EINLEITUNG
Es
sieht
zunächst so aus, als ob zweihundert Jahre nach Kants Aufforderung,
uns mutig dazu zu entschließen, den eigenen Verstand
öffentlich
zu gebrauchen, diese die besten Aussichten hätte, verwirklicht zu
werden, nämlich im Internet. Wie stellte sich aber Kant die
Aussöhnung
zwischen der aufklärerischen autonomen Mitteilungsfreiheit und den
vielfältigen sozialen Zwängen vor?
In
der Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Kant
1923, AA VIII) schlug er ein duales System vor. Auf der einen Seite
sind
wir als "Bürger" beim Gebrauch unseres Verstandes
eingeschränkt,
und zwar durch unterschiedliche militärische, geistliche und
politische
Systeme. Wir unterstehen im Falle eines "bürgerlichen Postens oder
Amtes" einem "Mechanism" und sind "Teil der Maschine", während wir
auf der anderen Seite, als "Gelehrte", sprechen oder, genauer, "vor dem
ganzen Publikum der Leserwelt" schreiben und dabei "in allen
Stücken"
von unserer Vernunft "öffentlichen Gebrauch" machen dürfen.
Dieses
duale System ist so konzipiert, daß der Privatgebrauch den
öffentlichen
Gebrauch zwar einschränken, aber nicht hindern
darf.
Denn
die bürgerlichen Systeme sind nicht autark, sondern "Glied eines
ganzen
gemeinen Wesens", das wiederum von der "Weltbürger- gesellschaft"
umfaßt
wird. Diese Weltbürgergesellschaft ist das Forum, vor dem wir als
Gelehrte den Mut haben sollten, uns im eigenen Namen zu
äußern.
Kants
duales System kehrt nicht nur die Hierarchie um, so daß die
Staatsräson
der Welträson unterstellt wird, sondern es billigt der
Staatsräson
sowie auch der Glaubensräson einen eigenen autonomen Machtbereich
zu, unter der Voraussetzung, daß die Möglichkeit sich
öffentlich
zu äußern, nicht "sonderlich" behindert wird. Diese
Kantische
Konstruktion, seine "Reform der Denkungsart", die durch keine
"Revolution"
zustande gebracht werden kann, da diese 'nur' den "persönlichen
Despotism"
abschafft, bringt zunächst mit sich, daß die übliche
Bedeutung
der Ausdrücke 'privat' und 'öffentlich' umgedreht wird.
Öffentlicher
Gebrauch heißt der Gebrauch des eigenen Verstandes ohne
Einschränkung
durch ein im gewöhnlichen Sinne öffentliches
Amt.
Wie
aber soll konkret dieses Neben- und Ineinander von öffentlichem
und
privatem Vernunftgebrauch funktionieren? Kants Antwort: "durch
Schriften"
für die "Leserwelt". Wir sollten den Mut haben, uns als
Privatpersonen
"frei und öffentlich" auf diese Art und Weise zu äußern
und dies sollte "durch keine Amtspflicht" eingeschränkt sein. In
der
Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? (Kant
1923,
AA: VIII) betont Kant, daß die Gedankenfreiheit unlösbar mit
der Freiheit "seine Gedanken öffentlich mitzutheilen" verbunden
ist.
Kants
Öffentlichkeit ist die wissenschaftliche Öffentlichkeit, die
universale Gelehrtenrepublik. Ihr Medium sind die gedruckten Schriften.
Diese können potentiell von allen gelesen und kritisiert werden,
ohne
daß dabei der Verstandes- bzw. Vernunftgebrauch (Kant bedient
sich
in der Aufklärungsschrift beider Termini ohne nennenswerte
Unterschiede)
amtlich eingeschränkt und dadurch 'privatisiert', d.h.
wesentliche
Stücke beraubt wird. Dieser öffentliche Raum ist ein
zensurfreier
Raum, in dem die dogmatischen Grundsätze der Politik und der
Religion
in ihrer theoretischen Gültigkeit 'epochal' suspendiert und der
öffentlichen
Prüfung unterzogen werden.
Die
scheinbare Narrenfreiheit der Gelehrten ist aber gleichwohl nicht
anarchisch,
sondern "das ganze Publikum der Leserwelt" reguliert sich selbst. Kant
appelliert deshalb nicht an den, wie er sagt, "hochmütigen Namen
der
Toleranz", an eine amtlich verordnete oder erlaubte Gedankenfreiheit,
sondern
jeder soll von sich aus lernen dürfen, sich diese Freiheit "aus
der
Rohigkeit" heraus zu erarbeiten. Andererseits droht die Paradoxie, die
Kant am toleranten Verhalten seines aufgeklärten Königs
beobachtet:
"räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; nur
gehorcht!"
Theorie
und Praxis klaffen auseinander. Demgegenüber fordert Kant nicht
"einen
größeren Grad", sondern "einen Grad weniger"
bürgerlicher
Freiheit. Er bekämpft dabei die politische mit einer
philosophischen
Paradoxie: Wenn die Gedankenfreiheit um den Preis des politischen
Gehorsams
erkauft werden muß, dann ist ihm lieber jene auch in politicis
zu besitzen, auch wenn dabei die "Freiheit zu handeln" nicht
unmittelbar
"ausgewickelt" werden kann. Nicht nur Religion, Künste und
Wissenschaften,
sondern auch die "Gesetzgebung" sollen also Gegen- stand der freien,
öffentlichen
und das heißt gedruckten Ausübung der eigenen Vernunft
werden.
Kants
Aufspaltung von Gedankenfreiheit und Handlungsfreiheit, seine "Reform
der
Denkungsart", zielt aber über den Umweg der gedruckten Schriften
auf
eine Vermittlung zwischen Theorie und Praxis, so daß zwar nicht
unmittelbar
die Regierungen, wohl aber ihre Grundsätze gewandelt werden
können,
wodurch dann letztlich auch ein politisch freieres Handeln zustande
kommen
mag.
Ist
dieses Kantische duale Konstrukt, Gelehrtenfreiheit auf der einen,
Bürgerpflicht
auf der anderen Seite, heute, im Informationszeitalter,
zeitgemäß?
Ich möchte zunächst einige Gedanken in Anschluß an
Jürgen
Habermas' Kritik von Kants Idee des Ewigen Friedens "aus dem
historischen
Abstand von 200 Jahren" vorausschicken (Habermas 1995), bevor ich im
zweiten
Teil einige Thesen zu informationsethischen Fragen zur Diskussion
stelle.
I.
VON KANT ZU HABERMAS
Das
Weltbürgerrecht,
so Habermas über Kant, soll den Naturzustand zwischen den
kriegführenden
Staaten beenden und zwar in Analogie zum Gesellschaftsvertrag, der das
Ende des Krieges zwischen den Individuen ermöglichen soll. Dabei
hat
Kant die Analogie so weit gelten lassen, als die dem
Gesellschaftsvertrag
entsprechende Idee einer Weltrepublik durch eine
"fortwährend-freie
Assoziation" oder durch einen "permanenten Staatenkongreß" (Kant,
Rechtslehre Paragr. 61) ersetzt wird. Die Mitglieder dieses
Staatenkongresses
sollen sich freiwillig, also moralisch und nicht etwa
verfassungsmäßig,
verpflichten, einer solchen Assoziation unterordnen, um ihre
Interessenkonflikte
friedlich zu regeln.
Wir
haben also mit einem dualen System zu tun, wo die Kluft zwischen
Staatsräson
und Weltbürgergemeinschaft eine Widerspiegelung dessen darstellt,
was im Bereich der Gedankenfreiheit die freiwillige Unterordnung der
bürgerlichen
Systeme unter die theoretische Kritik der Gelehrtenrepublik bedeutet.
Der
Gedanke ist hier wie dort, daß letztlich die Moral die Fäden
der Politik indirekt an sich ziehen wird.
Der
Schlußsatz von Kants Aufklärungsschrift lautet
konsequent:
"Wenn
denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den
sie
am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien
Denken, ausgewickelt hat; so wirkt dieser allmählich zurück
auf
die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach
und
nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze
der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen,
der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu
behandeln"
(Kant 1923, AA VIII: 41-42).
Im Licht
der Geschichte der letzten zweihundert Jahre kommen aber, so Habermas,
drei Entwicklungen entgegen, die die Kantischen Prämissen
fragwürdig
und sein Konstrukt reformbedürftig erscheinen lassen. "Wenn die
Natur
unter dieser harten Hülle...", schreibt Kant und er traut dabei,
so
Habermas, im Hinblick auf den Weltfrieden drei natürlichen
Tendenzen,
nämlich:
- der
republikanischen
Regierungsart,
- der
Kraft
des Welthandels
- und
der
Funktion der politischen Öffentlichkeit.
Zum
ersten:
Kant
konnte nicht erkennen, daß Republiken sich zu nationalistischen
Staaten
entwickeln würden, wo also die Menschen doch nur "als Maschinen"
gebraucht
wurden. Zugleich aber tendieren demokratische Staaten dazu, sich
"weniger
bellizistisch" zu verhalten als autoritäre
Regime.
Zum
zweiten:
Der
freie Handelsgeist mündete in die kapitalistische Ausbeutung, in
Imperialismus
und Bürgerkrieg. Erst die Katastrophen des 20. Jahrhunderts
führten
zu einer Abschwächung der einzelstaatlichen Interessen zugunsten
"einer
eigentümlichen Diffusion der Macht selber".
Zum
dritten:
Kant
rechnete mit der Möglichkeit einer öffentlichen freien
Diskussion
über das Verhältnis zwischen den Verfassungsprinzipien und
den
"lichtscheuen" Absichten der Regierungen. Dabei rechnete er, so
Habermas,
"natürlich
noch mit der Transparenz einer überschaubaren, literarisch
geprägten,
Argumenten zugänglichen Öffentlichkeit, die vom Publikum
einer
vergleichsweise kleinen Schicht gebildeter Bürger getragen wird."
(Habermas 1995, 11)
Kant dachte
also, kurz gesagt, an die Öffentlichkeit der "Gelehrten". Was er
nicht
voraussehen konnte, war, so Habermas,
"den
Strukturwandel dieser bürgerlichen Öffentlichkeit zu einer
von
elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten (sic),
von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten
Öffentlichkeit."
(a.a.O.)
Kant konnte
also nicht, wiederum kurz gesagt, mit der Informationsgesellschaft
rechnen.
Habermas läßt aber dabei beiseite, daß für Kant
die
sprechende Aufklärung eine schreibende sein sollte und zwar gerade
aufgrund der von ihm "hellsichtig" (Habermas) antizipierten weltweiten
Öffentlichkeit. Daß es eher Habermas ist, der an eine
'sprechende'
Aufklärung denkt, zeigen seine Beispiele von UNO-Konferenzen. Ob
Kants
duales System die Vermittlung zwischen Moral, Recht und Politik so
vernachlässigt,
wie Habermas meint, scheint mir fraglich.
Entscheidend
ist die Tatsache, daß im Informationszeitalter die gedruckten
Schriften
nicht mehr als das Medium der Aufklärung gelten können, was
aber
Kant nicht voraussehen konnte. Allerdings bedurfte es der
totalitären
Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, bis am 10. Dezember 1948 die
Vereinten
Nationen die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte"
verabschiedeten.
In Artikel 19 heißt es:
"Jeder
Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses
Recht
umfasst die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und
Informationen
und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf
Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten" (Heidelmeyer 1982).
Habermas
versucht Kants Idee des Ewigen Friedens "angesichts der heutigen
Weltlage"
zu reformulieren. Er postuliert erstens die Institutionalisierung eines
Weltbürgerrechts, ausgestattet mit Hand- lungsfunktionen,
zweitens,
verlangt er nach einem Strafgerichtshof und drittens schlägt er
vor,
das Problem einer "stratifizierten" Weltgesellschaft, oder, anders
gesagt,
das Problem der Spannungen zwischen der 'ersten' und der 'dritten'
Welt,
mit Hilfe eines umspannenden Grundkonsenses im Rahmen der Vereinten
Nationen
zu lösen. Dieser Konsens bestünde darin, dass alle Mitglieder
akzeptieren, gleichzeitig in Frieden zu leben, obwohl sie politisch,
ökonomisch
und kulturell ungleichzeitige Entwicklungen vollziehen, ferner in einer
normativen Übereinstimmung über Menschenrechte, jenseits von
strittigen kulturbedingten Interpretationen, und schließlich im
Einverständnis
bezüglich eines anzustrebenden Weltfriedens, anstelle eines
bloß
zu vermeidenden (Welt-)Krieges.
Ich
finde Habermas' Diagnose der Lage der politischen Öffentlichkeit
und
seinen Therapievorschlag mangelhaft. Habermas äußert sich
ganz
unmißverständlich und im pejorativen Sinne kulturkritisch,
wenn
er über den Wandel von einer "transparenten", "literarisch
geprägten,
Argumenten zugänglichen Öffentlichkeit" zu einer "von
elektronischen
Massenmedien beherrschten, semantisch degenierten (sic), von Bildern
und
virtuellen Realitäten besetzten Öffentlichkeit" spricht.
Er
ist dabei offenbar mit der medialen Verunreinigung seiner rationalen
Kommunikationsgemeinschaft
ganz und gar unzufrieden. Anstelle des Kantischen Dualismus zwischen
Bürgerpflicht
und Gelehrtenfreiheit gilt jetzt der Dualismus zwischen der
Pseudo-Öffentlichkeit
der sprachlosen und/oder Irrealitäten verbreitenden Massenmedien
versus
einem in der UN institutionalisierten Weltdialog auf einer erst
herzustellenden
Konsensbasis. Habermas betrachtet die UN-Konferenzen als "bloße
Thematisierung
überlebenswichtiger Probleme", als Appelle an die "Weltmeinung",
und
gesteht den nichtstaatlichen Organisationen, den NGOs (Non-Governmental
Organizations), eine gewisse Rolle bei der "Herstellung und
Mobilisierung
übernationaler Öffentlichkeiten" zu.
Er
würdigt immerhin die Möglichkeiten der elektronischen
Massenmedien
für die NGOs bei der Schaffung einer solchen "international
vernetzten
Zivilgesellschaft". Zugleich aber belegt er, gleichsam mit Affekt, die
Umfunktionierung der 'sprechenden' Aufklärung (in Wahrheit sollte
sie ja eine 'schreibende' sein) "sowohl für eine sprachlose
Indoktrination
wie für eine Täuschung mit der Sprache"! Diese Aussage wirkt
zunächst widersprüchlich, denn wo sprachlose Indoktrination,
kann kaum eine Täuschung mit der Sprache stattfinden. Wenn man
beide
Möglichkeiten auseinanderhält, wirkt diese Verurteilung
oberflächlich
und pauschal: Die Bilder der Massenmedien (zwei Pauschalierungen)
werden
zu Indoktrinationszwecken gesendet. Wer sendet sie? Inwiefern? Welche
Doktrinen?
Und dort wo gesprochen (weitere Pauschalierung), handelt es sich auch
um
eine Täuschung (abermalige Pauschalierung): Wir machen uns vor,
mit
rationalen Argumenten (die gibt es offenbar irgendwo in biotopischer
Frankfurter
Reinkultur) umzugehen.
Um
mit Kant gegen Habermas zu argumentieren: Auch und gerade über
Weltinstitutionen
mit ihren Prinzipien und Erklärungen ist eine medial hergestellte
Weltöffentlichkeit anzusetzen, wo jeder universale Konsens dem
autonomen
Vernunftgebrauch unterstellt werden kann. Dass hierfür eine
Weltvernetzung,
wozu das heutige Internet nur eine bescheidene Vorstufe sein mag, ganz
andere von Kant nicht geahnte Möglichkeiten von Kritik und Dissens
- aber auch, wie anschließend zu zeigen ist, von Kolonialisierung
und Gleichschaltung - als die gedruckten Schriften bietet, dürfte
klar sein.
Die
globale elektronisch-vernetzte und multimediale Kommunikation ist in
der
Tat weder Kants "Leserwelt" der Gelehrten noch Habermas' transparente
Gesellschaft
der rational face to face Argumentierenden, aber sie
könnte
eher stratifizierte Grenzen der Weltöffentlichkeit auflockern als
eine womöglich scheinbar konsensuelle Prinzipienvereinbarung, bei
deren Anwendung die "lichtscheuen" Absichten der Regierungen verdeckt
bleiben,
wenn man sie nicht im Kantischen Sinne öffentlich kritisiert.
II.
INFORMATIONSETHIK HEUTE
Damit
will ich keineswegs bestreiten, daß die heutige Vernetzung der
Weltöffentlichkeit,
sowohl was Massenmedien, wie Rundfunk und Fernsehen, als auch, was das
Internet anbelangt, weit entfernt von einer Chancengleichheit zwischen
der ersten und der dritten Welt ist. Die Kluft zwischen den
Informationsreichen
und den Informationsarmen wird sich womöglich verschärfen, ja
sie ist in vieler Hinsicht (z.B. Aufbau und Verteilung von Netzen und
Servern, computer literacy) bereits stratifiziert (Capurro
1995).
Aber
aus dem historischen Abstand von zweihundert Jahren können wir uns
fragen, ob die Art von Weltöffentlichkeit, die sich Kant mit Hilfe
der Schriften erträumt hat, nur im entferntesten mit dem
vergleichbar
ist, was die elektronische Weltvernetzung bietet oder bieten kann. Aus
der UN eine Art Weltgewissen konstruieren zu wollen und dieses einer
unübersichtlichen,
sprachlosen, indoktrinierenden und täuschenden medialen
Öffentlichkeit
gegenüberzustellen, läuft den eigentlichen Intentionen Kants
zuwider.
Wenn
heute nach einem informationsethischen Weltkonsens auf der Grundlage
der
Menschenrechte gesucht wird, dann könnte Habermas' Idee eines
universalen
Grundkonsenses zum Beispiel in Form einer UN-Informationsagentur (unter
dem Dach der UNESCO?) konkretisiert werden. Es würde aber
bedeuten,
Kant auf den Kopf zu stellen, würde man aus dieser
institutionalierten
Weltöffentlichkeit in Sachen Informationsfreiheit den nicht mehr
hinterfragbaren
Horizont des eigenen Vernunftgebrauchs zu machen. Für Habermas
ist,
so
scheint es, die UN selbst der Ort der rationalen Diskussion,
während
die elektronischen Medien, zumindest teilweise, eine Bedrohung, ja
Irreführung
des rationalen Denkens darstellen. Eine universale Institution bleibt
eine
Instanz, wodurch die Partikularinteressen der Teilnehmerstaaten sich
artikulieren
können. Aber nicht nur diese Artikulation bedarf der
Möglichkeit
einer kritischen Überprüfung mit dem eigenen Verstande,
sondern
auch ihre Grundlage, die Menschenrechte selbst also, bedürfen
einer
ständigen öffentlichen Revision. Der von Habermas ersehnte
Konsens
und der sich daran anschließende institutionalisierte Diskurs
müssen,
der Kantischen Intention nach, permanent der öffentlichen
nicht-institutionalisierten
Kritik unterzogen werden. Denn auch ein UN-Amt ist ein Amt und
schränkt
den Gebrauch der Vernunft auf den erreichten Minimalkonsens ein.
Schaffen
wir aber keine (UN-)Informationsagentur, dann haben wir kein
fachkundiges
internationales Forum, wo internationale Konflikte bis hin zu cyberwars
gelöst oder entschärft werden könnten.
Die
Spannweite gegenwärtiger nationaler Bemühungen um die
Kontrolle
des 'free flow of information' reichen von Clinton/Gore Global
Information Infrastructure (GII), über die bayerischen
Pornographieparagraphen
bis hin zu protektionistischen und fundamentalistischen Hemmnissen
aller
Art. Was dabei zum Vorschein kommt, ist, daß das allgemeine
Menschenrecht
auf freie Meinungsäußerung und informationelle
Selbstbestimmung
nicht losgelöst von staatlichen Verfassungen sowie von kulturellen
Traditionen aufgefaßt werden kann.
MIT-Präsident
Charles M. Vest hat in seinem Bericht für das Studienjahr 1994/95
die offene Frage nach dem Verhältnis zwischen der Globalisierung
des
Informationsmarktes und den Nationalstaaten folgendermaßen
formuliert:
"Wir
wissen nicht wie sich die rasche Ausbreitung vernetzter elektronischer
Kommunikation auf den Nationalstaat auswirken wird. Die enorme
kollektive
Bandbreite des Internet unterscheidet es beträchtlich vom Telefon,
und es besitzt das Potential, eine neue Art "Gesellschaft" zu schaffen.
Wir können nicht voraussagen, ob wir eine Gesellschaft sehr
lokaler
Netze haben werden, die sich um Individuen und kleine Gruppen
zentrieren,
oder eine globale Gesellschaft, und wir wissen auch nicht, wie diese
Entwicklungen
zu steuern wären, selbst wenn wir uns über die
erwünschten
Ergebnisse klar wären." (Vest 1996)
Bringt
uns der weltweit-vernetzte Informationsmarkt dem Traum der
Aufklärung
einer zensurfreien Mitteilung näher oder entstehen, ähnlich
wie
im Falle des 'freien' Austausches von Waren, neue Formen von Krieg und
Unterdrückung? Eine UN-Informationsagentur könnte als
Katalysator
wirken. Wir sollten uns dabei weder durch die gegenwärtige
prekäre
finanzielle Lage der UN noch durch die schon unternommenen und zum Teil
fehlgeschlagenen Anstrengungen diesbezüglich entmutigen lassen.
Eine
solche Agentur könnte weltweite virtuelle Agenten vernetzen und
bedürfte
keineswegs eines aufgeblähten und teuren Verwaltungsapparats.
Politische
Institutionen bedürfen aber öffentlicher Foren im Kantischen
Sinne, eine Rolle, die in der "Gutenberg-Galaxis" (McLuhan) vor allem
die
Pressenfreiheit erfüllte (und noch erfüllt).
Kant
konnte nicht voraussehen, dass die Welt der Gelehrtenschriften sich zu
einer unüberschaubaren Gutenberg-Galaxis des Gedruckten entwickeln
würde, und er konnte auch nicht die heute im Entstehen sich
befindende
GOLEM-Galaxis erahnen (Capurro
1995). Für
ihn bestand das Problem des freien Mitteilungsraums des Gedruckten
darin,
die Macht von Politik und Kirche 'in theoreticis'
einzuschränken.
Heute
hat sich die Situation teilweise umgedreht: Die Regierungen stehen vor
der Frage, wie sie, angesichts der weltweiten Vernetzung, ihre relative
Autonomie aufrechterhalten können. Die Spannungen zwischen
individueller
und kollektiver informationeller Selbstbestimmung wachsen. Schritte zu
einem Weltinformationsrecht sind notwendig.
Aber
wir brauchen, darüber hinaus, die Pflege einer
Weltinformationskultur.
Auch wenn die Diagnose, wir befänden uns auf dem Weg in eine
Gesellschaft
der Kommunikationslosigkeit überzogen erscheinen mag (Galeano
1996),
ist es nicht zu übersehen, daß Herrschaft und Ausbeutung in
Weltpolitik und Welthandel durch die elektronische
Informationszirkulation
wesentlich mitbestimmt werden. Information ist eine Ware, welche dem
Prozeß
von Angebot und Nachfrage untersteht. Sie ist aber auch eine diese
Prozesse
mitbestimmende Komponente. Als Ausgleich zu dieser Ökonomisierung
des Wissens sollten wir im Rahmen einer Weltinformationskultur
tradierte
Strukturen des freien Meinungsaustausches, wie z.B. öffentliche
Bibliotheken,
modernisieren und neue Strukturen einer freien, elektronisch
vermittelten
Weltöffentlichkeit gestalten und schützen.
Kants
duales System muß sowohl mit Bezug auf die Weltvernetzung als
auch
auf die Rolle der UN reformuliert werden. Dabei mag die Frage nach dem
Schutz des eigenen Vernunftgebrauchs gegenüber der politischen
Macht
sich teilweise umgekehrt haben: Freies Angebot und weltweite
Zugänglichkeit
der Netze stehen oft im Widerspruch zu einzelstaatlichen Gesetzen, ja
zu
einem ganzen gesellschaftlichen System. Die selbstregulierenden
Kräfte
der Netzteilnehmer sowie staatliche Maßnahmen reichen oft nicht
aus,
um die bad guys aus dem Verkehr zu ziehen, so daß eine
institutionelle
Weltinstanz zur Lösung von Konflikten beitragen könnte, ohne
sie aber zu einer Weltzensurbehörde zu erheben.
In
einem vernetzten Weltinformationsmarkt stehen Fragen der Ausbeutung,
Monopolisierung
und Kolonialisierung durch staatliche und nicht-staatliche Akteure auf
der Tagesordnung. Ihre Kehrseite sind Informationsutopien und
-ideologien.
Was ist Aufklärung heute? Sie ist Aufklärung über die
Aufklärung.
Anstatt einem bestimmten angeblich verunreinigten Kommunikationsideal
nachzutrauern,
sollten wir zum Beispiel darüber nachdenken, ob die Weltvernetzung
uns global näher, ich meine, weltvernetzt näher zueinander
bringt,
oder ob die Kluft zwischen der ersten und der dritten Welt sich weiter
verschärft. Diese Kluft zwischen Informationsreichen und
Informationsarmen
ist noch kaum erforscht, ja diese Begriffe müßten erst genau
analysiert werden.
Die
Welt der Information ist die Welt der Meinungen, der doxa. Sie
ist
die Kehrseite der Aufklärung im Sinne der episteme von
Kants
Gelehrtenrepublik. Beides, doxa und episteme bedingen
sich
gegenseitig. Der Boden, auf dem die Kantische Gedankenfreiheit steht,
ist
die Mitteilungsfreiheit. Im Unterschied zum damaligen
Aufklärungsideal,
ziehen wir aber die Grenze zwischen doxa und episteme
nicht
mehr so deutlich. Denn Wissenschaft ist dadurch ausgezeichnet,
daß
ihre Aussagen begründete oder bewährte Meinungen sind, wie
die
Wisssenschaftstheorie dieses Jahrhunderts lehrt. Ferner können wir
aus dem Abstand von zweihundert Jahren eine explosionsartige Zunahme
der
Meinungsdiffusion, über staatliche Grenzen hinweg, feststellen.
Wir
müssen nicht, wie noch Kant, um ein Minimum an Mitteilungsfreiheit
kämpfen, sondern wir haben die Qual der Wahl. Deshalb auch die
These:
Aufklärung heute ist Aufklärung über Aufklärung.
Wir
müssen dabei nicht nur lernen mit dem
Informationsüberfluß
umzugehen, sondern auch neue Formen von Ausbeutung aufdecken und wir
müssen
Strukturen eines sozialen Informationsmarktes schaffen. Letztlich
müssen
wir den Mythos Information selbst aufklären. Denn nachdem die
politischen
und religiösen Vormünder durch leidvolle Erfahrungen
relativiert
wurden, wäre es möglich, daß der Wunsch:
"Habe
ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der
für
mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich Diät beurteilt
u.s.w.,
so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen" (Kant 1923, AA
VIII),
daß
dieser Wunsch also durch: 'Habe ich einen Netzanschluß, der mich
mit Meinungen und Gewissen versorgt usw.' ersetzt wird, so daß
der
Entschluß sich des eigenen Verstandes zu bedienen, lahmgelegt
wird.
Man sieht, die Probleme einer heutigen Informationsethik zeigen sich
bereits
umrißhaft.
LITERATUR
Capurro,
R.: Leben im
Informationszeitalter. Berlin
1995.
Capurro,
R., Wiegerling, K., Brellochs, A. Hrsg.: Informationsethik,
Konstanz 1995.
Galeano,
E.: Vers une société de l'incommunication? In: Le Monde
Diplomatique,
16, Janvier 1996.
Habermas,
J.: Kants Idee des Ewigen Friedens. Aus dem historischen Abstand von
200
Jahren. In: Information Philosophie 5, Dezember 1995, S. 5-19.
Heidelmeyer,
W. Hrsg.: Die Menschenrechte. Erklärungen, Verfassungsartikel,
Internationale
Abkommen, Paderborn u.a. 1982, 3. Aufl.
Kant,
I.: Gesammelte Schriften. Hrsg. Preuss. Akademie der Wissenschaften,
Berlin
1910 ff.
Vest,
Ch. M.: Aus dem Brevier des Unwissens. In: DIE ZEIT, Nr. 2, 23. Februar
1996, S. 56. Vgl. Report of the President for the Academic Year
1994-1995:
https://web.mit.edu/president/communications/rpt94-95.html We do not know what
the consequences will be for the nation state of the explosion in
networked electronic communications. The enormous collective
bandwidth of the Internet makes it quite unlike the telephone, and it
has the potential to create a new kind of "society," an entity in
itself. We cannot predict if we will have a society of very local nets,
centered around individuals and small groups, or a massive global
society. We do not know the consequences in either case, nor how to
steer these developments even if we could determine what outcome is
desirable.
Letzte
Änderung: 23. April 2024
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