I.
HERMENEUTIK IM RÜCKBLICK
Zu Beginn
des Artikels Hermeneutik im Historischen Wörterbuch
der
Philosophie schreibt Hans-Georg Gadamer folgendes:
"Hermeneutik
ist die Kunst des hermeneuein, d.h. des Verkündens,
Dolmetschens,
Erklärens und Auslegens, Hermes hieß der
Götterbote,
der die Botschaften der Götter den Sterblichen ausrichtet. Sein
Verkünden
ist offenkundig kein bloßes Mitteilen, sondern Erklären von
göttlichen Befehlen, und zwar so, daß er diese in
sterblicher
Sprache und Verständlichkeit übersetzt. Die Leistung der H.
besteht
grundsätzlich immer darin, einen Sinnzusammenhang aus einer
anderen
"Welt" in die eigene zu übertragen. Das gilt auch von der
Grundbedeutung
von hermeneia, die "Aussage von Gedanken" ist, wobei der
Begriff
der Aussage selber vieldeutig ist, Äußerung, Erklärung,
Auslegung und Übersetzung umfassend. Die Aristotelische Schrift Peri
hermeneias, ein Teil des Organon, ist gar keine H., sondern
eine Art logische Grammatik, die die logischen Strukturen des
apophantischen
Logos (des Urteils) untersucht und alle anderen Arten des Logos, bei
denen
es nicht nur auf das Wahrsein ankommt, ausschließt. Die H. als
Kunst
gehört nach Platon nicht allem Ausdruck von Gedanken zu, sondern
allein
dem Wissen, das anweist, wie das des Königs, des Herolds usw. In
der Epinomis steht die H. in einer Reihe mit der Mantik -
offenbar als
eine Kunst, die den Götterwillen erklärt, im klaren
Doppelsinn
von Mitteilen und Gehorsamfordern. Im späteren
Griechischen
kann dann hermeneia freilich sehr wohl "gelehrte
Erklärung"
und hermeneus "Erklärer" wie "Übersetzer"
heißen.
Aber es ist doch bezeichnend, daß die "Kunst" der hermeneia,
die H., an die Sakralsphäre gebunden war, in der ein autoritativer
Wille Maßgebliches dem Hörenden eröffnet. Davon ist in
dem heutigen wissenschaftheoretischen Bewußtsein nichts mehr
lebendig,
auch wenn die Hauptformen, in denen H. ihre Ausbildung fand, die
juristische
Auslegung der Gesetze und die theologische oder philologische Auslegung
heiliger oder klassischer Texte, den ursprünglich normativen Sinn
durchaus noch implizieren. Wenn wir heute von H. reden, stehen wir
dagegen
in der Wissenschaftstradition der Neuzeit." (Gadamer 1974, 1061-1062)
Diesem
Zitat folgt eine hier in geraffter Form wiederzugebende historische
Darstellung
ausgehend von der theologischen Hermeneutik, deren Hauptproblem das der
allegorischen Interpretation oder des "Hintersinns" (hyponoia)
war.
Höhepunkt dieser Tradition war die von Cassian systematisierte
Methode
des vierfachen Schriftsinns. Die Reformation suchte mit einem neuen
Methodenbewußtsein
einen objektiven Sinn der Schrift, jenseits der Verzerrungen durch die
kirchliche Tradition. Zu Beginn der Neuzeit entwickelte sich eine
allgemeine
Auslegungslehre als Teil der Logik. Aber erst Schleiermacher löste
die Hermeneutik von der biblischen Anwendung ab. Der normative Sinn
eines
Textes tritt zurück, zugunsten der Auffassung von Verstehen als
kongenialer
Wiederholung. Ferner löst Schleiermacher die Hermeneutik vom
Schriftlichen
ab. Das Gespräch als Begründung des Verstehens tritt in den
Vordergrund.
Die Hermeneutik wird zur Grundlage aller historischen
Geisteswissenschaften.
Die Idee der psychologischen Interpretation bildet dann den Ausgang
für
Diltheys Auffassung des Erlebnisbegriffes und der
Geisteswissenschaften.
Das sich daraus ergebende Problem der Relativität historischer
Sichtweisen
suchte man, von Max Weber bis Karl Jaspers, mit Hilfe von
Weltanschauungstypologien
zu meistern. Vor diesem Hintergrund würdigt Gadamer Heideggers
philosophische
Radikalisierung der Hermeneutik, die einen ersten Ausdruck in der
Vorlesung
von 1923 Hermeneutik der Faktizität (GA 63) fand. Im
Gegensatz
zu Husserls Wesensontologie legte Heidegger die Existenz selbst als
Verstehen
und Sich-Entwerfen auf Möglichkeiten aus. Verstehen war dann nicht
mehr ein Verhalten unter anderen, sondern die Grundbewegtheit
menschlichen
Daseins.
Heideggers
Hermeneutik bildete wiederum den Ausgang für Gadamers eigene Wege.
Dazu zählen seine Betonung des unaufhebbaren Beitrags des
Interpreten
im Verstehensprozeß und der unhintergehbaren Rolle der Sprache,
die,
nach eigenem Verständnis, in der Nähe von Wittgensteins
"Sprachspielen"
steht. Hermeneutik läßt sich dementsprechend nicht
bloß
als Teilgebiet der Logik auffassen. Aussagen sind Antworten auf
vorausgehende
Fragen. Ihr Sinn ist nicht von der Motivationsgeschichte –
wissenschaftstheoretisch
ausgedrückt: vom context of discovery – zu lösen.
Damit
bindet Gadamer die Hermeneutik an die Tradition der Rhetorik. Zugleich
faßt er den Begriff der Sprache so weit auf, daß er alle
menschlichen
Ausdruckweisen umfaßt. Sprache meint letztlich die "kommunikativ
erfahrene Welt selbst als eine offene Totalität" (Art. Herm., Sp.
1071). Die philosophische Arbeit als Arbeit am Begriff ist insofern
wesentlich
hermeneutisch als die Weltauslegungen in "Begriffsworte" gefaßt
werden, deren Sinn aber wandelbar bleibt. Gadamer schließt seine
Ausführungen mit Hinweisen auf Habermas' Kritik am
Universalitätsanspruch
der Hermeneutik sowie auf den Zusammenhang zwischen Hermeneutik und
Psychoanalyse
bei Paul Ricoeur und Jacques Lacan. Für Gadamer bleibt die
Ausweitung
der Hermeneutik auf die Praxis unerläßlich, deren Sinn aber
wird
nicht ausgeführt.
II.
HERMENEUTIK IST DIE KUNST DES HERMENEUEIN
Kehren
wir aber zu Gadamers Anfang zurück. Dort heißt
es:
"Hermeneutik
ist die Kunst des hermeneuein, d.h. des Verkündens,
Dolmetschens,
Erklärens und Auslegens. Hermes hieß der Götterbote,
der
die Botschaften der Götter den Sterblichen ausrichtet." (Gadamer,
Art. Hermeneutik, Sp. 1061).
Es ist
merkwürdig, daß Gadamer in diesem begriffsgeschichtlichen
Zusammenhang
zwar auf Hermes, nicht aber auf den griechischen Botschaftsbegriff (angelia)
eingeht. Die Aristotelische Schrift Peri hermeneias ist, so
Gadamer, keine Hermeneutik,
"sondern
eine Art logischer Grammatik, die die logischen Strukturen des
apophantischen
Logos (des Urteils) untersucht und alle anderen Arten des Logos, bei
denen
es nicht nur auf das Wahrsein ankommt, ausschließt." (Gadamer,
Art.
Herm., Sp. 1062)
Es ist
bezeichnend, daß das Wort angelia bei Aristoteles nur
einmal
vorkommt, und zwar in der Poetik (1454 b 5). Es steht dort in
Zusammenhang
mit der Ankündigung (proagoreuseos) und dem, was einer
Handlung
vorausgeht oder was ihr nachfolgt und "wovon ein Mensch nicht wissen
kann".
Etwas Unsinniges (alogon), so Aristoteles anschließend,
soll
es in den Handlungen des Dramas nicht geben. Angelia und angello
kommen zwar bei Platon mehrmals vor, aber der Begriff spielt nicht im
Entferntesten
die zentrale Rolle, die er in der Dichtung – von
Homer über Hesiod
bis Pindar und den Tragikern –
hatte (Capurro 1996). In den
Platonischen
Dialogen findet man, wie jetzt zu zeigen ist, lediglich ein Echo dieser
großen Tradition.
Die
Platonische Hermeneutik, von der keine Spuren bei ihrer Umwandlung in
die
Aristotelische Grammatik des Peri Hermeneias zu finden sind,
gehört
zur Kunst der Herolde, des Dolmetschers, des Befehlsträgers und
des
Wahrsagers und unterscheidet sich von der königlichen Kunst des
Selbstbefehlens
(autepitakton genos) (Politikos 260 e). Hermeneutike meint
die Auslegung von Göttersprüchen und steht deshalb in
unmittelbarer
Nähe der Wahrsagerei (mantike) (Epinomis 975c). Am
eindrucksvollsten
findet man diese Zusammenhänge in jenem hermeneutischen Dialog par
excellence, dem Ion, wo Sokrates die Künste
göttlicher
Dolmetscher, vor allem der Homeriden, behandelt. Diese haben ihr
Wissen
aufgrund göttlicher Eingebung (theia moira) und nicht durch
eigene Sachkenntnis (techne) (Ion 536d). Die Dichter sind
Dolmetscher
der Götter (hermenes eisin ton theon) (Ion 534e), und die
Rhapsoden
wiederum Dolmetscher der Dichter. Anstelle des Verkündens tritt
der
Sokratische Dialog, die gemeinsame Suche nach Gründen im Medium
der
gesprochenen Sprache (logos):
"Ja,
reden hören will ich dich sicherlich, doch nicht eher als bis du
mir
auf folgende Frage Antwort gegeben: Über welches von Homer
behandelte
Gebiet weißt du gut zu reden (eu legeis)? Gewiß doch
nicht über jedes ohne Unterschied?" (Ion 536e)
Allerdings
verschwindet die mächtige mythische angelia nicht ganz aus
den Platonischen Dialogen. Der Begriff hat aber keine spezifische
philosophische
Bedeutung, sondern er gehört, wie jetzt zu zeigen ist, sowohl dem
Bereich des Mythos und der politischen Herrschaft als auch dem der
Alltagssprache
zu. Programmatisch können wir feststellen, daß angelia
einer Vorstellung von Kommunikation angehörte, die sich von der
des
philosophischen Logos-Austausches wesentlich
unterschied.
Zu
diesen beiden antiken Vorstellungen von Kommunikation, nämlich
Kommunikation
als die Tätigkeit göttlich inspirierter Boten und
Kommunikation
als Umgang mit Argumenten, kamen auch, so der
Kommunikationswissenschaftler
Klaus Krippendorff, die Vorstellung von Kommunikation als Schaffung
von
Monumenten sowie Kommunikation im Sinne eines gemeinsam geteilten Symbolon
hinzu (Krippendorff 1994).
Diese
Vorstellungen und die ihnen zugrundeliegenden Metaphern finden sich,
wie
Krippendorff ausführt, auch in heutigen Auffassungen von
Kommunikation.
So zum Beispiel in der Metapher einer übertragbaren Botschaft, auf
deren Basis das Kommunikationsproblem auf ein Transportproblem
reduziert
wird oder in der Vorstellung, daß eine Botschaft in einem
Behälter
(einem Wort, einem Brief, einer Zeitung) 'enthalten' sei
(Container-Metapher),
oder in der Metapher eines gemeinsam geteilten Wissens (cognitive
sharing),
oder in der Fluß-Metapher, die den 'Botschaftsfluß' als
Kanalisationssystem
auffaßt, oder schließlich in der Vorstellung von
Kommunikation
als Macht- und Kontrollinstrument. Wichtig scheint mir dabei
Krippendorffs
Feststellung, daß diese Metaphern eng mit den ihnen
zugrundeliegenden
Phänomenen zusammenhängen und daß in ihnen sich
Medien-,
Technik- und Sprachgeschichte miteinander verweben. Die folgende
skizzenhafte
Analyse des Angelia-Begriffs bestätigt diese Analyse und zeigt das
(vorläufige) Verschwinden des Boten zugunsten der Macht
philosophischer
Argumentation. Mit der Sokratischen Abwertung des göttlichen
Mediums
tritt nicht nur der damit zusammenhängende Sprachgebrauch, sondern
auch das Phänomen selbst in den Hintergrund. Diese Geschichte
setzt
sich aber fort.
In
Platons Dialogen finden sich mehrere Stellen, die den Gebrauch des
Angelia-Begriffs
in Zusammenhang mit der Tätigkeit des Übertragens einer
göttlichen
oder staatlichen Botschaft belegen. Der Bote steht stets unter einer
höheren
Macht. Er darf nicht für sich selbst sprechen. Die Botschaft hat
meistens
einen Befehlscharakter. Dazu einige Beispiele.
Am
Anfang des 12. Buches der Nomoi heißt es:
"Wer
sich fälschlich als Gesandter (presbeutes) oder Herold (kerux)
des Staates bei einem anderen Staate ausgibt oder, wenn er wirklich mit
der Gesandschaft betraut ist, die ihm übertragene Botschaft (presbeias)
wissentlich fälscht (me apangelle) oder andererseits keinen
Zweifel darüber läßt, daß er die von der anderen
Seite, sei es Feind oder Freund, ihm übertragene Botschaft als
Gesandter
oder Herold gefälscht hat, der soll gerichtlich belangt werden als
ein Frevler wider die heiligen Gesetze über Botschaften und
Aufträge,
die unter dem Schutze des Hermes und Zeus stehen (Hermou kai Dios
angelias
kai epitaxeis); und wird er schuldig befunden, so soll das Gericht
die gebührende Strafe oder Buße bestimmen." (Nomoi 941a).
"Als
Wächterin
über alle solche Verfehlungen", schreibt Plato ebenfalls in den
"Nomoi" – und
er meint an dieser Stelle die Verfehlungen bezüglich der
Ehre,
die man den Göttern, Heroen sowie den Eltern schuldig ist –,
"ist
Nemesis, die Botin der Dike (Dike Nemesis angelos)" (Nomoi 717d;
vgl. Nomoi 758c).
Im
Dialog Kratylos deutet Sokrates die Herkunft des Namen "Hermes"
als Dolmetscher (to hermenea), Bote (to angelon), Dieb (to
klopikon) und Betrüger (to apatelon) in bezug auf die
Rede
(in logois). Hermes ist ein geschickter Handelsmann (to
agorastikon),
dem alles sich um die Macht der Rede (peri logou dynamin) dreht.
Sein Name ist zusammengesetzt aus eirein, dem "Gebrauch der
Rede",
und emesato, "ausfindig machen". Auch der Name der Iris wird
von eirein abgeleitet, "weil sie Botin (angelos)
war" (Crat.
407e-408b).
Andere
Stellen zeigen aber, daß Platon angello und angelia
in einem alltäglichen Zusammenhang gebraucht, ohne daß Sache
und Begriff zum Gegenstand philosophischer Reflexion oder zum terminus
technicus werden. Dazu einige Beispiele.
Zu
Beginn des Gastmahls kommt ein Sklave mit der Meldung (angellonta),
daß Sokrates in der Vortür eines Nachbarhauses stehe (Symp.
175a). Eutyphrons Vater schickt einen Boten (angelon), um die
Auslegung
des Richters in einem Mordfall zu erfahren (Euthyph. 4d). Kriton bringt
Sokrates eine schlimme Nachricht (angelian chalepen),
nämlich
die seines bevorstehenden Todes (Crit. 43c). Am Schluß des Phaidon
sagt Kriton: "Auch weiß ich, daß andere erst lange nach
geschehener
Ankündigung (parangelthe) den Trank nahmen" (Phaed. 116e)
und
das mit Bezug auf die vorausgegangenen Ankündigungen des Dieners,
der einen Auftrag (angellon) zu erfüllen hatte. Zu Beginn
dieses
Dialogs wünscht sich Exekrates einen genauen Bericht (saphes ti
angeilai) über die Vorgänge in Zusammenhang mit dem Tod
des
Sokrates (Phaed. 57 b).
Im
vierten Buch der Politeia "jagen" Sokrates und Glaukon nach dem
Wesen der Gerechtigkeit. Als Sokrates meldet, er hätte "eine Spur
des Wildes" entdeckt, antwortet Glaukon:
"'Gute
Botschaft' (eu angelleis). Allerdings stellt sich sofort
heraus,
daß das Wild sich von Anfang an vor ihren Füßen herum
trieb!" (Polit. 360a).
Am
Schluß
dieses Dialogs stellt sich heraus, daß der Gebrauchende eines
Gegenstandes
der Erfahrenste sei und deshalb dem Hersteller Auskunft geben soll (angelon
gignesthai), was er richtig oder falsch macht:
"Also
der eine als Wissender gibt Auskunft (exangellei) über
taugliche
und untaugliche Flöten, der andere schenkt ihm Glauben und
verfertigt
sie danach?" (Polit. X 601d-e)
Diese
Stelle ist insofern besonders hervorzuheben, als hier angelia
in
einem prima facie paradoxen Zusammenhang mit dem Prozeß
der
Mitteilung von Fachwissen steht. Der Stelle liegt die Platonische
Auffassung
des Handwerkers als Nachahmer zugrunde. Der Verfertigter einer
Nachahmung
hat für Sokrates nur ein Scheinwissen über die Sache
gegenüber
dem, der diese unmittelbar gebraucht. So kommt es, daß das
praktische
Wissen des Verbrauchers höher eingestuft wird als das
Herstellerwissen.
Dementsprechend wird der Prozeß der Wissensmitteilung vom
Verbraucher
zum Hersteller ebenfalls höher eingestuft als
umgekehrt.
Ebenfalls
im neutralen Sinne von Wissensmittelung lautet folgende Stelle am
Schluß
des Dialogs Philebos:
"Auf
alle Weise also wirst du, Protarchos (den Abwesenden) durch Boten (angellon
pempon), den Anwesenden durch eigenen Mund verkünden (phrazon),
daß die Lust nicht das erste und auch nicht das zweite Besitztum
sei." (Phil. 66a)
Dieser
neutrale Gebrauch von angellein kehrt sozusagen das
hermeneutische
Verhältnis dichterischer Mitteilung, so wie sie im Dialog Ion
gedeutet wurde, um.
Zusammenfassend
können wir
feststellen,
daß angelia
sowohl zum höheren,
von Sokrates philosophisch relativierten Bereich der Götter und
der
Könige und ihrer befehlenden Mitteilungen, aber auch zum
alltäglichen
niederen oder dienenden Handlungsbereich gehört. Die Philosophie
stellt
sich kritisch gegenüber dem autoritativen oder vertikalen
Charakter
der angelia und ersetzt diesen durch den horizontalen
diskursiven
Modus des dialektischen oder kritischen Besprechens (logos) als
Ursprung des Wissens. Auch wenn die Ergebnisse der gemeinsamen Suche im
Dialog anderen mitgeteilt werden, gilt in Wahrheit das Phänomen
des
philosophischen Dialogs selbst als die neue Mitteilungsform, die die
alte
Angelia-Struktur ersetzt oder in den Dienst des logos
nimmt.
Ich
habe in einem anderen Zusammenhang (Capurro 1995
und 1996) die Problematik des Verhältnisses zwischen logos und
angelia im Sinne einer an Nietzsche und Foucault sich
orientierenden
Genealogie der Information gedeutet und wie folgt
zusammengefaßt:
"die
dichterische Gestaltung des Mitteilungsprozesses (bedeutete) eine
Abschwächung
der Machtstrukturen des Mythos, so wie wiederum die Geburt der
Philosophie
in der Athenischen Agora zu einer Infragestellung des
mythisch-dichterischen
Botschaftsbegriffs (angelia) führte, indem die heteronome
Dimension
dieses Mitteilungsmodus – die Verkündung der
göttlichen
Weisheit
(sophia) durch die Vorstellung einer autonomen Erkenntnissuche (philosophia)
–, wenn nicht ersetzt, doch
zumindest verdrängt wurde. Die
Herrschaft
des philosophischen logos mit ihren spezifischen
Machtstrukturen
trat an.
Die
christliche Botschaft bedeutete wiederum eine erneute Verstärkung
des heteronomen Mitteilungsmodus, der erst in der Neuzeit auf der Basis
der Autonomie der Subjektivität und des von ihr vorgestellten
zensurfreien
Raums des freien, wissenschaftlichen Mitteilens auf der Basis des
gedruckten
Wortes in Frage gestellt wurde. Dieser Raum ist heute nicht mehr
primär
durch das gedruckte Wort, sondern durch die elektronischeVernetzung
multimedial
gestaltet. Die ihn bestimmenden Machtstrukturen sind vorwiegend
wirtschaftlicher
Natur. Der Sinn des dichterisch-philosophischen Mitteilens und die
neuzeitliche
Idee der Denk- und Mitteilungsfreiheit als jeweils unterschiedliche
menschen- formende
Kräfte scheinen [...] in der rastlosen Informations- zirkulation
beinah
aufgelöst zu sein." (Capurro 1995, S. 99)
In Wahrheit
aber bringt die rastlose Informationszirkulation eine neue Mitteilungs-
und Verstehensstruktur hervor. Diese veränderten Strukturen sehe
ich
als Herausforderung für eine künftige Hermeneutik an, die
sich
nicht nur als Kunst des Auslegens, sondern ebensosehr als des
Verkündens
und Dolmetschens im informationstechnologischen Kontext
versteht.
III.
Die Urbanisierung der Gadamerschen Provinz
Im Anklang
an Habermas' Diktum über Gadamers Hermeneutik im Sinne einer
"Urbanisierung
der Heideggerschen Provinz" können wir - wie mir Götz
Großklaus
suggerierte - in Anbetracht der Herausforderung durch die
Informationstechnik
von der Notwendigkeit einer "Urbanisierung der Gadamerschen Provinz"
sprechen.
Wir könnten auch "sowie der Habermasschen Provinz"
hinzufügen.
Letzteres meint, daß nach dem Paradigmenwechsel vom
Bewußtsein
zur sprachlichen Verständigung diese wiederum vom Paradigma der
elektronischen
Vernetzung abgelöst wird. Die Grundlegung der Sozialwissenschaften
erfolgt nicht primär kommunikationstheoretisch, sondern
netzwerktechnisch.
Der Diskursethik folgt die Informationsethik.
"Die
Überlieferung, in der wir leben ist nicht eine sogenannte
kulturelle
Überlieferung, die aus Texten und Denkmälern allein
bestünde
und einen sprachlich verfaßten oder geschichtlich dokumentierten
Sinn vermittelte. Vielmehr wird uns die kommunikativ erfahrene Welt
selbst
als eine offene Totalität beständig übergeben" (Gadamer,
Hermeneutik, Sp. 1071).
Nun meine
ich, daß diese "kommunikativ erfahrene Welt" immer mehr durch
neue
Kommunikationsmedien – allem
voran durch die elektronische Vernetzung -
"beständig" - oder sollten wir besser sagen 'unbeständig'? –
"übergeben wird." (Capurro)
Es
mutet deshalb seltsam an, wenn Gadamer, der sich offensichtlich sowohl
über den Mitteilungsprozeß als auch über die
unterschiedlichen
Qualitäten der Mitteilungsmedien bewußt ist und nicht etwa
die
Oralität zugunsten der Schriftlichkeit ausspielt, sich teils
zustimmend,
überwiegend aber skeptisch gegenüber der elektronischen
Information
äußert, ja diese nicht als eine Herausforderung für
eine
Transformation der Hermeneutik in Betracht zieht. Unter dem Titel Hermeneutik
im Rückblick im Band 10 seiner Gesammelten Werke ist
zum
Beispiel in einem Aufsatz aus dem Jahre 1988 folgendes zu
lesen:
"Da
stehen wir heute vor ungeheuren Aufgaben. Es sind ungeahnte
Fortschritte
im Informationswesen, zu denen die moderne Technik geführt hat.
[...]
Wie vollständig ist doch etwa ein heutiger Index, den uns der
Computer
erstellt! Wie prompt ist die Bedienung der Bibliotheksbenutzer durch
den
Computer. Jedes Buch ist rasch erhältlich. Aber ist das wirklich
nur
ein Fortschritt? Ich habe immer wieder Zweifel. Wenn alle
Informationen,
die man braucht, sogleich erhältlich sind - ob es nicht besser
ist,
wenn ich etwas vergessen habe und es wieder suchen muß und dabei
dann vielleicht noch etwas anderes finde als das, was ich suchte? Das
nennt
man nämlich wahrhaft Forschen: Fragen stellen, die immer noch
weiter
zu Fragen führen, die man nicht voraussah." (Gadamer, Herm. im
Rückblick,
S. 219).
Ich meine,
daß Gadamer hier Dinge verwechselt, nämlich als ob die
Möglichkeit,
die etwa eine Online-Suche in einem Bibliothekskatalog bietet, im
Gegensatz
zum forschenden Fragen stünde. Wenn kurz danach vom "heilsamen
Wunder
des Vergessens" und von der "verklärenden Zaubermacht des
Erinnerns"
die Rede ist, wird dieses in beinah beschwörender Weise dem
"Abrufen
von Daten aus Datenbanken", das uns "von solchem Glück nichts
bescheren
kann", gegenübergestellt. Es ist anschließend auch von einer
"lähmende(n) Masse von Informationsfluten", die "uns bis an den
Hals
steht" die Rede! (ibid. S. 220). Keine "Kybernetik" und keine
"regeltreue
Hermeneutik" kann dazu helfen, so Gadamer, "das Neue, das Andere –
oder
den Anderen, mit dem wir es zu tun haben –
oder auch nur uns selbst
besser
zu verstehen." (a.a.O.)
Das
sind Teilwahrheiten und Schlagworte, die zu falschen Alternativen
führen.
Da wird in einem anderen Aufsatz aus dem Jahre 1993 die
"Computersprache",
die man heute in der Schule lernen soll, dem "wahren Miteinandersein"
der
"Sprachgemeinschaft" wiederum fälschlicherweise
gegenübergestellt
(Gadamer, a.a.O., S. 277-278). In einem Aufsatz aus dem Jahre 1972
(Gadamer,
a.a.O., S. 317ff) wird die "Kunst des Lesens" in "unserer literarischen
Kultur" gegen "die allgemeinen Nachrichtenmittel von der Presse
über
den Rundfunk bis zum Fernsehen" hochgehalten und dabei Sokrates als
Anwalt
gerufen, der ganz und gar zu einer oralen Kultur gehörte. Er war
bekanntlich
kein Humanist.
"Wenn
wir heute von H. reden, stehen wir dagegen (im Gegensatz also zur
Einbindung
der Hermeneutik in die Sakralsphäre in der Antike, RC) in der
Wissenschaftstradition
der Neuzeit." (Gadamer, Art. Hermeneutik, Sp. 1062) Für diese
neuzeitliche
Tradition ist Hermeneutik die Kunst der rechten Auslegung - von
gedruckten
Schriften, sollten wir hinzufügen. Wenn aber Gadamer in der
Nachfolge
Platons immer wieder die Bedeutung des Gesprächs für
die
Auslegung der schriftlichen Tradition betont, dann bringt er dadurch
zugleich
den Unterschied in den Formen oder, wie wir heute sagen, in den Medien
der zwischenmenschlichen Verständigung zur Sprache. Denn die
Hermeneutik
ist ja die Wissenschaft von den Formen, Bedingungen und Grenzen der
Verständigung
zwischen den Menschen. Ich meine, daß gerade die antiken Wurzeln
der Hermeneutik als die Kunst des Mitteilens und Dolmetschens
uns
einen Wink in eine vergessene Dimension geben.
IV.
Angeletik
Ein neues
Medium der Verständigung bringt auch eine Veränderung der
Hermeneutik
mit sich. Ich meine, daß gerade das mit dem Wort "elektronische
Vernetzung"
angesprochene Medium eine solche Veränderung der Hermeneutik
bewirkt.
Es ist dann die Frage, wie die Bedingungen und Grenzen der
Verständigung
zwischen den Menschen im Medium der elektronischen Weltvernetzung
aufgezeichnet
werden können. Dies ist das Thema einer Hermeneutik im
Vorblick.
Hermeneutik verstanden nicht nur als Kunst der Auslegung, sondern
ebensosehr
als die der Mitteilung und der Mitteilungsmedien. Eine Hermeneutik
als
Botschaftstheorie oder Angeletik, wie wir sie auch nennen
könnten,
umfaßt Bedeutung, Zeichen, Medium und
Mitteilung. Sie befindet sich an der Schnittstelle von
Texthermeneutik,
Semiotik,
Medientheorie und Kommuni- kationstechnologie.
Die
Hermeneutik knüpft hiermit an den Ursprung der Kunst des hermeneuein
im Sinne des Verkündens und Dolmetschens, der
griechischen angelia, an. Wenn wir heute von Hermeneutik
sprechen, stehen wir nicht
mehr
nur in der Wissenschaftstradition der Neuzeit, des gedruckten logos
und der Fraglosigkeit dieses Mitteilungsmediums. Vielmehr – und
das
unterscheidet
uns gerade von der Antike – wir
verbinden diese Kunst nicht mehr mit
der
Sakralsphäre und der Hierarchie des Befehlens, sondern mit den
technischen
Einrichtungen der elektronischen Vernetzung und der Perspektivität
der Interessen im lokalen und globalen Maßstab. Das heißt
wiederum
nicht, daß mit der elektronischen Vernetzung so etwas wie die
Verwirklichung
des herrschaftsfreien Dialogs im Weltmaßstab eingetreten
wäre
oder eintreten könnte.
Die
heutige Form der angelia ist die der elektronischen Vernetzung
und die Hermeneutik im digitalen Medium wird zur
Informationshermeneutik.
Diese soll die Bedingungen und Grenzen der Verständigung zwischen
den Menschen im Informationszeitalter erforschen. Ihr Stoff sind nicht
mehr nur die gedruckten Schriften oder auch das auratische
Gespräch face to face mit (oder ohne) kontrafaktischen
Rationalitätsidealen
als Teilnahmebedingung, sondern das elektronische interface mit
all der Komplexität seiner Darstellungen, Verknüpfungen,
Such-
und Kommunikationsmechanismen.
Man
könnte diese durch die Digitalisierung und Vernetzung
transformierte
Hermeneutik auch artifizielle Hermeneutik nennen (Capurro
1993).
Friedrich Kittler hat den Ausdruck Hermenautik geprägt
(Kittler
1988). Der Ausdruck artifizielle Hermeneutik ist aber insofern
mißverständlich,
als bereits die Drucktechnik und letztlich auch die Schrift dem Bereich
des Artifiziellen, also des vom Menschen Gemachten angehören. Ich
habe in einem anderen Zusammenhang die elektronische
Artifizialität
im Sinne einer Unterwanderung der Interpretationsgemeinschaft
und
mit ihr des "wirkungsgeschichtlichen" (Gadamer) Zusammenhangs von
Tradition
und Interpretation folgendermaßen gedeutet:
"Es
ist besonders durch die elektronische Artifizialität mit ihrer
Vielfalt
an Medien, Netzen und kombinatorischen Ex- und Implosionen aus Bildern,
Tönen und Texten, wodurch wir schon im Vorfeld der Interpretation
nicht nur den inhaltlichen Überblick über das, was es alles
an
potentiell relevanten Mitteilungen gibt, immer schon verloren haben.
[...]
Durch die Artifizialität der Informationssphäre
verändern
sich auch die aisthetischen (aisthesis = Wahrnehmung)
Rahmenbedingungen
der herkömmlichen Hermeneutik. [...]
Während
die klassische rhetorische Situation vom Redner ausgeht, der zu
überzeugen
(persuasio) versucht, muß eine sozusagen artifizielle
Rhetorik
von der Bedingtheit der Kommunikanten durch die Zirkulationssphäre
der Information ausgehen, so daß rhetorische Kategorien wie
Findung
(inventio) oder Anordnung (dispositio) in Zusammenhang
mit
artifiziellen Techniken wie information retrieval,
Hypertext-Methoden,
Software-Design usw. neu bedacht werden müssen. [...]
Die
artifizielle Hermeneutik ist nicht bloß eine interpretierende,
sondern
eine zugleich konstruierende. Sie ähnelt somit eher der
Heideggerschen
Hermeneutik der Existenz im Sinne eines praktischen Lebensentwurfs als
der methodologischen Texthermeneutik der Geisteswissenschaften. Als
Hermeneutiker
und Hermenautiker stehen wir zwischen Tradition und Information. Wir
müssen
im vernetzten Labyrinth des Informations-Gestells navigieren
und
es lebensweltlich gestalten. Dieses klippen- und strömungsreiche
Labyrinth
arbeitet nicht nur, um an Nietzsche zu erinnern, "mit an unseren
Gedanken",
sondern auch an unseren Taten. Durch Humanismus, Naturalismus und
Technizismus
versuchen wir vergebens die Mitte unserer Existenz festzulegen. Wenn
wir
uns auf die Entzugsdimensionen des Informations-Gestells
einlassen,
dann zeigt sich in der Kühle und Profanität des Artifiziellen
die labyrinthische Natur unseres Begehrens, uns jenseits der Natur
technisch
anstatt metaphysisch zu transzendieren. Diese untergründige,
wuchernde
und chaotische Dimension des Artifiziellen, die nicht selten das Gewand
des Faszinierenden anhat, bietet einen unendlichen Stoff für
technologische
Mythen." (Capurro 1995, 72-77)
Man
könnte
diese digitale Transformation der Hermeneutik in die Terminologie der
Sozialtheorie
von Niklas Luhmann folgendermaßen übersetzen. Die
Gesellschaft
ist für Luhmann Kommunikation und diese besteht aus Mitteilung,
Information
und Verstehen. Unter "Mitteilung" bezeichnet Luhmann die Selbstreferenz
eines Systems, sofern dieses durch seine Handlung einen
"Selektionsvorschlag"
oder eine "Anregung" macht (Luhmann, Soziale Systeme, S. 194). Hier
wendet
sich Luhmann ausdrücklich gegen die Metapher einer dinglichen
Übertragung
von Information zwischen einem Sender und einem Empfänger. Aber
erst
wenn das System die Mitteilung annimmt (und nicht etwa ablehnt) und
eine
Selektion vornimmt, findet "Information", d.h. der Bezug des Systems zu
einem fremden Repertoire (Fremdreferenz), statt.
Den
Prozeß des Auseinanderhaltens und Beziehens von Mitteilung und
Information
nennt Luhmann "Verstehen". Er schreibt:
"Eine
Information kommt immer dann zustande, wenn ein selektives Ereignis
(externer
oder interner Art) im System selektiv wirken, das heißt
Systemzustände
auswählen kann. Das setzt die Fähigkeit zur Orientierung an
Differenzen
(im Zugleich oder im Nacheinander) voraus, die ihrerseits an einen
selbstreferentiellen
Operationsmodus des Systems gebunden zu sein scheint. "A 'bit' of
information",
heißt es bei Bateson, "is definable as a difference which makes a
difference". Das bedeutet, daß die Differenzen als solche
zu wirken beginnen, wenn und soweit sie in selbstreferentiellen
Systemen
als Informationen behandelt werden können." (Luhmann, Soziale
Systeme,
S. 68)
Luhmann
schreibt ferner:
"Die
Übertragungsmetapher legt das Wesentliche der Kommunikation in den
Akt der Übertragung, in die Mitteilung. Sie lenkt die
Aufmerksamkeit
und die Geschicklichkeitsanforderungen auf den Mitteilenden. Die
Mitteilung
ist aber nichts weiter als ein Selektionsvorschlag, eine Anregung. Erst
dadurch, daß diese Anregung aufgegriffen, daß die Erregung
prozessiert wird, kommt Kommunikation zustande." (Luhmann, Soziale
Systeme,
S. 193-194)
Vielleicht
entgeht aber Luhmann durch seine Kritik der Übertragungsmetapher
die
ganze Problematik einer Kunst des Mitteilens. Begriffe wie
"Selektionsvorschläge"
und "Anregungen" sind nicht nur zu allgemein, sondern auch nicht
medienspezifisch
reflektiert.
Luhmann
thematisiert zwar die qualitativen Unterschiede der Medien und ihrer
Auswirkung
auf "Kommunikation" im Sinne der Einheit von "Mitteilung",
"Information"
und "Verstehen", geht aber auf die interaktive Vernetzung nicht ein,
sondern
er bleibt auch in seinen neuen Veröffentlichungen auf die
"Realität
der Massenmedien" bezogen (Luhmann 1996 und 1997). In seiner
früheren
Schrift "Soziale Systeme" hatte er über die Wirkung des Mediums
auf
das Verhältnis von Mitteilung, Information und Verstehen folgendes
geschrieben:
„Erst
die Schrift erzwingt eine eindeutige Differenz von Mitteilung und
Information,
und der Buchdruck verstärkt dann nochmals den Verdacht, der sich
aus
der Sonderanfertigung der Mitteilung ergibt: daß sie eigenen
Motiven
folgt und nicht nur Dienerin der Information ist. Erst Schrift und
Buchdruck
legen es nahe, Kommunikationsprozesse anzuschließen, die nicht
auf
die Einheit von Mitteilung und Information, sondern gerade auf ihre
Differenz
reagieren: Prozesse der Wahrheitskontrolle, Prozesse der Artikulation
eines
Verdachtes mit anschließender Universalisierung des Verdachts in
psychoanalytischer und/oder ideologischer Richtung.“ (Luhmann, Soziale
Systeme, S. 223-224)
Es ist
hier die Frage, inwiefern die digitale Vernetzung eine neuartige Form
der
Differenz zwischen Mitteilung und Information bewirkt oder, anders
ausgedrückt, inwiefern die Prozesse der Wahrheitskontrolle und der
Verdachtsartikulation
sich im neuen Medium vollziehen.
In
einem Beitrag zum Thema Internet der italienischen Zeitschrift
Telèma.
Attualità e futuro della società multimediale bemerkt
Gianni
Vattimo, daß die Philosophen des 19. Jahrhunderts vom Bild des
Motors
und der Mechanik beherrscht waren (Vattimo 1997). Dieses Bild
verursachte
Ängste bezüglich des Verlustes des Menschlichen zum Beispiel
in der technisch-wissenschaftlichen Rationalisierung der Arbeit. Die
Idee
eines alles dominierenden Mittelpunktes prägte etwa die
Nazi-Propaganda.
Die Antipoden Heidegger und Adorno befürchteten den Verlust des
Charakters
von Unvorhersehbarkeit und Freiheit menschlichen Existierens. Wenn
aber,
so Vattimo, das Modell des Motors durch das des Netzes ersetzt wird,
wird
auch eine neue Einstellung der Philosophie zur Technik und ihren
existentiellen
Auswirkungen möglich. Die Moderne ist die Zeit des Motors und mit
ihm des Reisens und der mechanischen Industrie. Sie ist philosophisch
in
der Idee eines die Peripherie bewegenden Zentrums begründet. Eine
Idee, die sich kulturgeschichtlich in der Vorstellung einer
Europäisierung
der Welt ausdrückte.
Wenn
der Terminus post-modern irgendeinen Sinn hat, dann ist es genau die
Ablösung
jenes zentralen Motormodells durch die zunächst etwas vage
Vorstellung
eines Netzes mit seinen Verknüpfungen, das eines letzten Knotens
oder
eines letzten Fundaments nicht bedarf. Vattimo schreibt:
„Wenn,
wie es scheint, eines der Probleme oder vielleicht das die Philosophie
des 20. Jahrhunderts bestimmende Problem das Verhältnis zwischen
Freiheit
und wissenschaftlich-technischer Weltrationalisierung gewesen ist
[...],
dann läßt sich mit gutem Grund denken, daß das Thema,
das sich der Philosophie am Ende dieses Jahrhunderts und in den
darauffolgenden
Jahrzehnten stellt, ein Überdenken der menschlichen Existenz –
nochmals
die Frage von Freiheit und Geschichte – in bezug auf das Sichgestalten
des Netzes ist.“ (Vattimo 1997, S. 5, Übers. RC)
Wenn also,
wie Gadamer im anfangs zitierten Beitrag zum Historischen
Wörterbuch
der Philosophie bemerkt, die Hermeneutik in der Wissenschaftstradition
der Neuzeit steht, dann stellt uns die elektronische Vernetzung Vattimo
zufolge vor die Aufgabe, sie zugleich aus dieser Tradition und ihrer
Modelle
heraus und über sie hinaus zu überdenken. Das bedeutet zum
Beispiel
zu fragen, welche hermeneutische Tragweite Techniken wie das information
retrieval haben, die in den 50er Jahre entwickelt wurden und heute
durch Hypertextmethoden, elektronische Suchmaschinen, digitale
Bibliotheken,
E-Mail-Kommunikation, Videokonferenzen usw. neue quantitative und
qualitative
Dimensionen erschlossen haben. Ich meine hiermit nicht nur die Frage
nach
ihrer texthermeneutischen und rhetorischen Bedeutung, obwohl diese
Frage
zum Beispiel bei der Gestaltung elektronischer Informations- und
Kommunikationsdienste
von zentraler Bedeutung ist (Capurro 1992, Ingwersen/Pors 1996),
sondern
ebensosehr die Frage, wie sich, in Vattimos Worten, menschliches
Existieren
im Horizont einer sich allmählich vernetzenden Menschheit
vollzieht.
V.
WELTVERNETZUNG ALS INFORMTIONS-GESTELL
Im April
1994 hat Gianni Vattimo drei Vorlesungen auf Einladung von Umberto Eco
an der Universität Bologna gehalten, die unter dem Titel "Jenseits
der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die
Philosophie"
1997 in deutscher Übersetzung erschienen sind (Vattimo 1997). Die
erste Vorlesung "Die nihilistische Berufung der Hermeneutik" beginnt
mit
folgenden Worten:
„Die
Mitte der achtziger Jahre aufgestellte Hypothese, die Hermeneutik sei
zu
einer Art koine, einer gemeinsamen Sprache nicht nur der
philosophischen,
sondern der abendländischen Kultur insgesamt geworden, scheint
noch
nicht widerlegt zu sein.“ (Vattimo 1997, S. 13)
Vattimo
bezeichnet als Hermeneutik jene Philosophie, die durch Heidegger und
Gadamer
entwickelt wurde, auch wenn diese nicht die einzigen Klassiker der
Hermeneutik
des 20. Jahrhunderts sind. Heidegger und Gadamer stehen als Chiffren
für
eine begriffliche Spannung, die Vattimo als die zwischen Ontologie und
Sprachlichkeit bezeichnet. Gadamers „Urbanisierung der Heideggerschen
Provinz“
(Habermas) läßt sich so deuten, daß bestimmte für
Heidegger zentrale Themen, wie zum Beispiel das der Metaphysik als
Seinsvergessenheit,
in den Hintergrund treten oder ganz verschwinden. Eine Urbanisierung
gelingt
aber nur, so Vattimo, wenn man gerade diese ontologischen Aspekte nicht
vergißt.
Vattimos
These lautet, daß die hermeneutische Entdeckung vom Spiel der
Interpretationen
oder vom interpretativen Charakter der Wahrheit oder von der
„Schwächung
des Seins“ gewissermaßen selbst relativiert werden muß.
Geschieht
diese Relativierung im Sinne von Derridas Dekonstruktivismus, entsteht
der Anschein von Beliebigkeit und Irrationalismus. Vattimos Alternative
besteht darin, daß er die Geschichte des Nihilismus als Herkunft
der Hermeneutik erzählt. Eine solche Erzählung ist dann eine
schwache Form von Legitimation. Vattimo schreibt:
„Vor
allem dies ist die 'nihilistische' Bedeutung der Hermeneutik: Wenn wir
nicht denken, daß der Übergang von der Metaphysik der
Präsenz
zur Ontologie der Herkunft die Korrektur eines Irrtums sei, sondern das
Ereignis des Seins selbst, Hinweis auf ein ihm eigenes 'Geschick', dann
ist die durch diese Entwicklung offenbarte Tendenz zur Schwächung – eine solche fraglos nur, wenn
man nach der metaphysischen Kategorie
der
Präsenz, der Fülle geht – die Wahrheit von Nietzsches
Nihilismus,
der eigentliche Sinn des Todes Gottes, das heißt der
Auflösung
der Wahrheit als endgültiger und 'objektiver' Evidenz; bisher
haben
die Philosophen geglaubt, die Welt zu beschreiben, jetzt kommt es
darauf
an, sie zu interpretieren...“ (Vattimo 1997, S. 31)
Wenn ich
jetzt versuche Vattimo an dieser Stelle weiterzudenken, dann stellt
sich
die Frage, wie die elektronische Weltvernetzung oder das
Informations-Gestell,
wie ich die gegenwärtige Erschlossenheit in Anlehnung an Heidegger
bezeichne, in diese Geschichte hineingehört. Um den letzten Satz
aufzugreifen:
Die bisherigen Hermeneutiker haben geglaubt, die Welt zu
interpretieren,
jetzt kommt es darauf an, sie zu vernetzen. Allem Anschein nach stellt
die Weltvernetzung mit ihrem Anspruch an Gleichzeitigkeit und
Normierung
den Gipfel der Metaphysik der Präsenz dar. Vattimo weist aber
darauf
hin, daß der Begriff des Ge-Stells sowohl als Vollendung der
Metaphysik
als auch als die erste Ankündigung ihrer Überwindung
verstanden
werden kann (Vattimo, 1997, S. 157). Letzteres ist nur dann
möglich,
wenn wir die Vernetzung nicht transzendental, sondern geschichtlich,
als
eine sich gebende Erschlossenheit verstehen.
Daß
diese Interpretation nicht eine willkürliche Projektion ist, zeigt
Vattimos Hinweis auf die Zentrumslosigkeit des Netzes, auf seine
Schwäche
also. Mit einer auch von Vattimo benutzten Metapher können wir uns
mit Vattimo fragen, ob die Wahrheit, in der der „spätmoderne
Mensch“
„wohnt“ nicht als ein Wohnen in der Bibliothek von Babel (Borges), im
Gegensatz
etwa zu einer nationalen Staatsbibliothek, aufgefaßt werden kann
(Vattimo 1997, S. 131). Borges Bibliothek ist aber eine unendliche,
universale
und ewige. Sie ist eine metaphysische Bibliothek. Die Perspektive,
unter
der wir leben, ist aber die eines, so Vattimo, nie abgeschlossenen
Netzes
von Bezügen, ein Netz, „das durch die (nicht zwangsläufig aus
der Vergangenheit kommenden) vielfältigen Stimmen der
'Über-lieferung'
zustande kommt, welche in der Sprache erklingen, in der jene Sätze
formuliert sind.“ (Vattimo 1997, S. 132).
Was
einer solchen - wie wir heute sagen - multikulturellen Sicht zuletzt in
der Gestalt der elektronischen Vernetzung oder des
Informations-Gestells
ihre philosophische Legitimierung verleiht, ist nicht die bloße
Feststellung,
daß es eine Vielzahl von Perspektiven gibt, in deren
babylonischer
Überlagerung wir umherirren, sondern daß aufgrund des
Sterblichkeitscharakters
des Daseins oder der Ereignishaftigkeit des Seins diese Vielfalt von
Perspektiven
unterschiedliche menschliche Antworten auf eine sich-gebende
'Überlieferung'
sind.
Wenn
dem so ist, dann, so Vattimo am Schluß seiner Vorlesungen an der
Universität Bologna, muß die Hermeneutik Gadamers das
Verhältnis
zu jener „Über-lieferung“ wozu sie gehört, nämlich zur
Moderne,
überdenken:
„Das
Verhältnis der Hermeneutik zum modernen Szientismus oder zur Welt
der technischen Vernunft kann nicht nur oder hauptsächlich ein
Verhältnis
polemischer Ablehnung sein - als ob es einmal mehr darum ginge, den
theoretischen
und praktischen Irrwegen der Moderne ein wahreres Wissen und eine
authentischere
Sicht der Existenz entgegenzusetzen. Ganz im Gegenteil geht es darum,
anzuerkennen
und zu zeigen, daß die Hermeneutik eher eine „Konsequenz“ denn
eine
Anfechtung der Moderne ist.“ (Vattimo 1997, S. 156-157)
Die
Hermeneutik
muß den Anschluß an jenes wissenschaftlich-technische
Ereignis
der Spätmoderne finden, die unsere heutige Welt prägt,
nämlich
an die elektronische Weltvernetzung. Sie ist eine Weise der
Welterschlossenheit.
Entscheidend ist aber, daß wir sie als eine solche sehen und
gestalten
lernen. Im Vergleich zu anderen ererbten Erschlossenheiten und im
scheinbaren
Widerspruch zu ihrem wissenschaftlich-technischen Charakter zeigt sie
paradoxerweise
die Züge eines ephemeren und nicht kontrollierbaren Ereignisses.
Das
Internet ist in der Tat ein Mythos oder eine Fabel (Münke und
Roesler
1997), die aber, hermeneutisch gesehen, in die von Nietzsche
erzählte
Geschichte des Nihilismus gehört, als unsere Antwort auf die
„Über-lieferung“
der Moderne.
Welche
sind die Chancen und Grenzen einer transkulturellen (W. Welsch),
elektronisch
vermittelten Verständigung? Welche Formen dezentralisierter
Vorverständnisse
sind durch die Vernetzung möglich und wünschenswert? Das von
Friedrich Kittler geprägte Wort Hermenautik bringt eine
Seemannsmetapher
ins Spiel, die dem entlinearisierten und dezentrierten Netzmodell eher
entspricht als etwa die Vorstellung eines Zirkels (mit Zentrum und
Peripherie)
und sie schließt auch in diesem nautischen Kontext das Bild eines
Horizontes ein (Kittler 1988, Vgl. Capurro 1995).
Unsere Verständigungsprozesse gestalten sich immer mehr im Sinne
von
hermenautischen Netzen, in denen wir navigieren und an denen wir in
vielfältiger
Weise gemeinsam spinnen.
AUSBLICK
Spinnen
ist eine alte Metapher. Ekkehard Martens ist ihr in seinem Buch "Der
Faden
der Ariadne" nachgegangen (Martens 1991). Diese Metapher würde uns
in die Irre führen, wollten wir den einen roten Faden suchen, der
angeblich ins Zentrum des Labyrinths führt. Denn ein solches
Zentrum
gibt es nicht. Während das mythische Denken dem autoritativen
Faden
göttlicher (und später auch säkularer) Verkündungen
gehorchte, traute Sokrates (und später auch die Neuzeit) nur dem logos
(der ratio) . Aber weder mit der fremden Hilfe eines "roten
Fadens"
noch mit einer Überschätzung des Logosvertrauens ist es
getan.
In diesem Sinne schließt Martens seine Überlegungen mit
folgendem
Satz ab:
„Der
„berühmte und so fest gedachte Faden“ ist gerissen, hoffentlich.
Wir
müssen endlich damit ernst machen, ihn weiterzuspinnen, mit dem
Kopf,
aus dem Bauch und mit der Hand. Dabei gilt es gelassen zu
unterscheiden,
was in unserer Hand liegt und was nicht, auch, wann uns kreatives
Denken
und Handeln bloß als fremde Leistung abverlangt wird und wann es
eine notwendige und befriedigende Äußerung menschlichen
Daseins
ist.“ (Martens 1991, S. 101)
Das bedeutet
konkret, daß wir die ethische Frage nach dem Netzzugang (freedom
of access) im Sinne einer dritten epochalen Frage, neben den Fragen
nach der Rede- und Pressefreiheit (freedom of speech, freedom of the
press) nicht allein mit Überlegungen über
Rationalitätsmaßstäbe,
wie im Falle einer Diskursethik zum Beispiel, beantworten können.
Die Kraft des besseren Arguments ist keineswegs obsolet, aber sie ist
nicht
das entscheidende Kriterium etwa für das Angebot oder für die
Annahme (oder Ablehnung) einer elektronischen Botschaft. Gleichwohl
gilt
im Netz vordergründig die Maxime: "anything goes" (P. Feyerabend),
aber die Alternative ist nicht die Herrschaft einer zentralen Vernunft,
sondern das sich überschneidende transversale Gespräch der
Kulturen
und Traditionen. Das Netz ist nicht der Ausdruck einer reinen, sondern
einer mestizen Vernunft. Es ist auch kein kontrafaktisches Ideal einer
perfekten radikaldemokratischen Struktur.
Wenn
eine künftige Informationshermeneutik die Frage nach den
Bedingungen
der Verständigung zwischen den Menschen im Horizont der globalen
elektronischen
Vernetzung stellt, fragt sie auch nach den Grenzen dieses
Mitteilungsmodus.
Wolfgang Welsch schreibt dazu treffend:
„Genau
wenn Marshall McLuhans These, daß das Medium die Botschaft ist,
zutrifft
(und ich zweifle nicht, daß dies der Fall ist), dann müssen
den elektronischen Medien aus systematischen Gründen die
eigentümlichen
Erfahrungsformen der anderen Medien fehlen. Zwar können die
elektronischen
Medien auf alle Gegenstände zugreifen, aber – wie
jedes andere
Medium
auch – nur
nach ihrer eigenen Art“ – und
er fügt hinzu: „Medien
können,
anders gesagt, zwar universal, aber nicht total sein. Sie können
alles
beinhalten, aber nicht auf jede Art.“ (Welsch 1996, S. 317)
Man
könnte
diese letzte Bemerkung auf Latein formelhaft so ausdrücken: totum
sed non totaliter (das Ganze auf nicht auf jede Art). Der
Informationshermeneutik,
so wie der Hermeneutik der Oralität, der Schrift und des
gedruckten
Wortes, liegt jeweils eine Ontologie zugrunde. Ich spreche im Falle der
digitalen Medien und in Einklang mit Welsch von einer digitalen
Ontologie
und meine damit, daß wir die Welt digital entwerfen, so wie wir
sie
früher organismisch, energetisch usw. entworfen haben. „Esse est
computari“
ist die dem „esse is percipi“ (G. Berkeley)
entsprechende
ontologische Formel. Was ist, ist, was digitalisierbar ist. Aber auch
für
diese Ontologie gilt totum sed non totaliter. Der Sinn von Sein
bleibt offen, während aber zugleich unsere Existenz sich zunehmend
im digitalen Seinsentwurf entfaltet (Capurro).
Günter
Figal zufolge gibt es drei Ausprägungen philosophischer
Hermeneutik,
nämlich eine Hermeneutik wirkungsgeschichtlichen Geschehens, eine
Hermeneutik perspektivischer Integration und eine Hermeneutik sich
ereignender
Konstellationen, die sich gegenseitig begrenzen, ohne sich aber im
Hegelschen
Sinne aufzuheben (Figal 1996, S. 22ff). Die Hermeneutik
wirkungsgeschichtlichen
Geschehens basiert auf der Kontinuität von Traditionen. Verstehen
vollzieht sich aus der Geschichte als Überlieferung und auf sie
hin.
Ihre Grenze findet sie aber darin, daß das Verstehen als Erkunden
der eigenen Überlieferung diese sich „niemals wirklich aneignen
und
als ganze zur Durchsichtigkeit bringen“ kann (Figal 1996, S.
24).
Genau
dieses bildet den Ausgangspunkt der Hermeneutik perspektivi- scher
Integration.
Indem sie auf die Vorstellung einer umgreifenden Tradition verzichtet,
richtet sie ihr Augenmerk auf die Gegenwart:
„Das
Erinnern selbst ist gegenwärtig, und wo man etwas als Relikt oder
Zeugnis vergangenen Lebens versteht, gründet das in einer
erinnerten
Geschichte. So findet das gegenwärtige Leben im Erinnern zu sich
selber
zurück.“ (Figal 1996, S. 26)
Anstatt
sich also im Vergangenen zu verlieren, versucht sie das
Übriggebliebene
im gegenwärtigen Leben einzuverleiben. Was zählt, ist die
zeitlose
Präsenz. Diese wird aber „ausschließlich durch den
zeitlichen
Vollzug des Lebens gebildet und offen gehalten.“ (a.a.O.). Womit auch
ihre
Grenze angezeigt ist, nämlich, daß sie – wie
bei der
Hermeneutik
der Wirkungsgeschichte –
nicht sagen kann, in welchem Zusammenhang
etwas
verständlich sein soll. Letztere kann aber wiederum die
Perspektive
einer umgreifenden Präsenz nicht verstehen, „ohne diese wiederum
als
kontinuierliches Überlieferungsgeschehen zu denken.“ (Figal 1996,
S. 28)
Dieses
gelingt der Hermeneutik sich ereignender Konstellationen, indem sie
nicht
die Kontinuität, sondern den Bruch mit der Tradition als
Ausgangspunkt
nimmt. Dies bedeutet, daß die Möglichkeit eines Verstehens
plötzlich
auftaucht, die weder im Text noch im Interpreten allein angelegt war,
sondern
sich im Augenblick ihrer Begegnung vollzieht und durch keine
Überlieferung
garantiert wird.
„Ausgangspunkt
dieser Konzeption ist die wohl gut nachvollziehbare Beobachtung,
daß
Texte nicht zu jeder Zeit in gleicher Weise verständlich sind,
daß
Texte zu bestimmten Zeiten nichtssagend bleiben, während sie zu
anderen
als bedeutend entdeckt werden.“ (Figal 1996, S. 29)
Ihr entgeht
aber wiederum der Sinn der von Traditionen eröffneten
Freiräume.
Ich meine, daß eine künftige Hermeneutik, die sich dem
Phänomen
der elektronischen Vernetzung stellt, diese drei Hinsichten
mitreflektieren
muß:
- Sie
muß
zeigen, inwiefern das elektronische Medium andere Formen von
Traditionen,
als die des gesprochenen und gedruckten Wortes ermöglicht, und wie
diese Medien sich gegenseitig beeinflussen.
- Sie
muß
ferner zeigen, inwiefern die elektronische Virtualität eine neue
Erfahrung
zeitloser Präsenz darstellt, die wiederum auf wirkungeschichtliche
Zusammenhänge nicht verzichten kann.
- Und
sie
muß schließlich die unvorhersehbaren Verstehens- und
Nichtverstehens-Konstellationen, die sich im Netz u.U. im
Weltmaß- stab ereignen (oder nicht
ereignen),
artikulieren, sie auf entsprechende Freiräume von Traditionen
beziehen
und zugleich in ihrer multikulturellen Vielfalt legitimieren.
LITERATUR
Capurro,
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Information.
In:
K. Kornwachs,
K. Jacoby: Information. New Questions to a Multidisciplinary Concept,
Berlin
1996, S. 259-270.
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Berlin
1995.
-: What is information science
for?
A
philosophical
reflexion. In: P. Vakkari, B. Cronin, Eds.: Conceptions of
Library
and Information Science, London 1992, S. 82-93.
-: Plädoyer für eine
artifizielle
Hermeneutik.
In: Ethik und Sozialwissenschften 4 (1993) Heft 4, S.
522-524.
Figal,
G.: Der Sinn des Verstehens, Stuttgart 1996.
Gadamer,
H.-G.: Art. Hermeneutik, in: Historisches Wörterbuch der
Philosophie,
Bd. 3, 1974, Sp. 1061-1073.
-:
Hermeneutik im Rückblick (Gesammelte Werke Band 10), Tübingen
1995.
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P., Pors, N.O. Eds.: Information Science. Integration in Perspective,
Copenhagen
1996.
Kittler,
F.: Signal - Rausch - Abstand. In: H.U. Gumbrecht, K.L. Pfeiffer Hrsg.:
Materialität der Kommunikation, Frankfurt 1988, S.
342-359.
Krippendorff,
K.: Der verschwundene Bote. Metaphern und Modelle der Kommunikation.
In:
K. Merten, S. J. Schmidt, S. Weischenberg Hrsg.: Die Wirklichkeit der
Medien,
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Luhmann,
N.: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996.
-:
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Münker,
S., Roesler, A. Hrsg.: Mythos Internet, Frankfurt/M. 1997.
Vattimo,
G.: È una rete senza centro ma ci dà un premio: la
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In: Telèma 3 (1997a), 3-5.
-:
Jenseits der Interpretation. Frankfurt/M 1997.
Welsch,
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