitäten
in informationsarmen Ländern anbieten.
- Die
UNESCO
sollte die Rechte der nicht-Englisch-sprechenden Länder und ihrer
ökonomischen Interessen fördern.
- Die
UNESCO
sollte sich dafür einsetzen, daß informationsethische Themen
in allen Ausbildungsstufen behandelt werden.
- Die
unterstützenden
Aktivitäten internationaler Organisationen sollten aufgrund von
Basisinitiativen
sowie in einer dezentralisierten und koordinierten Form stattfinden.
Vergleicht
man diese Empfehlungen mit denen der anderen Diskussionsthemen, stellt
man ihren überwiegend pragmatischen Charakter fest. Man
nimmt
Abstand sowohl von der theoretischen als auch von der praktischen Idee
einer "Neuen Informationsordnung" zugunsten der regionalen und/oder
kulturellen
Eigenregulierung. Wenn man aber den Begriff Ethos im Sinne
einer
gelebten Moral versteht, dann bieten die Empfehlungen paradoxerweise
die
Grundlage für eine freie weitgehend sich selbst regulierende
Informationsordnung
oder eines Weltinformationsethos. Diese Sicht wird zugleich durch die
Forderung
nach aktiver Unterstützung durch internationale Institutionen
ergänzt.
Die UNESCO sollte nationalen und privaten Organisationen helfen,
öffentliche
Informationsquellen – darunter zum Beispiel das kulturelle Erbe eines
Landes
– elektronisch zu erfassen und zugänglich zu machen. Das ist ein
konkreter
Weg, um das anfangs erwähnte Stichwort von der informationellen
Grundversorgung mit Leben zu füllen. In Sachen Copyright
sollte
man, so die Empfehlung, nach einem Konsens über eine faire
Nutzung suchen. Die Frage ist natürlich wer und wie? Ich war
ursprünglich
der Meinung, daß eine UN Information Agency als ein dauerhaftes
Forum
für die Diskussion dieser Fragen dienen könnte. Vermutlich
kann
die UNESCO diese Aufgabe übernehmen. Das Zusammenwirken mit
bereits
existierenden Aktivitäten sowohl mit anderen UN-Organisationen als
auch mit Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) bis hin zur Internet
Society
wird uns sicherlich die nächsten Jahre
beschäftigen.
Als
Abschluß dieses Abschnittes möchte ich auf unsere
eigenen
Aktivitäten im Rahmen der Ausbildung von Informationsspezialisten
an der FH Stuttgart (HBI) hinweisen (Capurro 1998b). Die HBI
organisiert
jährlich internationale Workshops
zu informationsethischen Fragen, so zum Beispiel über Informationsarmut
– Informationsreichtum (1996) , über Ethische Aspekte
digitaler
Bibliotheken (1997) sowie über Ethik der Cyberkultur
(1998)
Diese Workshops finden dank der Unterstützung des Referats
für
Technik- und Wissenschaftsethik an den Fachhochschulen in
Baden-Württemberg
(RTWE) statt.
AUSBLICK
Die
theoretischen und praktischen Probleme einer gerechte(re)n, sich selbst
bestimmenden, dezentralen und koordinierten Weltinformation- sordnung
oder
eines Weltinformationsethos sind von einer kaum zu
unterschätzenden
Komplexität und lassen sich durch theoretische Ethik-Diskurse
sowenig
wie durch institutionalisierte auf Konsens orientierte Debatten allein
lösen. Gleichwohl gilt, daß Reden und Handeln auf
verschiedenen
Ebenen gleichzeitig stattfinden sollten und können. Wenn wir von
Erziehung
zur Medienkompetenz sprechen, dann ist damit nicht eine bloße
Individualethik
gemeint, die durch eine Sozialethik oder durch eine Ethik der
Institutionen
ergänzt werden müßte. Individuum und Gesellschaft sind
nicht zwei getrennte Sphären, sondern soziale Strukturen und
Einzelhandlungen
bedingen sich gegenseitig. Um nicht eine passive Prägemasse
für
die "in-formierenden" Aktivitäten der Medien zu werden,
müssen
wir als Individuen und als Gesellschaft lernen, uns Freiräume und
"Freizeiten" zu gewähren (Capurro 1995 und 1978). Wir müssen,
mit anderen Worten, lernen, uns zu fragen, wer wir sind und wer
für
was/für wen Verantwortung tragen kann, soll und will (Eldred
1996).
Der
Aufruf zur Selbstkontrolle sollte sich nicht auf Appelle zur
Nutzung
von Filtering-Software oder zur Einhaltung von Ethik-Kodizes,
so
nützlich und notwendig auch beides sein mögen,
beschränken.
Ich denke in diesem Zusammenhang an die Verleihung des Carl
Bertelsmann-Preises
1998 an die kanadische Aufsichtsbehörde für Medien und
Telekommunikation
(CRTC=Canadian-Radio-television and Telecommunications Commis- sion)
und
an die amerikanische Initiative zur Selbst-Klassifizierung von
Angeboten
im Internet (RSACi = Recreational Software Advisory Council on the
Internet).
Selbstkontrolle sollte als ein Aufruf zur sozialen Wachsamkeit auf der
Grundlage
einer immer neu zu übenden Sensibilisierung für Situationen
der
offenen oder verdeckten Ungerechtigkeit oder gar Ausbeutung verstanden
werden. Offene ethische Diskurse schließen vielfältige
Aktivitäten
im rechtlichen und technischen Bereich auf nationaler und
internationaler
Ebene ein. Die Bewältigung von Komplexität in diesem Bereich
kann man nicht billiger haben als durch situationsbezogene
Abwägungen
und Handlungen bei gleichzeitigem Freilassen und Fördern von
nicht-vorhersehbaren
Synergieeffekten. Das ergibt ein Wechselspiel zwischen kontingenten
(rechtlichen
und/oder moralischen) Konsenslösungen und Achtung der kulturellen,
ökonomischen und politischen Differenzen.
Es
wäre ein Fehler, wollte man ethische Reflexion auf die
Aufstellung
und Begründung von Normen einschränken. Mit Recht macht Hans
Krämer auf die Einseitigkeit der Ausrichtung der neuzeitlichen Sollens-Ethik
und auf die Vernachlässigung der auf die Antike
zurückgehenden
Tradition der Ethik als Formung des gesamten Lebens aufmerksam
(Krämer
1992). So gesehen ist die Frage nach den Grenzen der Ethik im Internet
auch die Frage nach der (informationellen) Selbstbegrenzung im
Informationszeitalter.
Wie läßt sich diese Selbstbegrenzung praktisch vollziehen?
Die
von Michel Foucault, Pierre Hadot und Paul Rabbow analysierte Tradition
der "Technologien des Selbst" (Foucault) – zuletzt durch Wilhelm Schmid
in Form einer Philosophie der Lebenskunst auf den Begriff
gebracht
(Schmid 1998) – bietet hierfür konkrete Anhaltspunkte, um auf je
eigene
Weise dem Informationsüberfluß gewachsen sein zu
können
(nicht: um ihn beherrschen zu können) (Capurro
1995a). Es wäre ein Mißverständnis, wollte man
diesen
Ansatz in die Schublade einer sogenannten individualistischen Ethik
ablegen. Denn das Selbst ist nicht ein isoliertes Ich,
sondern
die je eigene Weise wie wir das Netz der Bedeutungs-
und
Verweisungszusammenhänge, in denen wir immer schon eingebettet
sind,
weiter knüpfen. So gesehen ist das Internet ein hervorragendes
Medium, um elektronische Strickmuster in Lebensentwürfe
hineinzustricken
und umgekehrt, freilich ohne das existentielle und technische Risiko
des
Zerreißens und des Absturzes aufheben zu können. Wir stehen
am Anfang dieses Weges.
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Änderung: 18. August 2017
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