EINLEITUNG
Wenn
denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem informierten
Zeitalter?
so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Information.
Diese Paraphrase von Kants Diktum läßt sich
folgendermaßen
fortsetzen: Eine wesentliche Voraussetzung auf dem Weg zu einem
informierten
Zeitalter ist bereits gegeben, nämlich eine zugleich offene,
interaktive,
verteilte, billige, leistungsfähige, kompatible, fehlertolerante,
multimediale, benutzerfreundliche – und
wie die Werbeslogans alle
lauten –
Informationstechnik. Es sieht so aus, als ob wir im
Informationszeitalter
alles daran setzen, um uns unseres eigenen Verstandes, sprich unseres
eigenen
PCs, zu bedienen. Es fehlt aber noch eine Kleinigkeit (smikron),
würde Sokrates sagen. Um sie geht es in diesem Buch.
Ein Titel wie Leben im
Informationszeitalter weckt vielleicht hohe Erwartungen, zumal,
wenn unter Leben nicht nur das, was wir hier und heute sind, gemeint
ist, sondern auch das, was wir waren und sein können. Ein
unendliches Thema also. Ein Thema für unendliche Dialoge, wovon
die hier vorgetragenen Gedanken, denen der Leser, wie man früher
sagte, mit Nachsicht begegnen möge, nur Fragmente darstellen. Sie
sind aus verschiedenen Gesprächen und Diskussionen mit Freunden,
Studenten, Kollegen und Bekannten entstanden und teilweise auch
mündliche oder schriftlich mitgeteilt worden (Vgl. Literatur- und
Quellenverzeichnis). Sie bilden keine geschlossene Einheit, sondern
sind Versuche, essays, die
allerdings mit jener Kleinigkeit zu tun haben. Daher auch meine
Absicht, sie in einem Band
zusammenzustellen, einem Band, der als Knotenpunkt für aus
unterschiedlichen Richtungen kommenden und in unterschiedliche
Richtungen führende Denkpfade fungiert.
Diese Denkpfade sind zunächst die des Autors, will sagen, der
Autor versteht sich als Kreuzung und nicht als fester Standpunkt.
Dieses lehrt nicht nur die Hermeneutik mit Bezug auf die Produkte der
"Gutenberg-Galaxis" (McLuhan 1968), sondern auch die Erfahrung der
elektronischen Vernetzung im Informationszeitalter.
In
diesem Buch fließen unterschiedliche Strömungen zusammen,
die
um die Frage nach der Offenheit und Abgründigkeit menschlichen
Existierens
kreisen. Daß menschliches Existieren einer abgründigen
Weite ausgesetzt ist, die wir deshalb nicht gänzlich
aufklären
können, weil wir weder von unserer Faktizität noch vom
Faktum, daß alles ist und nicht vielmehr nicht ist,
restlos Rechenschaft
ablegen können –
dieser Gedanke gehört zum Kern vieler
großer
Denktraditionen. Dies zum Ausdruck bringen zu können, verdankt der
Verfasser einer langjährigen Schulung im Denken Martin
Heideggers durch Freunde und Lehrmeister. Zu diesen zähle ich
in Dankbarkeit vor allem den argentinischen Philosophen und Theologen
Juan
Carlos Scannone SJ (Capurro 1991b).
Diesem Dank möchte ich auch eine kleine confessio philosophi
hinzufügen: Ich verdanke nicht zuletzt der eigenen
Klostererfahrung die Möglichkeit des Nach-Vollzugs einer Einsicht,
die, wie in anderen Bereichen auch, nicht durch Theoretisieren und
Argumentieren ersetzt werden kann und die in der folgenden
altchinesischen Geschichte zum Ausdruck kommt. Auf die Frage des
Kaisers Wu-ti: "Was ist der erste Sinn der heiligen Wahrheit?" gab der
Boddhi Dharma folgende Antwort: "Offene Weite. Nichts Heiliges!" (1)
Heideggers
Denkwege führen ins Paradoxon, daß wir, um jene Kleinigkeit
wahrzunehmen, vom Menschen weg in den Abgrund schauen und uns im Kreise
drehen müssen, so daß uns dabei schwindlig wird:
"Aber
wo die größte Gefahr des Schwindelns ist, da ist auch die
höchste
Möglichkeit der Echtheit des Denkens und Fragens. Das
Bedürfnis
für diese Echtheit zu wecken und wachzuhalten ist der Sinn des
Philosophierens."
(M. Heidegger, GA 25, S. 431).
(2) Wo
es
bei Wittgenstein heißt: "Wovon
man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen"
(Wittgenstein 1984, 7) lernt
man bei Heidegger und auch beim späten Wittgenstein, daß es
abgründige Sachverhalte gibt, wie zum Beispiel die Sprache, von
denen
wir nicht darüber, wohl aber davon im dialogischen
Übergang
des einen zum anderen sprechen können (Heidegger 1975). Ich nenne
die Heideggersche Einsicht in die offene Mitte
menschlichen
Existierens in Anklang an Leibniz' Satz vom Grund den Satz
vom
Ab-Grund (Heidegger 1971). Dieser Satz
ist
keine bloße theoretische Aussage über einen objektiv
nachprüfbaren
Sachverhalt, sondern er ist, wie alle philosophischen Grund-Sätze,
Ausdruck eines existentiellen Sprungs.
Im
Sinne dieses Sprungs ist meine Kritik am anthropozentrischen
Humanismus
zu verstehen, an der Versuchung, die offene Mitte durch ein Bild oder
eine
Lehre über uns selbst auszufüllen. Meine Kritik des
Technozentrismus
schließt sich insofern an, als die Technik zu einer
anthropozentrischen
Maske wird und für sich selbst die Mitte beansprucht. Gleiches
gilt
für den Naturalismus. Schöpft das Philosophieren nicht aus
einem
solchen existentiellen Sprung, dann erschöpft es sich meistens in
der Gelehrsamkeit der analytischen oder historischen Buchführung
des
Begriffs. Ist es nur auf dem Sprung, neigt es zur Wahr-Sagerei.
Philosophieren
heißt, sich auf den Weg über den Grat zwischen
Schwärmerei
und Buchhaltung des Geistes zu machen.
Als Leitfaden möchte ich folgendes vorausschicken. Im ersten Kapitel versuche ich,
das Verhältnis von Informationstechnik und Lebenswelt zu
klären, indem ich die Maske des Technozentrismus durch den Begriff
der Lebenswelt und den Heideggerschen Spreng-Satz
vom "In-der-Welt-sein" in Frage stelle und den Begriff der schwachen Technik einführe.
Dieser Begriff, der sich an Gianni Vattimos pensiero debole (schwaches Denken)
anschließt, gilt mir als Pendant zur Auffassung, daß die
Stärke einer wissenschaftlichen Theorie in der Möglichkeit
ihrer "Falsifizierbarkeit" (Karl Popper) liegt. Der Blick in die offene
Mitte läßt die Frage nach dem Verhältnis zu uns selbst,
die ethische Frage also, aufkommen.
In Anschluß an Michel Foucault gebe ich im zweiten Kapitel einen
Überblick über einige Praktiken der Selbstformung, über
jene Übungen also, bei denen wir uns einzeln oder in Gemeinschaft
mit dem Faktum einer nicht vorgegebenen oder programmierten, sondern
einer uns aufgegebenen Existenz selbst konfrontieren. Die "Technologien
des Selbst" (Foucault) dürfen aber nicht im Sinne einer
individualistischen Ethik mißverstanden werden, sondern sie
stehen in Wechselwirkung mit anderen technischen Dimensionen unseres
"In-der-Welt-seins", wie zum Beispiel mit den Informationstechnologien.
Ihre spezifische Leistung besteht darin, der offenen Mitte
tatsächlich und nicht bloß in Gedanken den ihr
gebührenden Ort in unserem individuellen und sozialen Leben
einzuräumen. Diese Perspektive erlaubt dann, im dritten Kapitel, von jener
informationstechnischen Bestimmung unserer Gesellschaft den
nötigen Abstand zu nehmen, um im Taumel der medialen Vernetzung
jene Kleinigkeit nicht zu vergessen.
Im vierten Kapitel widme ich mich
dem Selbstverständnis eines Hauptakteurs des
Informationszeitalters, nämlich des Informatikers. Ich fasse die
Informatik als hermeneutische Disziplin auf, und versuche, sie in den
Kontext einer zu gestaltenden Lebenswelt zurückzuführen,
indem sie die notwendige Rekontextualisierung ihrer Algorithmen in den
verschiedensten Bereichen menschlichen Handelns nicht aus den eigenen
Augen verliert oder sie an die Anwender delegiert. Die auf das
Programmieren gerichtete Sichtweise der Informatik steht wiederum im
Widerstreit mit dem Blick in die offene Weite. Es ist auch dieser
Blick, der die Einsicht auch in die Verhältnisse verdeckter
Ausbeutung schärft. In Lateinamerika lernte ich Situationen von
Unterdrückung aus unmittelbarer Nähe kennen, so daß das
Wort Gerechtigkeit kaum zum Synonym für Fairneß werden
konnte. Von dieser Gerechtigkeit sagt uns Emmanuel Lévinas
(1987), daß sie ihren "unendlichen" Charakter im Angesicht des
Anderen zeigt. Es sind aber freilich "nur wenige, die den Sinn haben
und zugleich zur Tat fähig sind" (J. W. v. Goethe 1977: 550). (3)
Im fünften und
sechsten Kapitel stelle ich
zwei Dimensionen des Informationszeitalters dar, die unsere
hermeneutisch-technischen Sinnentwürfe teilweise unterminieren
oder überhöhen. Im ersten Fall handelt es sich um die
Unterwanderung der Interpretationsgemeinschaft durch die chaotische
Vielfalt der medialen Vermittlungssphäre. Ich spreche in
Anschluß an Heidegger vom Informations-Gestell.
Damit meine ich die Gesamtheit aller Weisen des Herstellens und
Darstellens von Information, die gegenüber den rationalistischen
und utilitaristischen Phantasien der Interpreten und Gestalter
menschlichen "In-der-Welt-seins" eine weltumspannende labyrinthische
Vernetzung bildet. Entsprechend dem hermeneutischen Grundsatz
müssen wir beachten: "Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel
heraus-, sondern in ihn hinein nach der rechten Weise hineinzukommen"
(Heidegger 1976: 153). Die uns bedingende artifizielle
Informationszirkulation ist kein circulus
vitiosus, sondern birgt positive Möglichkeiten in sich,
vorausgesetzt freilich, daß wir jene Kleinigkeit nicht vergessen.
Die Überhöhung des Informationszeitalters führt in die
mythische Welt der uns übersteigenden künstlichen
Intelligenz. Ich sehe in diesem technologischen Mythos die Besetzung
eines theologischen Signifikanten, der ebenfalls eine entscheidende
philosophisch-anthropologische Funktion erfüllt. Es ist
erstaunlich, wie nahe die funktionalistische These über die
Abtrennbarkeit der Intelligenz von ihrem materiellen Substrat der
mittelalterlichen Vorstellung von getrennten Intelligenzen kommt.
Im siebten Kapitel
schließlich widme ich mich der Frage der Genealogie der
Information. Ich versuche zu zeigen, daß die heute herrschende
Weise der Mitteilung sich von früheren unterscheidet, so daß
wie vor diesem Hintergrund relativiert werden kann. Das, was uns auch
heute Anlaß zur Mitteilung gibt, ist jene Kleinigkeit, um die
diese Denkversuche fragmentarisch kreisen.
Das Staunen ist, wie eine alte Tradition bezeugt, der Anfang des
Philosophierens. Offenbar handelt es sich dabei um eine bestimmte Form
des Staunens. Die folgende Geschichte von Paul Valéry gibt
darüber Auskunft:
Der erstaunte
Engel
Der
staunte, als er das Lachen der Menschen hörte.
Man
versuchte, ihm zu erklären, so gut man konnte, was es bedeutet.
Er
fragte dann, warum die Menschen nicht über alles lachen, und
ständig; oder, andernfalls, warum sie nicht ganz auf das Lachen
verzichten.
"Weil,
sagte der Engel, wenn ich richtig verstanden habe, man über
alles oder über nichts lachen muß."
(Übers.
vom Verf.; Valéry 1957: 399) (4)
Was uns, Staunende, offenbar vom Engel unterscheidet, ist, daß
wir fähig sind, zu reden und zu schweigen, und daß wir
beides gegebenenfalls durch Lachen durchbrechen können.
ANMERKUNGEN
1) Vgl. Ohtsu (1981: 134). Das Gespräch ist überliefert im
ersten Kapitel des Zen-Buches Bi-yän-lu und hat einen
unmittelbaren Bezug zur achten Stufe der Geschichte von dem Ochsen un
seinem Hirten, wovon im dritten
Kapitel die Rede sein wird.
(2) Vgl. auch Capurro (1993b: 51-65)
(3) zu Lévinas vgl. Capurro (1991h: 129-148)
(4) Der Text lautet im Original: "L'ange étonné. L'ange
s'étonnait d'entendre le rire des hommes. On lui expliqua, comme
l'on put, de que c'était. Il demanda alors pourquoi les
hommes ne riaient pas de tout, et à tout moment; ou bien, ne se
passaient pas entièrement de rire. 'Car, dit-il, si j'ai bien
compris, il faut rire de tout on ne rire de rien.'"
LITERATUR
Capurro, Rafael (1991b). Juan
Carlos Scannone. In: J. Nida-Rümelin, Hrsg.: Philosophie der
Gegenwart in Einzeldarstellungen. Stuttgart, S. 539-542.
Capurro, Rafael (1993b).
"Sein und Zeit" und die Drehung ins synthetische Denken. In: M.
Eldred, Hrsg.: Twisting Heidegger. Drehversuche parodistischen Denkens.
Cuxhaven.
Capurro, Rafael (1991h). Spreng-Sätze.
In: prima philosophia 4, 2, S. 129-148.
Goethe, Johann Wolfgang von (1977). Wilhelm Meisters Lehrjahre. Goethes
Werke, München, Bd. 7.
Heidegger, Martin (1975). Aus einem Gespräch von der Sprache. In:
ibid.: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen.
Heidegger, Martin (1975, 1971) Der Satz vom Grund. Pfullingen
Heidegger, Martin (1976). Die Technik und die Kehre. Pfullingen.
Heidegger, Martin (1977). Vier Seminare. Frankfurt
Heidegger, Martin (1977). Phänomenologische Interpretation von
Kants Kritik der reinen Vernunft, GA 25, Frankfurt.
Lévinas, Emmanuel (1987). Totalität und Unendlichkeit.
Freiburg/München.
McLuhan, Marshall (1968). Die Gutenberg-Galaxis. Düsseldorf.
Ohtsu, D.R. (1981). Der Ochs und sein Hirte. Eine altchinesische
Zen-Geschichte, erläutert von Meister D.R. Ohtsu. Pfullingen (4.
Aufl.)
Valéry, Paul (1957 Oeuvres, 2 Bde. Paris.
Wittgenstein, Ludwig (1984). Tractatus logico-philosophicus.
Werkausgabe Band 1, Frankfurt.
Letzte
Änderung: 9. Juli 2020
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