Einleitung
In
seinem
1967 in der Akademie der Wissenschaften und Künste in Athen
gehaltenen
Vortrag schreibt Heidegger:
"Die
Kunst entspricht das physis und ist gleichwohl kein Nach- und
Abbild
des schon Anwesenden. Physis und téchne
gehören
auf eine geheimnisvolle Weise zusammen. Aber das Element, worin physis
und téchne zusammengehören, und der Bereich, auf
den
sich die Kunst einlassen muß, um als Kunst das zu werden, was sie
ist, bleiben verborgen." (M. Heidegger: Denkerfahrungen,
Frankfurt
a.M. 1983, S. 139)
Für
wen bleibt dieser Bereich "verborgen"? Zumal für unsere technische
Zivilisation, die sich mehr und mehr, über alle Grenzen hinweg,
ausbreitet
und somit sich jeder Möglichkeit einer selbstkritischen
Distanz beraubt. Und dennoch: wir sind dem nicht ausgeliefert.
Heidegger
wird öfter bekanntlich vorgeworfen, er verfalle mit seiner
Auffassung
des "Seinsgeschickes" im pessimistischen Mystizismus und ergreife die
Flucht
in die Antike durch seinen "Schritt zurück". Nichts von alledem.
Wir
lesen im selben Vortrag:
"Schritt
zurück heißt: Zurücktreten des Denkens vor der
Weltzivilisation,
im Abstand von ihr, keineswegs in ihrer Verleugnung, sich auf das
einlassen,
was im Anfang des abendländischen Denkens noch ungedacht bleiben
müßte,
aber dort gleichwohl schon genannt und so unserem Denken vorgesagt
ist."
(ebda.)
Das
Thema
Heidegger scheint indessen im deutschsprachigen Raum und insbesondere
in
der Bundesrepublik weiterhin von aller Art von Vorurteilen belastet zu
sein. Man braucht nur an die klischeeartigen Ausführungen von
Jürgen
Habermas in seinen Vorlesungen "Der philosophische Diskurs der
Moderne"
(Frankfurt a.M. 1985) zu denken, um das Groteske dieses
Mißverständnisses
(falls der Versuch eines Verständnisses unterstellt wird) zu
exemplifizieren.
Und Aristoteles? Er gilt inzwischen für viele als "Urvater" bzw.
"Urheber"
der heute herrschenden Technologie, nämlich der
Informationstechnologie
Die Bestrebungen der "Künstlichen-Intelligenz- Forschung", etwa in
der Herstellung von "Expertensystemen", haben in der aristotelischen
Logik
ihr Rezeptbuch gefunden.
I.
Heideggers Dialog mit Aristoteles
Franco
Volpi lädt uns mit seinem schlicht betitelten Buch Heidegger
und
Aristoteles zu einer Begegnung dieser Denker ein, die, ganz
außerhalb
von diesen Klischees, zur Sache selbst führt. Der Dialog
Heideggers
mit Aristoteles ist zwar ein lebenslanger Dialog gewesen, aber der
Verfasser
betont mit Recht drei Höhepunkte, nämlich
- die
frühe
Anwesenheit des Aristoteles in Heideggers Seinsfrage, indem diese durch
den scholastischen Filter Brentanos und Braigs zu ihm drängt und
zu
Aristoteles führt;
- die
(etwa
zehnjährige) Periode des Ausbrütens von Sein und Zeit,
als die entscheidende Zeit des Dialogs, die sich in den Marburger
Vorlesungen
sowie in Sein und Zeit selbst niederschlägt;
- und
schließlich
die Anwesenheit Aristoteles' nach der "Kehre".
Dementsprechend
fällt der Schwerpunkt von Volpis Ausführungen auf den
zweiten
Höhepunkt, der mit der Überschrift "Wahrheit, Subjekt,
Zeitlichkeit"
gekennzeichnet ist. Heidegger begegnet Aristoteles ausgehend von den in
der Husserlschen Phänomenologie offen gelassene Frage nach der
ontologischen
Konstitution des menschlichen Lebens bzw. der "Lebenswelt". In dieser
Begegnung, die auf eine kategoriale Differenzierung hinausläuft,
öffnet
sich der Blick für die Kantische Frage nach der Einheit des
Kategorialen,
die, sofern sie auf ein endliches Subjekt zurückgeführt wird,
den Zusammenhang zwischen Subjektivität (bzw. "Dasein") und
Zeitlichkeit
offenbart.
Damit kündigt sich zugleich die zentrale "These"
Heideggers
bezüglich des metaphysischen Seinsverständnisses im Sinne von
Anwesenheit, mit der dazugehörigen Privilegierung der zeitlichen
Dimension
der Gegenwart an. Gegenüber einer kategorialen bzw.
"gnoseologischen"
Wahrheitsauffassung sucht Heidegger, Husserl folgend, in Aristoteles
die
Spuren einer präkategorialen "fundierenden" Wahrheit, wobei
solange
man den Bereich eines endlichen Subjektes nicht verläßt,
eine
solche "Fundierung" auf die Einheit von sinnlicher Wahrnehmung und
Verstand
bezogen bleibt.
II.
Aristotelische Kategorien und Heideggersche Existenzialien
Der Verfasser
erläutert in klaren Umrissen die Kernpunkte der Heideggerschen
Analysen
aus De interpretatione sowie aus ausgewählten Stellen der Metaphysik.
Es geht dabei u.a. darum zu zeigen, inwiefern die Struktur des
prädikativen logos nicht nur in die Frage nach der
"Wahrheit",
sondern vor allem
in die nach dem "Wahr-sein", also noch einem ontologischen
vorprädikativen
Sinne von Wahrheit mündet.
Die psyche ist "in" der
Wahrheit,
d.h. sie ist in der Weise des "Entbergens" (aletheuein).
Während
es bei den prädikativen Wahrheit um die Wahrheit bzw. Falschheit
der
Aussage geht, geht es bei der ontologischen Ebene um das "Vernehmen"
bzw.
"nicht Vernehmen" (noein / agnoein) des
Sich-Entbergenden.
Mit anderen Worten, das Sein, temporal vorverstanden als "Anwesenheit",
ermöglicht erst die Prädikation des "Wahren" und "Falschen".
Dieses temporale Vorverständnis des Seins bildet, wie der
Verfasser
richtig bemerkt, die eigentliche "Entdeckung" Heideggers, die ihn zu
einem
kritischen Durchgang durch die Geschichte der Metaphysik führt. In
einem zweiten Schritt erläutert Volpi die gewissen
Parallelität
zwischen den ontologischen Bestimmungen von "Dasein", "Zuhandenheit"
und
"Vorhandenheit" als die drei Seinsmodi, die Heidegger in Sein und
Zeit
eingehend erörtert und den aristotelischen Unterscheidungen
zwischen praxis, poiesis und theoria, wobei,
nach
Ansicht Volpis,
die Korrespondez praxis / "Dasein" zunächst
ungewöhnlich
erscheint.
Hier zeigt der Verfasser, wie mir scheint, den
entscheidenden
Durchbruch Heideggers in seiner Kritik der bisherigen Vorherrschaft
einer
kognitiv-theoretisch orientierten Bestimmung des Menschen. Hier liegt
auch
der Anknüpfungspunkt Heideggers am "praktischen" Denken
Aristoteles'
in der Nikomachischen Ethik (bes. im VI. Buch), wobei man
erneut
die erstaunliche produktive (!) Parallelität, die aus diesem
Dialog
hervorgeht, feststellen kann, z.B. in Bestimmungen wie "Gewissen" / phronesis,
"Sorge" / orexis, "Entschlossenheit" / prohairesis,
"Befindlichkeit" / pathe bis hin zur Deuttung des
"Verstehens"
im Sinne des nous praktikós.
III.
Die Frage nach der Zeit
Im
Hinblick
auf die Frage nach der Zeit, den dritten Schwerpunkt von Volpis
Analysen
dieses zweiten Höhepunktes in der Begegnung zwischen Heidegger und
Aristoteles, ist die (christlich-) kairologische gegenüber der
"chronologischen"
Erfahrung der Zeitlichkeit für Heidegger bedeutsam.
Heidegger
reift schrittweise, so Volpi, zu seiner Auffassung, daß die
Zeitlichkeit die Struktur menschlichen Lebens darstellt. In
diesem
Reifungsprozeß
setzt sich Heidegger kritisch mit der naturalistischen Auffassung der
Zeit
bei Aristoteles auseinander, indem er, aufgrund einer Analyse der
Bestimmung
der Zeit in der Physik, die aristotelische Definition als die
Frage
nach dem Zusammenhang zwischen der Zeit und der (zählenden)
"psyche",
d.h. also als die Frage nach der ontologischen Bestimmung der "psyche"
nachweist.
Der
Rezensent kann hier nur auf den analytisch 'glasklaren'
Text des Verfassers hinweisen, der diese schwierige
Aus-einander-setzung
zwischen Heidegger und Aristoteles in einer so zentralen Frage
meisterhaft
bewältigt. Von der aristotelischen ("vulgären") Auffassung
der
Zeit führt dann der Weg zur Analyse der "Zeitlichkeit" sowie der
"Temporalität",
von wo aus erst das primus und posterius der Bewegung
in
ihrer Dimensionalität (wozu auch das nunc gehört)
erfaßt
werden können. So gelangt Heidegger, von Aristoteles ausgehend,
zur
Zeitlichkeitsstruktur des "Daseins" (in Sein und Zeit).
IV.
Heideggers Radikalisierung der Metaphysik
Die
Anwesenheit
Aristoteles' nach der "Kehre", so der Titel des letzten Teils des
Buches,
weist zunächst auf die Heideggersche Radikalisierung der
Metaphysik
(etwa in der "Physis"-Schrift),
indem das (metaphysische) Projekt einer
"Fundamentalontologie" verlassen wird, hin. Der Verfasser vertieft aber
die Anwesenheit Aristoteles' in den Jahren 1929 bis 1931, in denen die
Fragen nach dem "Ort" des 'logos'
im Ereignis der Wahrheit (seine
weltbildende
Kraft), nach dem Sein als Anwesenheit und als Wahrheit (Sein als energeia)
bis hin zur entscheidenden Entdeckung des Seins als physis (wie
es die "Vorsokratiker", vermutlich erfahren haben) und seines
"Einfangens"
in der techne im Vordergrund stehen.
Das Phänomen der
Technik
wird vom 'späten' Heidegger insofern radikal in Frage gestellt,
als
es die anfänglich positiv bewertete Operationalität des
"Zuhandenen"
beinahe monströsen bzw. zerstörerischen Dimensionen erreicht.
Demgegenüber betont aber Heidegger, daß techne bei
den
Griechen das eigentliche "Gegenüber" der physis darstellt,
d.h. das, wodurch die physis in ihrer Offenheit und
"Verborgenheit"
aufgenommen wird, sowie das, wodurch die physei onta so in
ihren
"Formen" (eidos, idea) erkannt werden, daß man etwas
Entsprechendes
gegenüberstellt. Dieses "Gegenüber" von techne und physis
bedeutet aber (noch) nicht den Verlust der physis in ihrer
"überwältigenden"
Dimension.
Was Heidegger in der "Physis"-Schrift leistet, so mit Recht
der Verfasser, ist eine (im doppelten Sinne des Wortes) epochale
Auslegung
des Aristoteles, nämlich eine 'Über-Setzung' von Fragen, die
längst überholt schienen, während sie in Wahrheit
unserer
modernen Auffassung von Natur und Technik buchstäblich
zugrundeliegen.
Darauf weist Volpi ausdrücklich im Schlußkapitel hin. Gerade
für eine Analyse der Moderne bietet der Dialog
Heidegger-Aristoteles
entscheidende Anhaltspunkte.
Schluß:
Offene Fragen
Zwei
kritische
Bemerkungen schließen diese Arbeit:
- Vollzieht
tatsächlich das Wesen der modernen Technik den originären impetus
des griechischen logos? und
- inwiefern
ist dem "Finitismus" Heideggers zuzustimmen, daß die Zeit den logos
formt und nicht umgekehrt wie für die Griechen?
Volpi
deutet an, beide Fragen gewissermaßen vereinigend, daß es
einen
"polyvalenten logos" gibt,
den es gegenüber einem
"eindimensionalen logos"
wiederzugewinnen gilt. Müßte man nicht auch von einer
'polyvalenten techne' bzw.
Technik, sprechen? Wie steht es aber dann
mit der Frage nach der Kunst? Ist nicht Eros ein großer
Dämon,
der zu verdolmetschen weiß? Heidegger in Dialog mit Platon?
Weiterführende
Literatur
R.
Capurro: Martin Heidegger
R.
Capurro: M. Heidegger: Ausgewählte
Werke
Letzte
Änderung: 23. Juli 2017
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