EINFÜHRUNG IN DIE INFORMATIONSWISSENSCHAFT

 
Rafael Capurro
 
 
 
 

Kapitel 7: Wissensschaffung

 
 
 
 

Inhalt

7.1 Der Ansatz von Nonaka und Takeuchi 
7.2 Würdigung und Kritik 
7.3 Wissensarbeit 
7.4 Werkzeuge sozialer Kreativität in Unternehmen 
7.5 Anbieter von Knowledge-Management-Systemen 
7.6 Zur Vertiefung 
7.7 Für Fortgeschrittene 
Übungen 
 
WISSENS
MANAGEMENT
 
 
 
     
     

    7.1. Der Ansatz von Nonaka und Takeuchi

    Ist mit dem Management von explizitem Wissen bzw. Information die Frage nach den Quellen unternehmerischer Kreativität und, so möchte ich hinzufügen, von geistiger Kreativität überhaupt, beantwortet? Diesem Problem widmen sich Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi, zwei renommierte Unternehmensexperten, in ihrem Buch The Knowledge-Creating Company (1995), das 1997 in deutscher Übersetzung mit dem  Titel Die Organisation des Wissens erschienen ist. Wissensmanagement beschäftigt sich, so die Autoren, mit der Organisation von Information im Sinne des expliziten Wissens. Entscheidend für den Prozeß der Wissensschaffung ist aber das implizite Wissen. Was ist damit gemeint? 

    In seinem Buch The Tacit Dimension (1966, Dt. Implizites Wissen, 1985) hatte der Biologe und Wissenschaftstheoretiker Michael Polanyi auf die Bedeutung des impliziten Wissens (tacit knowledge) hingewiesen. Er meinte damit, "daß jeder unserer Gedanken Komponenten umfaßt, die wir nur mittelbar, nebenbei, unterhalb unseres eigentlichen Denkinhalts registrieren – und daß alles Denken aus dieser Unterlage, die gleichsam ein Teil unseres Körpers ist, hervorgeht." (Polanyi 1985, S. 10). Das implizite Wissen ist, so Polanyi, die Grundlage des sogenannten objektiven Wissens. 

    Nonaka und Takeuchi stellen den Begriff des impliziten Wissens in den Mittelpunkt ihres Modells der Wissensschaffung im Unternehmen. Gegenüber der Vorstellung, daß Wissen nur durch die Aufnahme von expliziten Informationen und deren Verarbeitung entsteht, betonen sie, dass eine Information im Sinne von "einer Nachricht von einem Unterschied" ("information is a difference that makes a difference" G. Bateson) nur in Verbindung mit konkreten Vorstellungen und Handlungen in einem dynamischen Kontext einen Sinn hat: "Information ist ein notwendiges Medium oder Material für die Bildung von Wissen" aber sie wird erst zum Wissen, wenn sie "kontext- und beziehungsspezifisch" wird (Nonaka/Takeuchi 1995, S. 70). 
     
     

    7.1.1 Wissenstypen: Implizites und explizites Wissen

    Folgende Tabelle zeigt die Eigenschaften der zwei Wissenstypen (Nonaka und Takeuchi 1997, S. 73):  
     
     
    Implizites Wissen (subjektiv) Explizites Wissen (objektiv)
     
 
     
    Erfahrungswissen (Körper) Verstandeswissen (Geist)
    Gleichzeitiges Wissen   
    (hier und jetzt)
    Sequentielles Wissen   
    (da und damals)
    Analoges Wissen (Praxis) Digitales Wissen (Theorie)
     
 

    7.1.2 Formen der Wissensumwandlung

    Die Umwandlung von impliziten zum expliziten Wissen oder, mit anderen Worten, das Explizitmachen eines impliziten Kontextes ist eine wesentliche Voraussetzung für die Schaffung neuen Wissens. In diesem Prozeß finden verschiedene Formen der Wissensumwandlung statt, nämlich:   
  • Vom impliziten zum impliziten Wissen – die Sozialisation
  • Vom impliziten zum expliziten Wissen – die Externalisierung
  • Vom expliziten zum expliziten Wissen – die Kombination
  • Vom expliziten zum impliziten Wissen – die Internalisierung.
  • Drei dieser Formen, nämlich Sozialisation, Kombination und Internalisierung, sind bisher in gängigen Organisationstheorien zu finden. Die Kombination ist wiederum eine zu lernende Kernfähigkeit von Informationsmanagern. Das Neue bei diesem Ansatz ist die Einbettung dieser Fähigkeit im Kontext unternehmerischer Kreativität. Dabei heben Nonaka und Takeuchi nicht nur die bisher unbeachtete Dimension des impliziten Wissens hervor, sondern sie stellen sie in einen dynamischen Zusammenhang mit anderen Formen der Wissensmitteilung, den sie als ein spiralförmiges Zusammenwirken auffassen. 

    Ein Beispiel aus der Praxis der Firma Matsushita in Osaka zeigt in prägnanter Weise das Zusammenwirken von implizitem und explizitem Wissen: 

    "Ein zentrales Problem in der Entwicklung eines Brotautomaten in den späten achtziger Jahren war die Mechanisierung des Teigknetens. Der Knetprozeß gehört zum impliziten Wissensvorrat von Bäckermeistern, und so verglich man anhand von Röntgenaufnahmen den gekneteten Teig eines Bäckers mit dem eines Automaten, ohne zu irgendwelchen Erkenntnissen zu gelangen. Ikuko Tanaka, die Leiterin der Abteilung Softwareentwicklung, wußte, daß es das beste Brot der Gegend in Osaka International Hotel gab. Um sich das implizite Wissen über den Knetvorgang anzueignen, gingen sie und mehrere Ingenieure beim Chefbäcker des Hotels in die Lehre. Es war nicht leicht, sein Geheimnis zu ergründen. Eines Tages bemerkte sie jedoch, daß der Bäcker den Teig nicht nur dehnte, sondern auch drehte. Durch Beobachtung, Nachahmung und Praxis hatte Ikuko Tanaka des Rätsels Lösung gefunden." (Nonaka/Takeuchi 1995, S. 76) 
     

    7.1.3 Wissensingenieure, Wissenspraktiker und Wissensverwalter

    Gemäß der Devise, daß ein Unternehmer nicht bloß explizite Informationen verarbeitet, sondern ein Erzeuger von neuem Wissen ist und somit kreativ gegenüber der Umwelt vorgeht, entwickeln Nonaka und Takeuchi ein "Middle-top-down-Modell" des Wissensmanagements im Unternehmen, wo das mittlere Management oder Wissensingenieure als Vermittler zwischen den Wissenspraktikern (Mitarbeiter und Linienmanager) und den Wissensverwaltern (Führungskräften) eine Schlüsselrolle spielt. 

    Den Wissenspraktikern ist vor allem der Kontakt mit der Umwelt (Kunden) eigen. Als "Wissenswerker"  sammeln und erzeugen implizites Wissen in Form von Fertigkeiten, die auf Erfahrungen beruhen. Dazu gehören zum Beispiel Angestellte in der Verkaufsabteilung oder Facharbeiter in der Montage. Ihre Stärke liegt darin, daß sie "mit Kopf und Händen" arbeiten. Die "Wissensspezialisten" wiederum  mobilisieren strukturiertes explizites Wissen in Form von technischen, wissenschaftlichen und anderen quantifizierbaren Daten. 

    Das Hervorbringen von Wissen beruht auf dem Zusammenwirken von kontextbezogenen, auf subjektiver Relevanz basierenden Auswahlprozessen, die in Form von Wertpreferenzen und Wunschvorstellungen meistens und größtenteils implizit bleiben. Diese Ressource zu mobilisieren und zwar sowohl bei jedem Mitarbeiter des Unternehmens als auch in seinem ganzen Umfeld bildet das Ziel dieses wissensbezogenen Ansatzes. 

    Wie läßt sich dieses Modell in einer globalisierten, auf Multikulturalität ausgerichteten Weltwirtschaft mit international agierenden Unternehmen anwenden? Wie funktioniert multikulturelle Wissensschaffung? Diesen Fragen gehen Nonaka und Takeuchi nach, indem sie anhand von Primera von Nissan und REGA von Shin Caterpillar Mitsubishi zeigen, wie sich japanische Unternehmen nicht-japanisches implizites Wissen aneignen. 

    Daraus läßt sich für die Praxis des Wissensmanagements u.a. lernen, daß etwas, was für japanische Produktentwickler notwendig und möglich war, nämlich das Kennenlernen von kulturellen, geographischen usw. Unterschieden am eigenen Leib, auch zwischen den verschiedensten Wirtschaftspartnern möglich und ebenfalls produktiv sein müßte. Bei aller berechtigten Euphorie um virtuelle Unternehmen, globalen Informationsaustausch durch Intranets und Extranets, virtual reality u.v.a.m. ist dies auch eine ernüchternde Auskunft, die den Blick des global agierenden Herstellers zugleich (!) auf Lokalität, Individualität und Leiblichkeit richtet. Höchste Qualitätsleistung erreicht man gerade im Falle industrieller Massenanfertigung durch Veränderung festgefahrener und einverleibter Vorurteile. Dies ist aber wiederum nur möglich, wenn die Bereitschaft da ist, den Standpunkt des Anderen am eigenen Leibe zu erfahren und den wahrgenommenen Unterschied explizit zu machen. 

    Mit ihrem Ansatz gehen also Nonaka und Takeuchi über die weitverbreitete   
    Vorstellung von  Wissensmanagement im Sinne von Handhabung des expliziten Wissens hinaus (Takeuchi 1998). Soeben ist eine Weiterführung dieses Ansatzes durch Von Krogh/Ichijo/Nonaka mit dem Titel Enabling Knowledge Creation erschienen (Von Krogh/Ichijo/Nonaka 2000). Im Vorwort heißt es: 

    "This is a book about knowledge enabling. It is our strong conviction that knowledge cannot be managed, only enabled." (Krogh/Ichijo/Nonaka 2000, vii)
    Gemeint ist die Einsicht, dass wir zwar Information im Sinne von explizitem Wissen managen können, dass dies aber nur Teil der umfassederen Aufgabe der Wissensschaffung (knowledge creation) darstellt. Was wir dabei tun ist dann nicht Wissen, sondern die Bedingungen der Wissensschaffung zu managen.  
     
     

    7.2 Würdigung und Kritik

    Im Jahr des Erscheinens der deutschen Übersetzung des Buches von Nonaka und Takeuchi gab die Unternehmensberatung Wieselhuber & Partner das Handbuch Lernende Organisation heraus (Wieselhuber 1997), in dem namhafte deutsche Firmen auf die Bedeutung von Lernprozessen als Instrument des Unternehmungswandels hinwiesen und sich dabei auf den Ansatz von Nonaka und Takeuchi bezogen. Im Folgenden gehe ich auf die theoretische Rezeption dieses Ansatzes ein. 
     

    7.2.1 Organisationale Wissensbasis und Lernprozesse

    Schreyögg und Noss (Institut für Management, Freie Universität Berlin) (Schreyögg/Noss 1997) fassen Unternehmen als Wissenssysteme auf. Neues Wissen entsteht im Zuge von Lernprozessen auf der Grundlage vom eigenen Wissen einer Organisation. Diese Einsicht steht der traditionellen mechanistischen Auffassung gegenüber, wonach Lernprozesse lediglich reaktiv als Resultat von Anstößen (Stimuli) stattfinden. Organisationen beruhen auf einer spezifischen "Wissensbasis" – bestehend aus Routinen, Patenten, technischen Aufzeichnungen aller Art usw. –, die dann durch Lernprozesse verändert wird. Die klassische Einteilung organisatorischer Wissenselemente unterscheidet zwischen Regel- und Faktenwissen. Zum ersten zählen kausal erklärte Zusammenhänge aller Art. Wissen ist demnach dann wirksam, wenn auf der Grundlage von Regeln der faktische Erfolg tatsächlich eintritt. 

    Diese Verknüpfung von Regelwissen und faktischem Erfolg greift aber, so die Autoren, zu kurz, da sie andere Wissensarten nicht berücksichtigt, darunter "die heute so viel diskutierte Differenz von explizitem bzw. artikuliertem und implizitem "unterschwellig" vorhandenem Wissen" (Schreyögg/Noss 1997, S. 70) Gegenüber dem von Gregory Bateson als "digitales Wissen" bezeichneten expliziten Wissen weisen Schreyögg und Noss auf die von Nonaka und Takeuchi vorgestellten Formen der Wissenskonversion hin. Sie unterscheiden zwischen drei Lerntypen nämlich: 

  • Lernen I: Veränderung des impliziten oder expliziten Wissens, "die jedoch im Rahmen bestehender Grundüberzeugungen und Basisprämissen der Organisation entwickelt wird"
  • Lernen II: "Vorherrschende Basisannahmen und Grundsätze werden in Frage gestellt und durch neues Orientierungswissen (...) ersetzt"
  • Lernen III: das "das Wissen um die Lernprozesse selbst zum Inhalt hat." (Schreyögg/Noss 1997, S. 73)
  • Die von Nonaka und Takeuchi ausgearbeiteten vier Modi der internen Wissensgenerierung in Organisationen werden in Bezug auf diese drei Lernformen gesetzt. Das Explizitmachen vom impliziten Wissen findet im Falle von Lernen II und III so statt, daß keine Zurücknahme in die Sozialisierung oder Internalisierung führt. Dies gilt ausschließlich für Lernen I. Die permanente Lernfähigkeit des Unternehmens wird durch Externalisierung und Kombination stets wachgehalten. Damit stellen Schreyögg und Noss das Spiralmodell teilweise in Frage. Sie kritisieren dabei ausdrücklich, daß die Generierung von Wissen im Spiralmodell beim Individuum beginnt und sich dann in der Gruppe sowie in der Organisation weiterentwickelt. Sie sehen als problematisch an, daß der Wissenserzeugungsprozeß beim Individuum beginnen soll. Demgegenüber betonen sie, daß der Ausgangspunkt die organisatorische Wissensbasis ist. Dieser Kritik wäre zu entgegnen, daß das Spiralmodell zwar einen solchen Ausgangspunkt suggeriert, während in Wahrheit alle vier Modi gleichursprünglich sind, so daß das implizite Wissen des Individuums immer schon seinen Ausgang in einem sozialisierten Internalisierungsprozeß nimmt, der wiederum teilweise auf externalisiertem und kombiniertem Wissen basiert.  

    Eine zweite Kritik richtet sich gegen die These, daß die Restrukturierung der Wissensbasis durch selbstgeneriertes neues Wissen den Durchgang durch alle vier Modi voraussetzt, während dies in Wahrheit nur für Lernen I zutrifft. Außerdem ist es nicht sinnvoll oder, wie ich hinzufügen möchte, notwendig – und letztlich auch in vielen Fällen nicht möglich -, immer implizites in explizites Wissen oder umgekehrt zu überführen. Es ist nur die Frage, ob dies von Nonaka und Takeuchi behauptet wird. 

    So ziehen die Autoren die Schlußfolgerung, die vier Typen der Wissenskonversion je nach Lernform unterschiedlich zu behandeln und andere Formen der Wissensgenerierung je nach Bedarf stärker zu berücksichtigen. Dazu zählen zum Beispiel der Systemvergleich im Sinne des Benchmarking, das Experimentieren oder das neugierige Suchen. Diese und andere Lernformen scheinen mir aber wiederum in das Modell von Nonaka und Takeuchi integrierbar. 
     
     

    7.2.2 Corporate Knowledge Management und das Paradigma des wissenschaftlichen Wissensbegriffs

    Essers und Schreinemakers von der Rotterdam School of Management (Erasmus University) (Essers/Schreinemakers 1997) stellen fest, daß corporate knowledge management (CKM) nicht unter dem Paradigma dessen subsumiert werden kann, was die Wissenschaftstheorie in den Worten von Karl Popper als objective knowledge bezeichnet. Im Falle eines Unternehmens wird Wissen primär im Hinblick auf seine Anwendung und Nutzung betrachtet, was wiederum eine Erweiterung des Wissensbegriffs jenseits der Grenzen wissenschaftlicher Methodik bedeutet.  

    Wenn es um das Management der Wissensschaffung geht, steht dann weniger der context of justification als der context of discovery oder der context of application im Vordergrund. Dennoch spielen Elemente aus Poppers World 3 eine nicht zu unterschätzende Rolle.  

    Der von Nonaka und Takeuchi beschriebene Prozeß der Wissenskonversion (crystalization), wodurch implizites Wissen auf verschiedenen Ebenen eines Unternehmens zum Einsatz kommt, schließt eine Bewertungsprozedur ein, die Kriterien wie Kosten, Effizienz und Profit aber auch ästhetische Aspekte berücksichtigen muß. 

    Bürgel und Zeller betonen, daß der "Königsweg" zum künftigen Wissen über  "kritisch hinterfragtes Erfahrungswissen in Neukombination von Wissenselementen aus explizitem und implizitem Wissen"  führt (Bürgel/Zeller 1998, S. 58). Der F&E-Prozeß ist ein Wissensprozeß, bei dem die von Nonaka und Takeuchi beschriebene "Wissensspirale" auf individueller und kollektiver Ebene eine conditio sine qua non darstellt. 
     

    7.2.3 Wissensstrategien: Kodifizierung und Personifizierung

    Schließlich möchte ich auf zwei Strategien des Wissensmanagements bei Beratungsfirmen hinweisen, die jeweils dem klassischen Ansatz des Wissensanagements bzw. dem der Wissensschaffung entsprechen. 
    Es sind dies die Kodifizierungsstrategie und die Personifizierungsstrategie. Bei der ersten Strategie wird das Wissen in Form von Datenbanken zugänglich gemacht, bei der zweiten bleibt Wissen an die Person gebunden, die es erworben hat. Der Computer dient dann vorwiegend als Medium des Wissensaustausches. Die Beratungsunternehmen Andersen Consulting oder Ernst & Young haben die Kodifizierungsstrategie gewählt. Dagegen setzen Bain, Boston Consulting Group (BCG) und McKinsey auf personalisiertes Wissen (Hansen/Nohria/Tierney 1999). 
     
    Mein Fazit lautet: Beide Ansätze gehören zum Selbstverständnis der Informationswissenschaft, obwohl diese sich bisher naturgemäß mit Information im Sinne des expliziten Wissens d.h. also mit Wissensmanagement im Gegensatz zu Wissensschaffung auseinandergesetzt hat. Die Theoriebildung der Wissensschaffung im Rahmen betriebswirtschaftlicher Ansätze bringt zwar neue von der Informationswissenschaft bisher vernachlässigte Dimensionen zur Sprache, engt diese aber wiederum für ihre Zwecke ein. Die Informationswissenschaft kann hierzu als korrektiv dienen, indem sie den Blick für andere Formen des Wissensmanagements und der Wissenschaffung frei macht. Indem sie das tut, knüpft sie nicht nur an ihre eigene Tradition an, sondern verbindet ihre Fragestellungen mit anderen Methoden und geistigen Traditionen wie die der Medienwissenschaft, der Soziologie, der Linguistik, der Psychologie und nicht zuletzt der Wissenschaftstheorie. Der Ansatz von Nonaka und Takeuchi beruht außerdem auf Einsichten, die in der Tradition der Informationshermeneutik diskutiert worden sind (Capurro 1995). 
     

    7.2.4 Ausblick

    Wissensmanagement ist ein modischer Ausdruck. Aber die Sache hat Geschichte. Wie Albrecht von Müller bemerkt, verfügten die Republik Venedig oder die Fugger über ausgezeichnete Methoden, Informationen schnell und effektiv in Wissen umzusetzen und somit ihre Machtstellung über Jahrhunderte zu festigen (Winkelhage 1998, Müller 1997). Diese Geschichte im Zusammenhang mit den heutigen Fragestellungen zu thematisieren, ist ein Desiderat der Forschung. 

    Mit dem Begriff Management verbinden wir gewöhnlich die Tätigkeiten des Planens, Organisierens, Koordinierens und Kontrollierens in unserem Fall der Ressourcen Information und Wissen. Diese Tätigkeiten richten die Aufmerksamkeit auf die Haltung des Beherrschens und vernachlässigen die Aspekte des sorgfältigen und dienenden Umgangs. Diese Aspekte gehören aber zum ursprünglich aus dem Italienischen (maneggiare) und Lateinischen (manus) herstammenden Begriff (The Oxford English Dictionary). In einem Textnachweis aus dem 18. Jahrhundert (1736 Butler) heißt es: "Tranquility, satisfaction,... being the natural consequences of prudent management of ourselves, and our affairs." (OED 1989) 

    Wissen ist, wie das alte Wort theoria lehrt, nicht nur Mittel, sondern auch Selbstzweck. Von dieser anderen Betrachtung von Wissen lebt eine Kultur, die sich öffentliche Lehr- und Forschungseinrichtungen sowie öffentlich zugängliche Bibliotheken leistet, ja die eine informationelle Grundversorgung der vernetzten Gesellschaft anstrebt. 

    Zur Weiterentwicklung des Ansatzes von Nonaka/Takeuchi vgl. 
    G.v. Krogh, K. Ichijo, I. Nonaka: Enabling Knowledge Creation. Oxford 2000. 

    In ihrem Buch  "The Social Life of Information" schreiben John Seely Brown (Chief Scientist, Xerox Corporation) und Paul Duguid (Social and Cultural Studies, Univ. of California at Berkeley).:  

    "The word context comes form the Latin cum (with) and texere (to weave) and etymologically suggests a process of weaving together. And document design weaves together the clues we have talked about to help readers read. No information comes without a context, but writers and designers always face the challenge of what to leave to context, what to information. The ease, availability, and enthusiasm for information often shifts this balancing act in favor of information. So, as noted in chapter I, when there are problems with information, the solution offered is usually add more. The history of documents and communities points in the other direction - towards less information, more context. (...) 
    In all, books and paper documents set a useful preceent not only for document design, but for information technology design in general. In a time of abundant and even superabundandt raw information, they suggest that the better path in creating social documents (and social communities) lies not in the direction of increasing amounts of information and increasingly full representation, but rather in leaving increasing amounts un- or underrepresented. Efficient communication relies not on how much can be said, but on how much con be left unsaid - and even unread - in the background. And a certain amount of fixity, both in material documetns and in social conventions of interpretation, contributes a great deal to this sort of efficiency. " (Brown/Duguid, 2000, S. 202-203) 
     
    J.S. Brown, P. Duguid: The Social Life of Information. Harvard Busines School Presss 2000. 

    Zur Vertiefung lesen Sie bitte v.Vf.: 

  • Skeptisches Wissensmanagement (2001) 
  • Lässt sich Wissen managen? (2000) 
  • Wissensmanagement und darüber hinaus (2000) 
  • Grundfragen des Wissensmanagements (2000) 
  • Was ist Wissensmanagement? (in: wissen digital) (1998)
  • Die Organisation des Wissens (1997)
  • sowie: R. Capurro: Lässt sich Wissen managen? Eine informationswissenschaftliche Perspektive. In: W.-F. Riekert, M. Michelson Hrsg.: Informationswirtschaft. Innovation für die Neue Ökonomie. Gabler Edition Wissenschaft. Deutscher Universitätsverlag 2001. 
     

    7.3 Wissensarbeit

    7.3.1 Wissenstransfer

    In ihrem Buch Working Knowledge stellen Thomas Davenport und Laurence Prusak (1997) eine Reihe von Analysen aus der Praxis des Wissensmanagements dar, die Sinn und Zusammenhang von Information und Wissen in der unternehmerischen Praxis in einem anderen Kulturkreis verdeutlichen.  

    Ihr erster Fall ist das virtuelle Teamwork-Programm von British Petroleum (BP), einem globalen Unternehmen auf der Suche nach lokalen Verbindungen. Im Jahr 1993 (!) gab die für die Suche und Herstellung von Öl zuständige Abteilung BPX (BP Exploration) ihren 42 selbständigen mittelgroßen Firmen die Freiheit, ihre Prozesse selbst zu gestalten und nach lokalen Lösungen zu suchen. Aufgrund des 1994 lancierten Virtual Teamwork Program sollten diese Firmen in der Lage sein, von verschiedenen Lokalitäten aus miteinander zu kooperieren. Das Projekt entstand nicht mit der Überschrift "Wissensmanagement", aber es ging um Wissensteilung und –mitteilung.   

    Das Ziel war nicht die Bildung eines Informations- oder Wissensarchivs, sondern die Vernetzung von Experten. Dabei stand nicht die Kommunikationstechnologie in Mittelpunkt, sondern die gemeinsame Arbeit. Das für die Technik verantwortliche Team sprach von coaching und nicht von training, um die aktive Rolle der Nutzer hervorzuheben. Die folgende Episode zeigt Sinn und Erfolg dieses frühen virtual teamworking im Bereich des Wissensmanagements.   

    Als 1995 wegen eines Hardware-Fehlers ein Übungsschiff in der Nordsee seine Operationen nicht weiterführen konnte, stellten die Ingenieure die Hardware vor einer kleinen Videokamera auf, die mit einer der virtuellen Gruppenstationen von BP verbunden war. Sie riefen über Satellit das Bureau eines Experten in Aberdeen an, der die defekte Hardware am Bildschirm analysierte und zugleich mit den Bordingenieuren sprach. Das führte rasch zur Behebung der Panne. In der Vergangenheit hätte man zur Lösung dieses Falles den Fachmann mit dem Helikopter hinfliegen oder ein anderes Schiff (Kostenpunkt: $ 150,000 täglich) hinschicken müssen. Die Panne dauerte nur einige Stunden.  

    Davenport und Prusak ziehen die Schlußfolgerung, daß der Wissenstransfer von Mensch zu Mensch, genauer face-to-face, besonders effizient ist, daß aber für Routine-Probleme die Speicherung von Lösungen ebenfalls sinnvoll ist. Allerdings sind der Kodifizierung von Lösungen zum Beispiel in Form von mit explizitem Wissen funktionierenden Expertensystemen vor allem bei komplexen oder nicht scharf definierbaren Problemen – gegenüber den euphorischen Prognosen der 80er Jahre -, deutliche Grenzen gesetzt (Davenport und Prusak, 1997, S. 84). Eine weitere Schlußfolgerung ist die, daß, wenn Wissen zur  Lösung von unternehmerischen  Problemen beiträgt, sich ein entsprechender Wissensmarkt entwickelt. Eine für Unternehmen wichtige Art von explizitem Wissen stellen Patente dar. Dieses Wissen muß aber wiederum in der jeweiligen Organisation zugänglich gemacht und bewertet werden. Als der Wissensmanagement-Direktor ("director of intellectual asset management") von Dow Chemicals, Gordon Petrash, die "vergessene" Bedeutung der 29.000 Patente der Firma erkannte, begann er mit einem  Evaluierungsprojekt, um festzustellen, welche Patente verkauft und welche noch benutzt werden könnten. Das Ergebnis war die Einsparung von $ 1 Million Gebühren für wenig genutzte Patente in den ersten achtzehn Monaten sowie die Eröffnung eines Potentials  für neue Produkte (Davenport und Prusak 1997, S. 85).   

    Wichtige Fragen bei der Strukturierung von explizitem Wissen betreffen zum Beispiel die Entscheidung, welche Inhalte in relationalen Datenbanken oder in Webseiten verfügbar gemacht werden sollten oder die Einsicht, daß nicht immer die Schnelligkeit (velocity), sondern öfter die Zähflüssigkeit (viscosity) d.h. die Verdichtung beim Wissenstransfer entscheidend ist, etwa im Falle eines Lehrlings, der sich über längere Zeit aufgrund eines engen zwischenmenschlichen Kontakts Detailwissen aneignet (Davenport und Prusak 1997, S. 102-104). Wesentliche Voraussetzung eines effektiven Wissensmitteilungsprozesses ist eine gemeinsame Sprache. Dazu ist die Entwicklung eines Thesaurus für die Abfrage von archiviertem Wissen unerläßlich (Davenport und Prusak 1997, S. 134-135).  
     

    7.3.2 Chief Knowledge Officer (CKO)

    Wie wichtig das passende Medium ist, zeigen Davenport und Prusak am Beispiel von Mobil Oil: Als die Ingenieure in Kansas ihre Erfahrungen mit der Einsparung von Dampf bei Bohrungen anderen Stellen in Form eines schriftlichen Memorandums mitteilten, geschah nichts. Der Information Manager erkannte, daß ein Stück Papier das verkehrte Medium war. Tage gemeinsamer intensiver Diskussionen erwiesen sich demgegenüber als erfolgreich (Davenport und Prusak 1997, S. 102-104). Viele Firmen in USA und Europa haben inzwischen die Stelle eines Chief Knowledge Officer (CKO)  geschaffen. Seine Aufgaben sind: :  
  • Auf die Bedeutung von Wissen und Lernen aufmerksam zu machen 
  • Design
  • Implementierung und Kontrolle der Wissensinfrastruktur 
  • Management von externen Informations- und Wissensquellen
  • Eingabe von kritischem Input in den Prozeß der Wissensschaffung
  • Design und Implementierung eines firmenadäquaten Kodifizierungskonzeptes
  • Messen und Managen des Wertes von Wissen
  • Management von Wissensmanagern im Unternehmen
  • Entwicklung einer Wissensstrategie
  • Von allen diesen Aktivitäten, so Davenport und Prusak, sind drei entscheidend, nämlich "die Bildung einer Wissenskultur, die Schaffung einer Infrastruktur für das Wissensmanagement und daß sich im Endergebnis alles ökonomisch auszahlt." (Davenport und Prusak 1997, S. 115) Als erfolgreiches Beispiel eines Web-basierten Wissensmanagements stellen die Autoren die Firma Hewlett-Packard dar (Davenport und Prusak 1997, S. 123 ff) 
     

    7.4 Werkzeuge sozialer Kreativität in Unternehmen 

    Informationstechnik kann menchliche Kreativität nicht ersetzen, sie kann aber Instrumente zu Ihrer Unterstützung schaffen. Hier sind einige Beispiele wie so etwas aussehen kann: 
      Lesen Sie dazu: William Isaacs: Dialogue and the art of thinking 
     
     

    7.5 Anbieter von Knowledge-Management-Systemen

    Anbieter von KM-Systemen (Hauptquelle: META Group Deutschland, in: N. Körber: Abläufe wie vom Fließband. e-commerce magazin, März 2001, S. 78).

    Vgl. auch: Wissensmanagement-Software: Anbieter, Lösungen und Leistungen. In: wissensmanagement online (2002) 
     

    7.5.1 Content Management

    Eine komplexe Mischung aus Kreation, Sammlung, Kontrolle, Veröffentlichung und Sicherheit von allen Informationen innerhalb von Unternehmen in Inter-, Intra- und Extranetzen. Es kann als zentrale Plattform für Wissensmanagement in den Firmen dienen. 
    Comma-Soft.com: comma-soft.com/INFONEA/ 
    Hyperwave AG hyperwave.com 
    Gauss Interprise AG gauss.de 
    Vignette GmbH vignette.com 
    Open Market GmbH openmarket.com 
    Infopark AG infopark.com 
    PiroNet AG pironet-ndh.com 
    Day Ineractive daynetwork.com 
    Pansite GmbH pansite.com 
    Broadvision Deutsch GmbH broadvision.com 
    Interwoven GmbH interwoven.com 
     

    7.5.2 Dokumentenmanagement

    Auch Compound Document Management (CDM). Systeme fokussieren sich traditionell auf Desktop-Dokumente, liefern Collaborative Editing, Versionierung, Versionskontrolle, Wieergabe Management, Zugangskontrolle, Sicherheit, Workflow usw. 
    Documentum GmbH documentum.com 
    SER Systems AG ser.com 
    IXOS Software AG ixos.com 
    DocuNET docunet.com 
    Eastman Software eastmansoftware.com 
    A.I.S. Applied Information Systems ais.com 
    CE Computer Equipment AG ce-ag.com 
    Filenet GmbH filenet.de 
    Kleindienst Datentechnik AG kld.de 
     

    7.5.3 Portale

    Zentraler Einsiegspunkt für Benutzer von Intern-, Intra- und Extranetzen. Portale stellen dabei nicht nur Inhalte zur Verfügung, sondern Dienstleistungen, Diskussionsforen und Anwendungen. 
    Verity Deutschland GmbH verity.com 
    Excalibur Systems Limited excalibur.com 
    Autonomy autonomy.com 
    Fulcrum High Tech Consulting fulcrum.de 
    Backweb GmbH backweb.de 
    Allaire allaire.com 
    ATG Art Technology Group atg.com 
    IBM ibm.com 
    Plumtree Software plumtree.de 
    USU AG usu.de 
     
    Beispiel: Die Möglinger USU AG 
    Gegründet 1977. Sie gehört zu den Pionieren im Wissensmanagement in Deutschland. Die USU Software funktioniert so: Themen und Begriffe, die für die Tagesarbeit des Anwenders wichtig sind, werden definiert und mit Bedeutungen , die damit in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen, gekoppelt. Daraus entstehen semantische Themenfelder. Diesen orndet der KnowledgeMiner dann bei einer Suchanfrage automatisch die relevanten Dokumente zu. Den dabei entstandenen Suchpfad speichert das Systm, so dass bei einer neuen, identischen Suchanfrage die gewünschten Informationen sehr schnell bereit gestellt werden können.
     
     

    7.6 Zur Vertiefung

    1. Zucker, B., Schmitz, Ch.: Wissen gewinnt. Düsseldorf 2000. 
    2. F. Lehner: Organisational Memory. Konzepte und Systeme für das organisatorische Lernen und das Wissensmanagement. München 2000. 
    3. Takeuchi, H.: Beyond Knowledge Management: Lessons from Japan. 1998, http://www.sveiby.com.au/LessonsJapan.htm  
     

    7.7 Für Fortgeschrittene

    1. G. von Krogh, K. Ichijo, I. Nonaka: Enbabling Knowledge Creation. Oxford 2000 
    2. J.E. Schreinemakers (ed.): Knowledge Management. Organization, Competence and Methodology. Würzburg 1996. 
     

    Übungen

    1. Erörtern Sie die Formen der Wissensumwandlung nach Nonaka/Takeuchi und ihre Bedeutung für die Wissensschaffung im Unternehmen. 
    2. Erörtern Sie anhand eines Beispiels den Unterschied zwischen implizitem und explizitem Wissen. 
    3. Nehmen Sie zum Ansatz von Nonaka/Takeuchi kritisch Stellung. 
    4. Inwiefern gerhört die Analyse des impliziten Wissens zum Gegenstandsbereich der Informationswissenschaft?  
    5. Erörtern Sie anhand von Beispielen die Bedeutung einzelner Medien bei der Wissensschaffung im Unternehmen. 
    6. Nehmen Sie Stellung zu einzelnen (IT-)Werkzeugen unternehrischer Kreativität. 
    7. Wie beurteilen Sie einzelne Knowledge-Management Systeme (Content-Management-Systeme, Dokumentenmanagement-Systeme, Portale)? 
     
 
 
Gesamtübersicht
 
 

Kapitel 1: Lehre und Forschung 
Kapitel 2: Historische Aspekte 
Kapitel 3: Grundbegriffe 
Kapitel 4: Der elektronische Informationsmarkt 
Kapitel 5: Wissenserschließung und -darstellung 
Kapitel 6: Information Retrieval: 
Kapitel 8: Soziale, rechtliche, politische und ethische Aspekte 
Literatur 
 

 
   

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