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Kapitel 3: Grundbegriffe |
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Einführung: Paradigmenwechsel in der InformationswissenschaftIm Falle der Informationswissenschaft kann man beobachten, dass diese sich in ihrem paradigmatischen Selbstverständnis und in partieller Abgrenzung zum Bibliothekswesen als Theorie und Praxis des Information Retrieval seit den 50er Jahren bestimmte. Diese Selbstbestimmung war zunächst objektivistisch orientiert, d.h. sie vernachlässigte weitgehend die Rolle des Erkennenden/Suchenden. Eine Einführung in die Problematik informationswissenschaftlicher Paradigmenwechsel ausgehend von den epoche-machenden Cranfield-Experimente bietet: D. Ellis: "Paradigmen und deren Vorstufen in der Retrievalforschung". Die Betonung des cognitive viewpoint brachte in den 70er Jahren so etwas wie einen Paradigmenwechsel hervor. Dieser Ansatz wurde in den 80er Jahren aufgrund der Einbeziehung des pragmatischen Kontextes abermals in Frage gestellt. Birger Højrland hat das kognitivistische Paradigma kritisiert und erweitert, indem er die soziale und kulturelle dimension des Wissens in den Mittelpunkt seines Ansatzes stellte. Hier gibt es vielfältige Anknüpfungspunkte mit hermeneutischen, semiotischen und pragmatischen Ansätzen. Die Vielfalt der Auffassungen über Gegenstand und Ziel der Informationswissenschaft kann somit zugleich als Schwäche und Stärke dieses jungen Wissensgebietes aufgefaßt werden. Sie bedeutet eine Schwäche insofern, als disparate Forschungsrichtungen und -ergebnisse sich nicht leicht unter einem Hut bringen lassen, so daß paradoxerweise innerhalb der Informationswissenschaft ein Informations- und Verstehensproblem entsteht. Sofern dieses Problem aber als solches erkannt wird, ist es möglich, unterschiedliche Zugangsweisen zu einem Gegenstand zuzulassen und festgefahrene Auffassungen durch neue Gesichtspunkte zu erweitern oder sie in ihrem Ausschließlichkeitsanspruch in Frage zu stellen. Mit anderen Worten, was Informationswissenschaft ist, steht nicht ein für allemal fest, sondern wird jeweils theoretisch und praktisch ausgehandelt. Dabei kann es vorkommen, dass 'vergessene' Einsichten plötzlich ganz aktuell werden, und umgekehrt. In einem historischen Rückblick schlägt Julian Warner (2001) folgende Periodirisieung der Entwicklung der Informationswissenschaft vor: 1) 1945-1960: Während der Nachkriegsperiode versteht sich die Informationswissenschaft als Antwort auf die technologische Entwicklung im Telekommunikationsbereich. Sie entwickelt sich parallel zur Bibliothekswissenschaft. Ein weiterer Anreiz ist der sog. Sputnik-Schock und der damit zusammenhängende Weinberg-Bericht. Theoretisch ist dieser Periode durch den Einfluß der Informationstheorie von Claude Shannon sowie durch die Kybernetik bestimmt. Rationalität und empirische Methode bestimmen die Cranfield-Experimente. Jesse Shera entwickelt eine sozial-orientierte Bibliothekswissenschaft auf der Basis einer Sozialepistemologie ("social epistemology"). 2) 1960-1980: Erste sozial-orientierte Ansätze in der Informationswissenschaft vor allem in Zusammenhang mit dem komplexen Begriff der Relevanz und der Bewertung von IR-Systemen. Eine Annäherung an die Bibliothekswissenschaft findet statt, aber die Cranfield-Tradition und der Einfluß der Informationstheorie sind weiterhin maßgeblich. Die Methoden des Informations Retrieval und ihre Anwendung im wissenschaftlich-technischen Bereich bilden den Kern der Informationswissenschaft. In den Sozialwissenschaften beginnt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Begriff der Informationsgesellschaft, die aber von der Informationswissenschaft wenig rezipiert wird. 3) 1980-1990: Die rasante technologische Entwicklung sowie die Verbreitung des Computers in der Gesellschaft beeinflußen die Informationswissenschaft. Es ensteht auch eine kaum überschaubare Fülle von Informationsbegriffen. Einige Bereiche der Informationswissenschaft , darunter auch das IR, werden immer mehr von anderen Disziplinen untersucht und 'annektiert'. Im angelsächsischen Bereich beginnt eine intensive Diskussion über die mission der LIS (Library and Information Science Schools). 4) 1990-2000: Die Informationsgesellschaft wird allmählich zur Realität. Es entwickelt sich eine intensive öffentliche Debatte darüber und es entstehen neue Disziplinen außerhalb der etablierten LIS. Die IR-Systeme, jetzt als Internet-Suchmachinen, verlassen endgültig den engen Bereich der Wissenschaft und werden zu sozialen Instrumenten. Warner zieht das Fazit, dass die Informationswissenschaft eine Chance verpaßt haben mag, sich als Sozialwissenschaft zu verstehen, daß aber diese Chance (noch) offen steht. Ohne diese Ausrichtung riskiert sie den Verlust ihrer Daseinsberechtigung, sofern sie nämlich ihre soziale Nützlichkeit nicht unter Beweis stellt. Insofern ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit den sozialen, rechtlichen, politischen und ethischen Fragen der Informationsgesellschaft innerhalb der Informationswissenschaft eine unerläßliche Bedingung für ihre künftige Entwicklung (Siehe: Kapitel 8). Zur
Vertiefung: 3.1 "Information-as-thing"3.1.2 Was ist Wissen? 3.1.3 Wann sind Dinge informativ? 3.1.4 Was ist der Gegenstand der Informationswissenschaft? 3.1.1 Vier Aspekte von InformationIn seinem Buch Information and Information Systems geht Michael Buckland (School of Library and Information Science, University of California, Berkeley), von folgenden Bedeutungen von Information aus:Buckland bemerkt, daß die zwei ersten Bedeutungen auf etwas hinweisen, nämlich auf Wissen bzw. auf "Information-als-Wissen", das nicht physikalisch faßbar ist (intangible), während bei der dritten Bedeutung Information in Zusammenhang mit Wissensrepräsentation steht und somit auch mit Dingen, zu tun hat, die faßbar sind. Informationssysteme können unmittelbar nur mit Information in diesem dritten Sinne zu tun haben. Die Bedeutung von "Information-als-Ding" ist dementsprechend, neben den beiden anderen Bedeutungen, grundlegend für die Informationswissenschaft. Informationsverarbeitung (information processing) im Sinne von data processing, document processing und knowledge engineering gehört zu den Dingen bzw. Prozessen, die physikalisch faßbar sind. Buckland
unterscheidet vier Bedeutungen von Information,
nämlich:
3.1.2 Was ist Wissen?In bezug auf den Wissensbegriff bemerkt Buckland, daß gerade wenn wir behaupten, daß Wissen als Ergebnis eines Informationsvermittlungsprozesses entsteht und daß Information dabei wahr sein muß, dies ein Wunsch ist, der sich öfter - wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt - nicht erfüllt. Mit anderen Worten, "wahr" in bezug auf Wissen meint immer den Glauben, etwas sei wahr. Wissen gründet also im Glauben (knowledge is based on belief) (Buckland 1991, S. 42). Eine Wissensänderung aufgrund eines Informationsprozesses ist eine Glaubensänderung. In diesem Sinne sind Wissen und Information "unfaßbar" (intangible). Die Repräsentation von Wissen ist selbst nicht Wissen, sondern "Information-als-Ding". Sie läßt sich wiederum nutzen, um neues Wissen bzw. neuen Glauben herzuleiten. Nicht die angebliche Wahrheit einer Information ist entscheidend im Hinblick auf ihre Informativität, sondern das Für-wahr-halten.Allerdings ist aber auch unter pragmatistischen Gesichtspunkten eine vollständige Nivellierung von "wahr" und "falsch" in bezug auf Information unsinnig, da, wie der Medienwissenschaftler Lutz Herrschaft bemerkt, "eine informierte Gesellschaft bleibt sicherlich handlungsfähig, doch würde dies dann rasch unmöglich werden, wenn der Anteil fehlerhafter Informationen einen bestimmten Schwellenwert überschritte. Für die Wahrheitsfrage entscheidend ist somit, daß die Bereitschaft, eine Information für wahr zu halten, nicht von objektiven Kriterien abhängt (in vielen, vielleicht den meisten Fällen sind diese ohnehin nicht zugänglich), sondern davon, ob sie mit vertrauten, als zentral oder höherrangig eingestuften beliefs zusammenstimmt." (Herrschaft 1996, S. 175)Informationen sind also, kurz gesagt, nicht an sich wahr, aber wir gehen davon aus, daß dies der Fall ist. Was ist aber genau unter "Information-als-Ding" zu verstehen oder, anders ausgedrückt, wann sind Dinge informativ? 3.1.3 Wann sind Dinge informativ?Wenn wir Wissen mitteilen, tun wir dies anhand von bestimmten Trägern oder in irgendeiner physikalisch faßbaren Art. Bucklands Beispiele für "Information-als-Ding" sind sehr verschieden: Bücher in einer Bibliothek, bits und bytes im Falle von computerisierten Informationssystemen und - was zunächst aus dem herkömmlichen linguistisch und textuell orientierten Ansatz der Informationswissenschaft seltsam klingt - Gegenstände in einem Museum (Buckland 1991, S.43). So kann z.B. ein Skelett in einem Museum für Naturkunde ein solches "Ding" sein, das nicht weniger "informativ" ist als z.B. ein Text oder ein Bild aus einer Enzyklopädie. Museen sind also eine bestimmte Art von Informationssystemen. Oder, anders gesagt:"Die Grenzen zwischen dem, was ein Informationssystem ist oder nicht ist sind unklar und wir schlagen vor, daß ein System dann ein Informationssystem ist, wenn man es als ein Informationssystem nützt, besonders wenn es gestaltet wurde, um als Informationssystem benutzt zu werden." (Buckland 1991, S. 35, Übers. v.Vf.)Welche Dinge sind aber genau "Information-als-Ding"? Buckland verweist auf den Charakter der Evidenz (evidence): Ein Ding ist genau dann informativ, wenn es in irgendeiner Art und Weise etwas unmittelbar nachweist. Er
führt folgende Beispiele an: Welche Dinge sind also "informativ"? Im Prinzip, so Buckland, kann alles informativ sein, sofern nämlich die Dinge einen Evidenz- oder Zeugnischarakter haben (können), wie das z.B. bei Gerichtsverhandlungen der Fall ist. Buckland verweist in diesem Zusammenhang auf den juristischen Gebrauch des Informationsbegriffs. Ferner bemerkt Buckland, daß Informationsdinge, dann informativ sind, wenn sie in einer bestimmten Situation angetroffen werden. Dies liegt darin begründet, daß "Information-als Prozeß" immer situationsgebunden ist, so daß die Dinge, die einen prozessual-informativen Charakter haben sollen, ebenfalls in bezug auf die jeweilige Situation stehen müssen. Informationsdinge sind also nicht eine "Information an sich", sondern "potentielle informative Objekte" (potentially informative objects) (Buckland 1991, S. 107). Da die Ansichten, über die mögliche situative Relevanz von Dingen und somit über ihren informativen Charakter weit auseinander gehen können, betont Buckland, daß die Informativität als Ergebnis eines Konsenses oder einer Vereinbarung entsteht. Manche Dinge, wie etwa ein Telefonbuch, haben einen ziemlich sicheren oder unhinterfragbaren informativen Status. Wenn wir eine Datenbank aufbauen, tun wir dies ebenfalls auf der Basis einer Vereinbarung über das, was dazugehört und was nicht. Informationsdinge
sind, so Buckland zusammenfassend, sinnvoll in einem doppelten
Sinne: Informationsdinge, etwa eine Datei oder ein Aufsatz, lassen sich vervielfältigen. Die Informationswissenschaft unterscheidet dabei zwischen types (Typ) und tokens (wörtlich: Zeichen, nur scheinbar voneinander unterscheidbar = Kopie). Token ist also die Kopie eines Originals oder eines Typs. So zum Beispiel im Falle eines Buches, wo wir mit einem Typ aber mit vielen tokens zu tun haben. Wenn wir das Vorkommen eines Wortes in einem Text analysieren, um zum Beispiel eine statistische Angabe über seine Häufigkeit zu bekommen, dann ist diese Unterscheidung nicht nur nützlich, sondern notwendig. Sie liegt den gewichtenden Indexierungs- und Retrievalverfahren zugrunde. Die Frage, ob etwas ein type oder ein token ist stellt sich besonders akut in Zusammenhang mit Copyright-Fragen sowie, bekanntlich, in bezug auf Fälschungen von Originalwerken (Buckland 1991, S. 53-54). Hier wäre weiter zu fragen, inwiefern die Digitalisierung nicht nur den von Walter Benjamin (1892-1940) diagnostizierten "Verlust der Aura" der Kunstwerke "im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit" und somit den Begriff des Originals hinfällig macht, sondern die Manipulationsmöglichkeiten so leicht macht, daß vordergründige Kopien als Originale ausgegeben werden (Benjamin 1977). Mit anderen Worten, wir hätten dann mit dem umgekehrten Vorgang als den von Benjamin beschriebenen zu tun: Jeder (scheinbare) token behauptet ein type zu sein. Auch hier verschärfen sich natürlich die Fragen nach dem Schutz des geistigen Eigentums. Wie
Lutz Herrschaft bemerkt, bleibt bei dieser Bestimmung des
Informationsbegriffs
offen, "inwiefern man sinnvoll sagen kann, "Information" (oder
"Informativität")
sei ein "Attribut" oder eine "Qualität" physischer Objekte"
(Herrschaft
1996, S. 175). Information ist vielmehr, auch im Falle ihrer
Verdinglichung,
wie Herrschaft in Anschluß an Erhard Oeser bemerkt, ein
"Metaprädikat",
d.h. etwas, was nicht den Dingen selbst anhaftet, sondern unser
Wissen
von den Dingen und unser praktisches Verhältnis zu ihnen
angeht
(Oeser 1976). Dieses Problem wird von den Vertreten des "kognitiven
Paradigmas"
aufgegriffen. 3.1.4 Was ist der Gegenstand der Informationswissenschaft?Die Informationswissenschaft hat für Buckland zwei Dimensionen eine technische und eine soziale. Er schreibt:
(M. Buckland: The Academic Heritage of Library and Information Science: Resources and Opportunities, 2000) 3.2 Das kognitivistische Paradigma3.2.2 Wie läßt sich der Informationsbegriff im Kontext der Informationswissenschaft eingrenzen? 3.2.3 Die Informationswissenschaft als kognitive Wissenschaft 3.2.1 Was ist der Gegenstand der Informationswissenschaft?Peter Ingwersens Ansatz geht auf Vorarbeiten von A. Debons, B.C. Brookes, J. Shera, M. Kochen und N. Belkin zurück. Debons prägte den Ausdruck informatology. Brookes entwickelte eine kognitive Sicht der Informationswissenschaft. Er bezog sich dabei auf den Philosophen Karl Popper, der in seiner Spätphilosophie von "drei Welten" sprach, nämlich der "physischen Welt" (Welt 1), der "mentalen Welt" (Welt 2) und einer "dritten Welt" des "objektiven Wissens" (objective knowledge) (Capurro 1986, S. 88 ff). Shera suchte nach einer sozialwissenschaftlichen Fundierung der Bibliothekswissenschaft. Kochen betonte, daß die Bibliotheks- und Informationswissenschaft sich nicht auf die Analyse der Prozesse von Wissensträgern einschränken, sondern daß sie Begriffe wie Information, Wissen und Verstehen in den Mittelpunkt stellen sollte. Belkin faßt den Kern der Informationswissenschaft in fünf Punkten zusammen:1.
Information betrifft menschliche kognitive Kommunikationsprozesse
Ingwersen
vertieft und erweitert diesen Ansatz wie folgt:
3.2.2 Wie läßt sich der Informationsbegriff im Kontext der Informationswissenschaft eingrenzen?Was versteht aber Ingwersen genau unter Information im Kontext der Informationswissenschaft? Er sucht eine Eingrenzung dieses Begriffs, die ihm erlaubt, diese fünf Elemente zu berücksichtigen. Er ist sich ferner bewußt, daß die Art und Weise, wie die Informationswissenschaft Information analysiert, nicht die einzige ist, denn zum Beispiel auch die Linguistik, die Pädagogik, die Informatik und die Psychologie beschäftigen sich damit. Schließlich möchte er keineswegs die Frage nach dem medialen Träger von Information und das damit zusammenhängende Problem der Konservierung und Tradierung dieser Träger (und ihrer Inhalte!) außer acht lassen. Diese Frage spielt bekanntlich eine herausragende praktische Rolle in Bibliotheken und Archiven und sie stellt sich heute dringender denn je, nämlich in Zusammenhang mit der Digitalisierung und den neuen Medien.Besondere Aufmerksamkeit richtet Ingwesen auf die Frage nach der gewünschten Information (desired information) und auf das damit zusammenhängende Problem der Relevanz. Der Wunsch nach Information hat, so Ingwersen mit Hinweis auf Claude Shannon, mit Ungewißheit zu tun. Der deutsche Informationswissenschaftler Gernot Wersig hatte in den frühen 70er Jahren Information als Reduktion von Ungewißheit aufgrund von Kommunikationsprozessen definiert (Wersig 1971; Capurro 1976, S. 234ff). Wersig legt aber, so Ingwersen, den Schwerpunkt auf den Empfänger der Information, anstatt alle Komponenten des Kommunikationsprozesses zu berücksichtigen (Ingwersen 1992, s. 27). Ingwersen knüpft an den von Wersig eingeführten Begriff der "problematischen Situation" sowie an Nicholas Belkins Konzept des anomalous state of knowledge (ASK) ("anomaler Wissenszustand") an, wobei unter "anomal" so etwas wie "außerhalb des Gewöhnlichen" oder "nicht der Norm entsprechend", jedenfalls eine unbefriedigende Situation verstanden wird, woraus der Wunsch nach Information entsteht. Ferner bezieht er sich auf Fritz Machlups Auffassung, daß es sich beim Informationsprozeß um einen kognitiven Prozeß handelt, bei dem ein Informationserzeuger (generator) einen Einfluß auf den Empfänger ausübt, und zwar aufgrund einer sinntragenden Botschaft (a meaningful message) (Machlup 1983). Nach Belkin sprechen wir von Information eines Textes, wenn der Erzeuger ihn aufgrund des "anomalen Wissenszustandes" des Empfängers verändert. Diese Auffassung trägt, so Ingwersen, der Rolle des Informationswunsches (desired information) Rechnung. Für Ingwersen ist aber fraglich, ob zum Beispiel Texte immer in Zusammenhang mit einer genauen Kenntnis des "anomalen Wissenszustandes" des Empfängers modifiziert werden. Ein Informationserzeuger kann stattdessen eine ungefähre Kenntnis des "anomalen" Wissenszustandes seiner potentiellen Leser haben. Anstatt von "Anomalie" zieht Ingwersen die Rede von Ungewißheit, Unvollständigkeit oder Nicht-Adäquatheit vor. Er bejaht auch die Möglichkeit einer allgemeinen oder ungefähren Kenntnis der Wissensstruktur zum Beispiel einer Gruppe von Informationsempfängern. Grundlegend für Ingwersen ist die Einsicht, daß Informationsprozesse - gleich ob bei Menschen oder Maschinen - durch ein System von Kategorien oder Begriffen vermittelt werden, die ein Weltmodell darstellen. Dies steht in Zusammenhang mit der kybernetischen Auffassung von Information, wonach Information erst in Zusammenhang mit der Veränderung der Systemstruktur stattfindet. Information, so Ingwersen in Anschluß an Brookes und Belkin, ist das, was eine subjektive oder verobjektivierte Wissensstruktur modifiziert (Ingwersen 1992, S. 31). Eine wichtige Schlußfolgerung ist die, daß dieselbe Information unterschiedliche informationelle Auswirkungen haben kann, je nach Wissensstruktur. Ingwersens Terminologie ist hier ungenau. Er spricht später von data. Entscheidend ist aber, daß eine Veränderung des Wissenszustandes stattfindet. Aus der Sicht des Empfängers ist Information potentielles Wissen. Für den Informationserzeuger sind die Empfänger auch potentielle Empfänger. Nicht wahrgenommene Informationen bleiben Daten (data) für den Empfänger, der sie nicht wahrnimmt und potentielle Informationen für andere mögliche Empfänger. Im Falle eines maschinellen Systems, können wir metaphorisch von Information sprechen, sofern sie nämlich kognitive Strukturen eines menschlichen designers enthalten. Ingwersen
faßt die Eigenschaften seines informationswissenschaftlichen
Informationsbegriffs
folgendermaßen zusammen:
Mit
anderen Worten, Information im Kontext der Informationswissenschaft hat
mit menschlicher Kommunikation zu tun, und zwar sofern diese
aufgrund
dokumentierter potentieller Information (recorded potential
information)
stattfindet. Die Informationswissenschaft bewegt sich stets auf einer semantischen
und pragmatischen Ebene. Sie untersucht im Medium der
Sprache
die Art und Weise wie diese Prozesse der Wissensänderung
stattfinden.
Die Analyse kann z.B. auf der Basis von Äußerungen von
Benutzern
stattfinden oder auch aufgrund der Beobachtung ihres Verhaltens. Dabei
sind Informationssysteme und ihre Komponenten - z.B. eine
Klassifikation
- potentielle Informationen in bezug auf ihre Auswirkung auf die
Benutzer.
Der Wunsch nach Information läßt sich auf
unterschiedlicher
Weise durch einen Vermittlungsmechanismus darstellen. 3.2.3 Die Informationswissenschaft als kognitive WissenschaftDie Informationswissenschaft ist eine kognitive Wissenschaft, d.h. sie beschäftigt sich mit Wissen und Wissensveränderungen aufgrund von Informationsprozessen und dabei insbesondere:mit Informationssuche (information seeking) mit dem Design von Information-Retrievalsystemen (IR systems design) mit Interaktions- und Navigationsmechanismen (IR = information retrieval) mit Analyse und Bewertung der Wirkung von Informationssystemen auf die Nutzer (information management) mit der Messung der Wirkung von Information auf die Gesellschaft (informetrics) Die Analyse der Suche nach Information (information seeking) stellt für Ingwersen den Kern der Informationswissenschaft dar. Mit anderen Worten, erst wenn wir wissen, welche Information z.B. eine bestimmte Gruppe von Menschen sucht oder wünscht, können wir daran gehen und die passenden Informationssysteme entwerfen, Interaktionsmechanismen gestalten, ihre Auswirkungen untersuchen usw. Ingwersen trennt sich hiermit kritisch von der physikalistischen Tradition der Informationswissenschaft, die, unter dem Einfluß der Shannonschen Informationstheorie, nicht nur die semantische Dimension ausklammerte, sondern davon ausging, daß Dokumente "Informationen enthalten", die dann mit Hilfe maschineller Methoden "gemessen" werden können, worauf wir in der Einleitung zu diesem Modul (Cranfield-Experimente) hingewiesen haben. Er distanziert sich auch von der rationalistischen Tradition, sofern diese nur die linguistische Dimension berücksichtigte, den Erkenntnisprozeß selbst aber und somit den kognitiven Standpunkt unbeachtet ließ (Ingwersen 1995, S. 160). Ingwersens Ansatz steht hiermit in der Nachbarschaft einer hermeneutischen Sichtweise von Information und Informationswissenschaft, worauf wir im vierten Abschnitt eingehen werden. Zur
Vertiefung: 3.3 "Cybersemiotics"3.3.2 Konsequenzen für die Informationswissenschaft 3.3.1 Kybernetik und SemiotikSøren Brier knüpft an den kognitivistischen Ansatz von Belkin und Ingwersen an. Er tut aber dies aus der Sicht der Kybernetik zweiter Ordnung sowie der Semiotik von Ch. S. Peirce (Brier 1996). Mit Ingwersen teilt er die Ansicht, daß im Mittelpunkt der Informationswissenschaft die Frage nach dem "intellektuellen Zugang" (intellectual access) zur Information steht, im Gegensatz zu der Frage nach dem "physischen Zugang" (physical access) zu Dokumenten (Brier 1996, S. 301). Die Frage nach dem "intellektuellen Zugang" betrifft das Problem von Umfang und Relevanz sowie auch des Zugangs zu Informationen im richtigen Augenblick und am richtigem Ort.Brier
hat einen zugleich kybernetischen und semiotischen Ansatz - daher der
Ausdruck
cybersemiotics - in Auseinandersetzung mit drei
informationswissenschaftichen
Paradigmen (Griech. paradeigma = Beispiel, Vorbild) oder
Modellen
entwickelt, nämlich: Somit knüpft Brier an die Kybernetik zweiter Ordnung von Gregory Bateson, Heinz von Förster, Humberto Maturana, Francisco Varela und Niklas Luhmann an. Ferner bezieht er sich auf die Semiotik des amerikanischen Pragmatisten Charles S. Peirce (1839-1914). Für Peirce haben Zeichen eine triadische Struktur: Sie beziehen sich auf etwas und brauchen zugleich einen Interpreten (interpretant), der den Zusammenhang dieser Zeichen zu einer kulturellen Zeichenganzheit herstellt. Ein Zeichen steht für ein Objekt in einer bestimmten Sicht. Diese Sicht bestimmt, welche Differenz eine Differenz für den Interpreten ausmacht. Diese Sicht kann zum Beispiel das Ziel einer (wissenschaftlichen) Untersuchung sein. Peirce faßt diese Zusammenhänge zwischen Zeichen, Gegenstand und Interpreten im Sinne eines Prozesses auf (Brier 1996, S. 328). So
wie also das Objekt in einer triadischen Semiotik nicht das Objekt "an
sich", sondern die Sicht eines Objektes meint, so ist auch
unter
dem "Interpreten" (interpretant) nicht eine Person (interpreter),
sondern die Auslegung des Zeichen in einem bestimmten Kontext gemeint.
Was Zeichen in einer Triade ist, kann wiederum Gegenstand in einer
anderen
Triade werden. Diese Art von Semiotik läßt sich nahtlos mit
einer Kybernetik zweiter Ordnung verbinden, wonach Bedeutung erst in
Zusammenhang
mit einem autopoietischen oder sich selbst organisierenden System
entsteht. 3.3.2 Konsequenzen für die InformationswissenschaftFür Brier ergeben sich hier unmittelbare Konsequenzen für informationswissenschaftliche Fragen. Wenn wir zum Beispiel nach der Bedeutung eines Schlagwortes oder eines Deskriptors (index term) fragen, dann wird aus diesem Zeichen ein Gegenstand, worauf wir mit unseren Fragen hinweisen. Der Nutzer, der sich in der Rolle eines Interpreten befindet, kann wiederum Gegenstand einer Nutzeranalyse werden usw. Mit anderen Worten, Zeichen existieren nie isoliert, sondern sie sind immer in ein semiotisches Netz (semiotic net) eingebettet.Brier sieht hier Parallelen zum hermeneutischen Begriff des Interpretationshorizontes, worauf wir noch eingehen werden. Der semiotische Interpretationsprozeß ist im Prinzip unendlich. Peirce spricht von einer "unendlichen Semiose" (unlimited semiosis). Es ist dieser Prozeß, so Brier, und nicht die mögliche lexikalische Fixierung - zum Beispiel in Form von Klassifikationen oder Thesauri -, der die Bedeutung von Zeichen möglich macht. Brier zieht in Anschluß an D.C. Blair eine andere wichtige Konsequenz für die Informationswissenschaft, nämlich, daß es keine notwendige und vollständige Darstellung oder Wiedergabe eines Textes, etwa in Form einer Kurzfassung, gibt. Auch der Volltext stellt eine Auswahl der möglichen Inhalte oder Perspektiven dar. Das entscheidende Beurteilungskriterium für die Qualität von Informationen ist nicht die "Korrektheit" (correctness), sondern die "Adäquatheit" (appropriatness) (Blair 1990). Wir stehen hier in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus und, so Brier, auch in der Nachfolge von Ludwig Wittgensteins (1889-1951) "Sprachspielen" und "Lebensformen" als Rahmen für die Ermittlung von Wortbedeutungen. Brier sieht von hier aus die Möglichkeit einer dynamischen und sozial-orientierten Analyse von Wissensstrukturen in Zusammenhang mit Fachgebieten oder Berufsgruppen, sofern diese nämlich durch das Streben nach Stabilität ihrer Grundbegriffe und -interessen andere Aspekte unterschlagen oder vernachlässigen. Die Bezüge dieses Ansatzes zu den wissenschaftstheoretischen Ansichten des amerikanischen Wissenschaftshistorikers Thomas S. Kuhn sowie zur hermeneutischen Theorie des Vorverständnisses werden hier auch explizit erwähnt. Welche
Auswirkungen hat die Cybersemiotics auf die Auffassung von
Information?
Brier schlägt folgende Veränderungen in der von Buckland
vorgelegten
Matrix vor:
Vier Arten von Information nach Brier (in Anschluß an Buckland) (Brier 1996, S. 334)Die "nicht-physikalischen" Aspekte der Information betreffen also jetzt interpretatorische Prozesse und deren Ergebnisse. Die "physikalisch" faßbaren Dimensionen beziehen sich auf Dokumente sowie auf die Verarbeitung der Zeichen als Signale. Brier betont, daß für Buckland die Arten von Information auf der linken Seite sich "im Kopf" der Leute befinden, so daß nur sie selbst dazu Zugang haben. Ingwersen hatte bereits argumentiert, daß wir unterschiedliche Informationswünsche typifizieren können zum Beispiel aufgrund sozialwissenschaftlicher Analysen von Benutzeraussagen und -verhalten. Auf der rechten Seite der Matrix wird jetzt ausdrücklich festgelegt, daß Dokumente nur potentielle Information enthalten, die eines Interpretationsprozesses innerhalb eines bestimmten Fachgebietes, eines "Horizontes" oder eines "Interesses" bedarf. In Informationsprozeß als ein Interpretationsprozeß, der auf der Basis eines Dokumentes stattfindet, wird qualitativ vom mechanischen Prozeß der Zeichen- oder Signalverarbeitung unterschieden Der von Brier benutzte Ausdruck von "mechanical information processing" ist hier mißverständlich oder nur metaphorisch gemeint. Denn, wie Brier anschließend betont, einen Übergang von der maschinellen zur menschlichen Informationsverarbeitung und somit eine Substitution des Menschen durch eine Maschine ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Während bei klassischen Dokumentationssystemen - zum Beispiel bei Fachdatenbanken - die Interpretationshorizonte im System mit denen der Nutzer weitgehend übereinstimmten, ist dies im Falle einer universalen Vernetzung wie im Internet viel schwieriger zu erreichen. Die
Kernfrage der Informationswissenschaft, nämlich die des intellektuellen
Zugangs zur Information steht vor neuen Herausforderungen. Brier
denkt
vor allem an die Notwendigkeit von Nutzerorientierten Informationssystemen,
wie wir sie heute zum Beispiel in Form von Intranets entwerfen.
Dafür bietet wiederum die Hermeneutik einen möglichen
theoretischen
Rahmen. Zur
Vertiefung: 3.4 Informationshermeneutik3.4.2 Langefors' "informologischer" Ansatz 3.4.3 Henrichs semiotisch-hermeneutischer Ansatz 3.4.4 Hermeneutik der Fachinformation 3.4.5 Der informationswissenschaftliche Relevanzbegriff aus hermeneutischer Sicht 3.4.1 Was ist Hermeneutik?Meine Untersuchungen zum Informationsbegriff begannen mit einer Analyse seiner etymologischen und ideengeschichtlichen Entwicklung (Capurro 1978). Ich faßte den informationswissenschaftlichen Informationsbegriff in der Einheit von zwei Momenten, nämlich des ontologischen und des erkenntnistheoretischen auf. Sie entsprechen jeweils dem, was Buckland mit "information-as-thing" und Ingwersen mit "kognitiver" Sicht thematisieren. Was ist Information?"Information ist das dokumentarisch vorhandene Wissen, sofern dieses dem Benutzer zugänglich bzw. "nützlich" gemacht wird (Information als kommunizierbares Wissen)" (Capurro 1978, S. 293).Im Folgenden sollen zunächst einige Hauptgedanken meiner Schrift: "Hermeneutik der Fachinformation" (Freiburg/München 1986) wiedergegeben werden. Am Schluß soll auch auf die aktuelle Diskussion hingewiesen werden. "Die gegenwärtig modernste Methode zur Verarbeitung, Speicherung, Wiederfindung und Verbreitung von (schriftlich) fixierten Fachinformationen, nämlich das "Information Retrieval", wirft eine Reihe von Fragen auf, die in der philosophischen Diskussion unter die Rubrik "Hermeneutik" fallen. Die Hermeneutik befaßt sich mit dem Verstehen und sie hat, bevor sie zu einer allgemeinen bzw. philosophischen Hermeneutik entwickelt wurde, diese Fragen in Zusammenhang mit der Interpretation von "klassischen" Texten (insbesondere theologischen, aber auch literarischen, juristischen usw.) eingehend thematisiert: aus den Fragen, die z.B. die Interpretation von juristischen Texten aufwarf, entwickelte sich eine juristische Hermeneutik usw. Von hier aus ist es verständlich, daß, wann immer die Auseinandersetzung mit dem schriftlich Fixierten im Mittelpunkt steht, eine dem jeweiligen Textinhalt entsprechende Hermeneutik entsteht, wobei es unwichtig ist, ob die behandelten hermeneutischen Fragen ausdrücklich unter diesem namen erörtert werden oder nicht. Sammlung, Auswertung, Verarbeitung, Speicherung, Wiederfindung, Vermittlung und Nutzung von Fachinformationen weisen auf eine lange Geschichte hin, die aber nicht Gegenstand dieser Untersuchungen ist. Unser sogenanntes Informationszeitalter kann u.a. als solches mit Recht gekennzeichnet werden, nicht weil es so etwas wie Information oder Fachinformation in früheren Epochen nicht gab, sondern weil diese Sachverhalte in unserer Zeit besonders frag-würdig geworden sind. Der Verlust an Selbstverständlichkeit ist das Kennzeichen einer hermeneutischen, d.h. interpretationsbedürftigen Situation. Fachinformation als hermeneutische Frage? Das betrifft die Frage nach ihrem Verstehen und unser Selbstverständnis. Wenn heute die Prozesse der Produktion, Vermittlung und Nutzung von Fachinformation sich in einem nicht nur technologischen Umbruch befinden, dann ist das nicht einem "blinden Fortschritt" zuzuschreiben (obwohl es in diesem Bereich an "Fortschrittsgläubigkeit" nicht mangelt), sondern einer (vermutlich sich lange anbahnenden) Änderung des Verhältnisses des Menschen zu diesem Sachverhalt. Worauf diese Änderung zurückzuführen ist, ist eine weitere hier nicht zu erörternde Frage. Worin diese Änderung besteht, sofern sie heute mit dem Begriff der Fachinformation zum Ausdruck kommt, kann vielleicht im Laufe der folgenden Untersuchungen deutlicher werden. In diesem Falle könnten wir auch mit der Fragwürdigkeit unseres Bezuges zur Sprache als Information besser fertig werden. Die Ausarbeitung dieses Bezuges seitens einer Hermeneutik der Fachinformation versteht sich als ein Beitrag dazu." (Capurro 1986, 9-10) Die
erste Entwürfe einer Informationshermeneutik wurden in den 70er
Jahren
vom schwedischen Informatiker B. Langefors sowie von den deutschen
Informationswissenschaftlern
und Philosophen Alwin Diemer und Norbert Henrichs ausgearbeitet.
3.4.2 Langefors' "informologischer" Ansatz"Zwei Grundfragen stellen sich, nach Langefors, in Zusammenhang mit dem Aufbau von Informationssystemen:1)
welche Information soll das System erbringen, die den Bedürfnissen
der Benutzer entspricht? (das "infological problem"),
Dieser Fragestellung liegt der Unterschied zwischen Information im Sinne von Wissen ("knowledge") und Daten im Sinne von physikalischen Symbolen ("physical symbols") zugrunde. Im ersten Falle bewegen wir uns auf der "infologischen" im zweiten auf der "datalogischen" Ebene. Es geht, mit anderen Worten, um den Unterschied zwischen Daten, die vom Computer verarbeitet werden, und Informationen, die erst durch die begrifflichen Vorstellungen bzw. durch die (Vor-)Verständnisse der Benutzer ("conceptions of the users") konstituiert werden. Langefors spricht auch von "Referenzrahmen" ("frames of reference"), wobei der allgemeine Bezug individueller Referenzrahmen die gemeinsame Wirklichkeit ist." (S. 50-51) "Die Hermeneutik, schreibt Langefors, beschäftigt sich mit dem Verstehen ("understanding") von Texten, Mitmenschen und dem eigenen In-der-Welt-sein. Demnach ist die Frage, welche spezifischen Daten Information für eine bestimmte Gruppe von Menschen darstellen können bzw. welche Daten uns über bestimmte Phänomene informieren, eine echte hermeneutische Frage. Sie schließt auch die Frage, wie diese Phänomene wahrgenommen und verstanden werden können, ein. Der infologisch-hermeneutische Ansatz gründet in der Ansicht, daß die Information I nicht bloß durch Daten, sondern auch durch die kognitive bzw. semantische Struktur S konstituiert wird. Dazu gehört ferner auch die Zeit t, die notwendig ist, um die Daten zu empfangen bzw. zu interpretieren. Demnach ist wobei i der Verstehensprozeß ist.I = i (D, S, T) Daraus folgt, daß Daten noch keine Informationen sind und daß nicht jede Information jedem verstehenden Subjekt vermittelt werden kann. Texte "enthalten" also keine Informationen, sondern können einen Informationsprozeß in Gang setzen, wenn eine "empfangende Struktur" da ist." (Capurro 1986, 51-52) 3.4.3 Henrichs' semiotisch-hermeneutischer Ansatz"Methodisch geht Norbert Henrichs zunächst von einem eingeschränkten Wissensbegriff, nämlich von "Wissen im objektivierten Sinne", aus. Objektiviertes Wissen ist durch zwei Momente gekennzeichnet: Darstellung bzw. (schriftliche) Fixierung und Systematisierung bzw. Kontextualisierung. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der öffentlichen Zugänglichkeit und Verfügbarkeit, die, wenn auch nicht immer faktisch, doch prinzipiell gewährleistet ist. Dieser Wissensbegriff ist aber insofern eine Abstraktion, so Henrichs, als hier der Mensch ausgeklammert ist. Wenn wir die Intersubjektivität berücksichtigen, sprechen wir von Information bzw. vom objektivierten Wissen als potentieller Information. Die Organisation der Informationsvermittlung bildet der Gegenstand der Informationswissenschaft." (Capurro 1986, 62)"Hermeneutisch
betrachtet stellt sich die Frage, wie "die vom Vorverständnis
des
Benutzers diktierte Frageformulierung in die Sprache des Thesaurus
zu transformieren" ist. Dabei geht es u.a. um die Möglichkeiten
und
Grenzen von Thesauri für die Suche im Dialog-Retrieval-Systemen
mit
der damit zusammenhängenden Frage der Relevanz des
Retrieval-Ergebnisses."
(Capurro 1986, 63) 3.4.4 Hermeneutik der FachinformationMitte der 80er Jahre beschäftigte ich mich mit der Bedeutung der Theorie von Interpretationsprozessen oder Hermeneutik für die Wiedergewinnung von elektronisch-gespeicherten Fachinformationen in Anschluß an Ansätze von Alwin Diemer und Norbert Henrichs (Capurro 1986). In den Geisteswissenschaften hat die Hermeneutik (Griech. hermeneuein = verkünden, dolmetschen, auslegen, interpretieren) eine lange Tradition. In diesem Jahrhundert wurde sie durch Hans-Georg Gadamer (1900-) in Anschluß an Martin Heidegger (1889-1976) zu einer philosophischen Disziplin entwickelt (Gadamer 1975). Der Schweizer Psychiater Medard Boss (1903-1990) zog daraus Schlüsse für eine Grundlegung des Menschenbildes im medizinischen und psychologischen Bereich und wurde zum Begründer der Daseinsanalyse (Boss 1975).Ich
entwickelte auf dieser Basis eine "Hermeneutik der Fachinformation" (Capurro
1986) und nahm dabei zunächst gegenüber drei
Auffassungen
von Information kritisch Stellung: Die erste These findet sich mit unterschiedlichen Varianten in klassischen realistischen Erkenntnis- und Wissenstheorien aber auch in der Auffassung des Dialektischen Materialismus, wonach Information die Wirklichkeit widerspiegelt. Die zweite These ist die von den Kognitivisten kritisierte Vorstellung von Information als etwas, was unabhängig von einem menschlichen Erkenntnisprozeß etwa zwischen zwei Maschinen sich vollziehen kann. Die dritte These schließlich gibt die von Buckland vertretene Auffassung von "information-as-thing" wieder. Meine Kritik stimmt mit der von Ingwersen überein, daß wir dabei nur von "potentieller Information" sprechen können. Meine Untersuchung ging von der Einsicht in die zunehmende soziale Bedeutung der wissenschaftlich-technischen Information in einer modernen Gesellschaft aus. Der Prozeß der fachorientierten Wissensmitteilung stand Anfang der 80er Jahre unter dem entscheidenden Einfluß des Computers. Die wissenschaftliche computergestützte Kommunikation lieferte das Modell für unsere heutige Informations- und Wissensgesellschaft. Der Ausdruck Fachinformation, der sich zunächst auf naturwissenschaftliche Gebiete bezog, wurde immer mehr ausgedehnt, je mehr Datenbanken aus den unterschiedlichsten Gebieten produziert und online angeboten wurden. Bereits das IuD-Programm der Bundesregierung 1974-1977 hatte als Ziel die Abdeckung aller Wissensgebiete (BMFT 1975). Der Wissenschaftstheoretiker Helmut Spinner hat für einen umfassenden Wissensbegriff die Formel von Wissen "aller Arten, in jeder Menge, Güte und Zusammensetzung" geprägt (Spinner 1998, S. 104). Zugleich stellte sich immer dringender die Frage nach Erschließungs- und Suchmethoden - die notwendigerweise Interpretationsvorgänge sind - für die im Computer gespeicherten Fachinformationen. Es lag auf der Hand die durch die Informationswissenschaft aufgeworfenen Fragen des information retrieval aus der Sicht einer allgemeinen Theorie der Interpretation zu analysieren. Eine solche Theorie unter dem Titel Hermeneutik lag zwar, mit einer langen Vorgeschichte, vor, sie hatte aber keinen Bezug zu den computertechnischen Problemen. Andererseits fehlte meines Erachtens der informationswissenschaftlichen Analyse eine philosophisch-anthropologische und insbesondere eine darin gründende hermeneutische Grundlage. Auf
der Basis hermeneutischer Einsichten lassen sich folgende Aspekte
menschlichen
Verstehens ausarbeiten:
Der
dritte Grundzug schien mir genau auf die von Gernot Wersig und von den
Kognitivisten hervorgehobene Bedeutung der "problematischen Situation"
oder des "anomalen" Fragezustandes zu treffen. Aufgrund der immer
bleibenden
Fragwürdigkeit unserer theoretischen und praktischen Entwürfe
läßt sich dieser Ansatz auch mit der semiotischen Einsicht
in
die "unendlichen" Arbeit der Interpretation vereinbaren.
Zum Informationsbegriff in diesem Kontext gehören, wie Peter Janich in seiner kulturalistischen Auffassung des Informationsbegriffs mit Recht hervorhebt, die Aspekte des Aufforderns, Verstehens und Geltens, sowie, ferner, die der Neuheit und der Relevanz. Nicht alle Formen des Redens sind also Informationen - eine Bitte oder ein Befehl sind keine Informationen - und auch nicht alle Formen von Aussagen, sondern nur die, die sich als Antwort auf eine Frage verstehen und dabei den Kriterien der Neuheit und Relevanz entsprechen. Auch und gerade für eine hermeneutische Grundlegung der Informationswissenschaft lautet die Grundfrage der Informationswissenschaft: Wie ist der intellektuelle Zugang zur Information, d.h. zum expliziten Wissen möglich? Diese Frage läßt sich aber nur zureichend beantworten, wenn das Verhältnis zwischem implizitem und explizitem Wissen berücksichtigt wird. Wenn
die Frage nach dem intellektuellen Zugang zur Information globale
technische
Ausmaße annimmt, wie es bei der heutigen digitalen
Weltvernetzung
der Fall ist, werden die hermeneutischen Probleme nicht nur
größer,
sondern in gewisser Weise auch unbeherrschbar. Wir haben dann
nicht
nur mit den Grenzen des Verstehens, sondern auch mit den Grenzen
der Hermeneutik zu tun (Capurro
1995). Es wird dabei dann deutlich(er), dass die Frage nach dem
Zugang
zur Information nicht nur intellektueller, sondern zugleich ethischer
Natur ist, worauf wir im Modul
8 eingehen werden. 3.4.5 Der informationswissenschaftliche Relevanzbegriff aus hermeneutischer SichtIn seinem Aufsatz: "Relevance Reconsidered - Towards an Agenda for the 21st Century: Introduction to Special Topic Issue on Relevance Research" (Journal of the ASIS 45 (3) 1994, 124-134) faßt Thomas Froehlich (School of Library and Information Science, Kent State University) die Relevanzproblematik im Information Retrieval aus hermeneutischer Sicht folgendermaßen zusammen:
The notion that has come to signify the role of interpretation in various disciplines is hermeneutics. (...) In information retrieval we have an overall hermeneutic or interpretation that centers on the relation of the information collection and the end-users, as mediated by the information system. Looked at from the perspective of the total hermeneutic, researchers are trying to study the collective set of interpretations that end-suers may bring to information systems, the collective set of interpretations that place a document and document surrogate in a system, and the mediation that is supposed to facilitate the coincidence of those interpretations. While all three of these aspects are intrinsically and dynamically connected, one can analyze it under three aspects: the hermeneutic of users, their needs and representations; the hermeneutic of the information collection and its representation and/or surrogation; and the mediation either directly through the system or through an intermediary through the system. With regard to the user hermeneutic, the users have to interpret their needs to and for themselves, for intermediaries, and for the system. This interpretation involves the relation of the user to his/her subject matter (the consious and unconscious horizon within which the need takes place and is articulated), his/her context and the object of investigation. However, many of the structures by which and through which users make judgements are mediated by their professional education and training in their subject domain, just as the base mental model of the prototypical attorney that Sutton develops is a set of interpretations about core areas of law. Given a particular case to defend, based upon the original interpretation of the core area of law relevant to his case (an interpretation fostered by a shared methodology and enforced through testing processes), he has to interpret the significance or priority of cases already tried, based in anticipation of the court's interpretation. Thus the focus of specialized systems is the prototypical user: given a particular subject matter or domain, the end-user invokes shared norms or criteria, those shared among those who work in a subject matter or domain.That is, systems canbe built on prototypical users related to common tasks (e.g., seeking textual information in an academic library for research purposes) or to an epistemic community: communities of researchers or scientists who share common criteria for the emergence of knowledge (or what comes to be regarded as knowledge at a particular point in time: the orthodoxy). Birger Højrland (1993) sees these as "discourse communities," and information systems, rather than modeling individual cognitive processes, would model knowledge domains, disciplines or trades. However, rather than focusing on the discipline per se as Højrland seems to do, it would seem more appropriate to focus on the prototypical user in that domain, discipline, or trade, addressing the kinds of criteria that prototypical users engage in that domain. Like an earlier essay by Froehlich (1989), Højrland sees social epistemology or the sociology of knowledge as critical for analyzing these discourse communities. Such a view seems similar to or consitent with Robert Taylor's (1986) information use environments (IUEs). An analysis of information use environments must explore this dialectic between the prototypical user's profession and his or her information traits and needs as understood through a certain framework or set of frameworks, e.g. professional or discipline standards. In addition to the hermeneutic of the prototypical user there is also the hermeneutic of placing the document or text in the information collection. In this hermeneutic, one must understand how a document or text comes to be chosen for the collection (interpreted to be suitable to their prototypical users by information database producers), then abstracted and indexed (interpreted in terms of a subject classification scheme, itself an interpretation of the subject matter), thorugh which indexing terms are assigned. Even the availability and indexing of full-text is an act of interpretation: the relation of the document to its subject matter may or may not conform to the orthodox language in the subject field or to the system vocabulary or to the subject classification. Clearly, the assumptions made about prototypical users by information collection producers affect the efficiency or possibility of retrieval of appropraite citations or text for the user's need. There is a third hermeneutic, obviously intimately connected with the other two, that of system mediation, whereby the system or the system through an intermediary interprets the relation of the system to the user (need/stated query): for most commercial systems the mediation is based on string matching for coincidental words or phrases. If the user's query has a set of words (free-text) or a descriptor or set of descriptors (controlled vocabulary), those document which have the same strings will be retrieved. Such a system is obviously a weak link. But if one can generate a prototypical user model of the information system, one may be able to enhance system performance, by including additional criteria that would allow users to rank or filter output, based upon prevailing orthodox assumptions: e.g., the quality of a journal research institution. (...) If one sees relevance judgements as a process of interpretive frames or hermeneutics based upon prototypical users with finite set of criteria for relevance judgements, one may be able to evolve a better conceptual framework for designing and developing systems. Based on research that delineates prototypical hermeneutics for users or the information collections, one may be able to facilitate the mediation between the information collection and user needs. In order to give flesh to this notion, much additional theoretical and empirical work is required, too much to attempt for this introduction. Rather, what is proposed here is another approach to foster that agenda." (meine Hervorhebungen, RC) In dieser Darstellung lassen sich sowohl die drei wesentlichen Komponenten von Information bzw. Fachinformation aus hermeneutischer Sicht nämlich: - Hermeneutik der Fachgemeinschaft oder user
hermeneutic Zur Vertiefung: 1.
I.A. Hoel: Information Science and Hermeneutics: Should Information
Science
Be Interpreted as a Historical and Humanistic Science? in: Conceptions
of Librery and Information Science, Proc. of the First CoLIS Conf.,
Tampere,
Finland, 1991. P. Vakkari, B. Cronin, eds. London, 1992, 69-81.
3.5 "Information ist Wissen in Aktion"3.5.2 Rahmenbedingungen der Umwandlung von Wissen in Information 3.5.3 Informationswissenschaft im interdisziplinären Kontext 3.5.4 Der Wahrheitsgehalt von Wissen und die Eigenschaften von Information 3.5.1 Information aus pragmatischer SichtRainer Kuhlen vertritt einen pragmatischen Informationsbegriff, den er wie folgt darlegt:
Wissen und Information bedingen sich gegenseitig und zwar so, dass potentiell aktuelles Wissen sich durch den Prozess der Informationserarbeitung (Transformation 1) in Information d.h. in zum Handeln nutzbares Wissen umgewandelt wird. Und umgekehrt: Information läßt sich durch den Prozeß der Informationsverwaltung (Transformation 1) in (potentiell nutzbares) Wissen umwandeln. Die Umwandlung von Wissen in Information nennt Kuhlen "Erzeugung informationeller Mehrwerte". Die Informationswissenschaft ist somit die Theorie und Praxis informationeller Mehrwerte. Der Informationsmarkt ist der Ort der Erzeugung, Verteilung und Nutzung informationeller Mehrwertprodukte und -dienstleistungen. Neuerdings hat Kuhlen seine Definition "Information ist Wissen in Aktion" unter Berücksichtigung der Bedeutung des sog. impliziten Wissens als "Information ist Wissen in kontextualisierter Aktion" bzw. "Information als kontextualisiertes Wissen" präzisiert (Kuhlen 2001, 70). Dadurch kommt die paradigmatische Nähe dieses Ansatzes sowohl zu hermeneutischen als auch zu sozial-kognitivistischen und sozial-pragmatischen Positionen besonders zum Ausdruck. Vgl.: R.
Kuhlen: Nicht-explizites
Wissen aus der Sicht der Informationswissenschaft, In:
Forschungsinstitut
für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung (FAW Ulm) im Auftrag
des Bundesministeriums für Bildun/g und Forschung: Management von
nicht-explizitem Wissen: Noch mehr von der Natur lernen. im Auftrag des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung, März 2001, S.
69-81. 3.5.2 Rahmenbedingungen der Umwadlung von Wissen in InformationDer Vorgang der Umwandlung von Wissen in Information wird, so Kuhlen, von mehreren Kontingenzfaktoren oder Rahmenbedingungen beeinflußt, nämlich:- Individuelle
Informationsverarbeitungskapazität 3.5.3 Informationswissenschaft im interdisziplinären KontextKuhlen nennt auch eine Reihe von (weiteren) Disziplinen, die sich mit Information befassen, nämlich:- Informatik
und KI (Kuhlen 1996, 37) Die
Informationswissenschaft
rückt aber schon in ihrem Namen den Informationsbegriff in den
Mittelpunkt,
auch wenn dieser Begriff durchaus aus dem Gesichtspunkt anderer
Disziplinen
anders definiert werden kann und wird (Capurro 2000;
Capurro 1999a). Was den
informationswissenschaftlichen
Informationsbegriff auszeichnet ist, so Kuhlen, das "pragmatische
Primat"
sowie die Unterscheidung von Wissen und Information. Den nicht
weniger
kontroversen Wissensbegriff definiert Kuhlen als "den Bestand an
Modellen
über Objekte bzw. Objektbereiche und Sachverhalte, über de
nIndividuen
zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügen bzw. zu dem sie Zuganghaben
und der mit einem zu belegenden Anspruch für wahr genommen wird."
(Kuhlen 1996, 38) Problematisch an dieser Definition ist die Einengung
won Wissen auf das explizite Wissen, also auf Wissen im Sinne von 'know
that' im Gegensatz zu 'know how', wie wir im Modul 7 erörtern
werden.
Auch der Begriff der "mentalen Repräsentationen" ist umstritten,
da
er eine Verdoppelung der Realität suggeriert und dadurch zu einem
unendlichen Regreß führt. Einen Ausweg aus dieser Frage
bietet
z.B. der hermeneutische Begriff des Vorverständnisses. Immerhin
bemerkt
Kuhlen, dass aus Daten, wie sie zum Beispiel in einem Buch enthalten
sind,
erst durch den Verstehensprozeß Wissen entstehen kann:
"Ein Buch kann deshalb nichts wissen, weil es keine Mechanismen enthält, seine eigenen Daten zu lesen und zu verstehen. Der Mensch, sofern er über das Zeichen- oder mediale Repräsentationssystem des Buches verfügt, kann dies. Ähnlich verfährt er mit maschinellen Systemen. Das maschinelle Informationssystem wird von Menschen als weitere externe Ressource benutzt, um daraus dauerhaftes Wissen zu gewinnen oder um daraus direkt verwertbare (und dann vielleicht auch wieder zu vergessende) Information zu erarbeiten." (Kuhlen 1996, 39) 3.5.4 Der Wahrheitsgehalt von Wissen und die Eigenschaften von InformationDa die Begründung und somit den Wahrheitsgehalt von Wissen sehr unterschiedlich sein kann, lassen sich Informationen aus unterschiedlichen Ebenen der "epistemologischen Skala" d.h. des unterschiedlichen Grades an Wahrheit einer Aussage ableiten oder erarbeiten. Eine solche Wissensskala sieht etwa so aus:- wahre Aussagen
Kuhlen betont, dass Information nichts über den Wahrheitswert aussagt, sondern "einer anderen Dimension angehört, in der nicht über Wahrheit ausgesagt wird. Information wird eher unter Begriffen wie Zuverlässigkeit (Reliability), Nützlichkeit, Handlungsrelevanz, Aktualität, Vollständigkeit oder Kosten diskutiert." (Kuhlen 1996, 40). Durch den Informationsbegriff sollte nicht die für die "abendländische Wissenschaftstradition begründende Unterscheidung von Doxa (Meinung) und Episteme (gesicherte Erkenntnis) verwischt (werden): Dies unterscheidbar zu halten, ist Aufgabe der Informationsprofession." (Kuhlen 1996, 40-41) Denn, wie
Kuhlen richtig
betont, der Informationsmarkt umfaßt nicht nur den Markt für
wissenschaftliche Informationen. Durch Informationen können
Aussagen
sicherer werden, wie dies schon die nachrichtentechnische Definition
von
Information im Sinne von Reduktion von Unsicherheit oder
Ungewißheit
andeutet. Information kann aber auch Unsicherheit beim Rezipienten
erzeugen:
"Information wird adressatenbezogen und damit gerichtet vermittelt, sie
ist in hohem Maße rezeptionsabhängig, d.h. von der Situation
und dem Kontext des Informationsnutzers bestimmt." (Kuhlen 1996, 41) Da
zur Situation die Zeitabhängigkeit gehört, gehören
außer
der pragmatischen Relevanz oder die Nützlichkeit, die
Aktualität
und der Neuigkeitswert zu den wesentlichen Merkmalen von Information.
Kuhlen zieht
daraus die Schlußfolgerung,
dass für den Informationsmarkt, die Informationsgüter auf die
individuellen Nutzungsanforderungen zugeschnitten sein sollte:
"Der Informationsmarkt lebt von der Vielfalt der Informationsprodukte und - dienstleistungen bzw. von den Möglichkeiten, Wissen auf höchst diversifizierte Weise bereitzustellen. Betrachtet man diese Entwicklung durch den Informationsmarkt aus kulturkritischer Sicht, so wird man zweifellos zu dem Ergebnis kommen, daß der Anstieg der Wissensproduktion keineswegs parallel zum Anstieg der Informationsprodukte verläuft." (Kuhlen 1996, 42).Mit anderen Worten, was schon für das Gutenberg-Zeitalter zutraf, nämlich die Schaffung von Redundanz durch die gedruckte Wissensverteilung, potenziert sich durch weltweite elektronische Wissensmärkte. Chancen und Risiken dieser Entwicklung sind Gegenstand der Informationsethik, worauf wir im Modul 8 eingehen werden. 3.6 Domain analysis3.6.2 Philosophische Analyse und empirische Wissenschaft 3.6.1 Was bedeutet "domain analysis"?Hier sind die Arbeiten der dänischen Informationswissenschaftler Birger Hjørland und Hanne Albrechtsen zu erwähnen.Im
Mittelpunkt dieses Ansatzes steht der Begriff des knowledge domain.
bzw. des domain analysis. Kognitive Prozesse vollziehen
sich
nach Hjørland und Albrechtsen nicht im Kopf eines (isolierten)
Subjektes,
sondern sie sind sozialer und kultureller Natur. Erkenntnis gibt es nur
auf der Basis eines mit anderen geteilten (Fach-)Gebietes. Sie
schreiben:
The domain-analytic paradigm is thus firstly a social paradigm, conceiving of IS as one of the social sciences, promoting a social psychological, a sociolinguistic, a sociology of knowledge, and a sociology of science perspectives on IS. The domain-analytic paradigm is secondly a functionalist approach, attempting to understand the implicit and explicit functions of information and communication and to trace the mechanisms underlying informational behavior from this insight. Thirdly it is a philosophical-realistic approach, trying to find the basis for IS in factors that are external to the individualistic-subjective perceptions of the users as opposed to for example the behavioral and cognitive paradigms." (Hjørland/Albrechtsen 1995, 400) (meine Hervorhebungen) Damit
steht dieser Ansatz, wie die Autoren selbst hervorheben
(Hjørland/Albrechtsen
1995) in der Nähe hermeneutischer Einsichten, der "activity
theory" des russischen Psychologen L.S. Vygotsky, sowie des
Pragmatismus
und Konstruktivismus, und in kritischer Distanz zum Kognitivismus. Sie
stellen diesen Ansatz dem Kognitivismus folgendermaßen
gegenüber:
(Hjørland/Albrechtsen 1995, 412) Nicht also die Nutzer, sondern das (Fach-)Gebiet steht im Mittelpunkt dieses Ansatzes:
- Developing new systems of classification and indexing (or evaluate and revise existing systems - Evaluate the coverage and quality of different databases - Determine whether citation indexing is more efficient than term based indexing - Determine whether classification systems like Dewey or the UDC are obsolete - Determine whether different kinds of domains/disciplines need different kinds of indexing principles - Developing subject guides in different domains of knowledge and mapping information rescources - Examine the needs for specific information services in concrete domains (such as medicine, music or psychology) or by concrete target groups such as high school students (Hjørland 2000a, 514ff). 3.6.2 Philosophische Analyse und empirische WissenschaftHjørland macht deutlich, inwiefern die verschiedenen Auffassungen von Information und Informationswissenschaft auf zugrundeliegenden philosophischen Positionen beruhen.Er faßt diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen:
(Hjørland 2000a, 525) Hjørlands
Fazit lautet:
Philosophical positions may be implicit or explicit, recognized or unconscious. Often researcher in, for example, the hermeneutic tradition are explicit about their philosophical approach, while, for example researchers in the positivistic tradition are silent about this. Positivistic research is often silent because it conceives itself as "scientific": the only valid approach. Even the discussion of its own assumptions is often claimed to be "non-relevant" or "non-scientific". Therefore positivism is sometimes labeled "the invisible theory of science". Such a claim is of course both wrong and unscientific. The nature of science is to investigate its own assumpitions and methods." (Hjørland 2000a, 526) Literatur: Birger
Hjørland/Hanne Albrechtsen: Toward
a New Horizon in Information Science: Domain-Analysis. In: Journal
of the ASIS 46 (6) 1995, 400-425
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