I.
Heideggers existenziale Erstreckung der Sinnlichkeit
John
Sallis
vertritt die These, daß Heideggers Auslegung des Sinnlichen im
Sinne
eines "Sich-herausdrehens in die Erschlossenheit" ("twisting free into
disclosedness") eine "Unterordnung des Sinnlichen unter die Bedeutung"
mit sich bringt. "Twisting free" ist die von Sallis übernommene
Übersetzung
David Krells aus Heideggers Vorlesung "Der Wille zur Macht als Kunst"
in
der es heißt:
"Insofern
muß die Umdrehung eine Herausdrehung aus dem Platonismus werden."
(N I, S. 242).
Sallis'
Kritik mündet in folgende Fragen:
1.
Muß die Heideggersche Bewegung der Unterordnung (Unterjochung)
des
Sinnlichen unter die Bedeutung den sinnlichen Charakter der Dinge
aufgeben,
da dieses stets auf Anwesenheit zurückführbar ist?
2.
Inwiefern wird Heideggers Bestimmung des Sinnlichen als des Vorhandenen
und Anwesenden gerade durch den Rückgriff auf die Bedeutung bzw.
auf
das "Intelligible" ermöglicht, so daß Heideggers
Herausdrehung
aus dem Platonismus nicht gelingt?
Ich
meine, daß Sallis' Kritik in mehrfacher Hinsicht fragwürdig
ist.
Die
Analyse der "Umwelt" zeigt zwar ein vielfältiges Erscheinen der
Dinge
im Sinne einer "Verweisungsmannigfaltigkeit", die sich aber nicht in
einer
Unterordnung des uns sinnlich Begegnenden unter der Bedeutung bzw. des
Sinnlichen als des anwesend Vorhandenen erschöpft (Heidegger 1976:
69). So hebt Heidegger die Seinsart der Natur in ihrer Entdeckung als
"pure
Vorhandenheit" von ihrem Zuhandensein ("Der Wald ist Forst, der Berg
Steinbruch")
ab, aber er fügt auch hinzu, daß dem Entdecken von Natur in
der Weise der Vorhandenheit "auch die Natur als das, was »webt
und
strebt«, uns überfällt, als Landschaft gefangen nimmt,
verborgen" bleibt. (Heidegger 1976: 70). Das Zum-Vorschein-Kommen des
Zeugs
als des Vorhandenen dient nicht einer "Unterordnung des Sinnlichen"
unter
der Bedeutung, sondern dem Sichtbar-werden-lassen des
Verweisungsphänomens.
Dieses Phänomen gründet keineswegs in einem
intellektualistischen
Primat der Bedeutung, sondern die "Entdecktheit" nicht
daseinsmäßigen
Seienden gründet in der "Erschlossenheit" der Welt (Heidegger
1976:
85-86). Diese Welterschlossenheit tut sich uns primär, und zwar "vor
allem Erkennen und Wollen und über deren
Erchließungstragweite hinaus" (Heidegger 1976: 136), in
der Befindlichkeit
kund. Es ist
die Konstitution des "Da-seins als Befindlichkeit" wodurch "ein
Sichrichten
auf..." und somit jede Bedeutung "allererst möglich"
wird
(Heidegger 1976: 137). Das bedeutet nicht nur eine Loslösung von
der
vorherrschenden Cartesischen ontologischen Sicht, die das Phänomen
der Welt "überspringt", sondern auch eine Infragestellung des
Primats
der Bedeutung im Sinne Sallis'.
Die
sinnliche Wahrnehmung wird nicht der Bedeutung untergeordnet, sondern
von
der Welterschlossenheit her ausgelegt. Erst aus einer wie auch immer
gestimmten
Erschlossenheit nehmen wir auch uns selbst und die Dinge wahr oder
verschließt
sich uns diese Möglichkeit und zwar "hartnäckiger als jedes Nicht-wahrnehmen"
(Heidegger 1976: 136). "Und nur weil die »Sinne«
ontologisch
einem Seienden zugehören, das die Seinsart des befindlichen
In-der-Welt-seins
hat, können sie »gerührt« werden und »Sinn
haben für«, so daß das Rührende sich in der
Affektion
zeigt." (Heidegger 1976: 137) (3). Das Sinnliche ist
das uns sinnlich 'affektierende' Seiende. Demgegenüber bemerkt
Heidegger,
daß bei Descartes die Sinne "überhaupt nicht Seiendes in
seinem
Sein erkennen (lassen)" (Heidegger 1976: 96). So trägt z.B.
für
Descartes die Härte eines Körpers nicht zu seinem Sein bei,
da
sie verschwinden würde, würde der Körper sich mit der
gleichen
Geschwindigkeit bewegen wie meine ihn berührend wollende Hand
(Heidegger
1976: 91). Und so mit allen anderen sinnlichen Erfahrungen - die
Ausdehnung
ausgenommen. Damit findet nicht nur eine Reduktion des Sinnlichen
"unter
die Herrschaft einer Seinsidee" (Heidegger 1976: 97), sondern auch eine
Reduktion des menschlichen Leibes als "res extensa" statt (4).
Die
Gleichursprünglichkeit von Befindlichkeit und Verstehen bedeutet
keine
Unterordnung der ersten unter dem zweiten. Heidegger betont, daß
die "primäre Entdeckung der Welt "der »bloßen
Stimmung«"
überlassen werden muß (Heidegger 1976: 138). Die Analyse der
Angst zeigt, daß das Dasein sich zum Tode als "Unmöglichkeit
der Existenz überhaupt" verhalten kann, und zwar nicht als
"begaffen
eines Sinnes" (Heidegger 1976: 263), sondern als Sorge um die endlichen
Möglichkeiten der Existenz, wobei es nicht nur die Freigabe der
eigenen
Existenz, sondern zugleich die der Anderen in ihrem jeweiligen
Seinkönnen
erst 'wahr-nehnem' kann. Das Verstehen erlöscht also nicht die
Grundlosigkeit
des Daseins, sondern diese wird von der Befindlichkeit der
"nüchternen
Angst" oder auch der "gerüsteten Freude" (Heidegger 1976: 310)
offen
gehalten (Heidegger 1976: 265). Der Entwurf des Daseins bleibt
"wesenhaft nichtig" (Heidegger 1976: 285). Im
Schlußabsatz
von "Sein
und Zeit" heißt es sogar, daß die "unbegriffliche
Erschlossenheit
von Sein" unser existierendes Verhalten zu Seiendem ermöglicht,
und
es ist von einer "ursprünglichen Zeitigungsweise der ekstatischen
Zeitlichkeit" die Rede, wodurch also der Versuchscharakter der
"Fundamentalontologie"
offenkundig(er) wird (Heidegger 1976: 437).
Es
ist aufgrund der Erstrecktheit menschlichen Daseins in der
"Welterschlossenheit",
daß das uns sinnlich Begegnende affiziert. Das Scheinen der Dinge
bleibt dadurch nicht, wie Sallis meint, auf Anwesenheit reduziert,
sondern
diese wird vom Gewesen- und Zukünftig-sein des "Daseins" immer
schon
mitbestimmt. Indem das Dasein die Welterschlossenheit
stimmungsmäßig
'aus-hält', scheint diese im sinnlichen Begegnenden durch, sei es
positiv oder privativ. So zum Beispiel in der Situation eines
brennenden
Hauses, wo die Stimmung der Furcht zu einem "verwirrten
Gegenwärtigen
des Nächsten-Besten" führt, so daß man "oft das
Gleichgültigste,
nächst Zuhandene" rettet (Heidegger 1976: 342). Dieses Beispiel
zeigt
'ex negativo', daß das sinnlich Begegnende uns nie
ausschließlich
als Anwesendes affiziert, sondern daß gerade unsere Affekte einen
zeitlich-ekstatisch fundierenden Charakter für das uns sinnlich
Affizierende
haben, so daß z.B. das hoffende oder verzweifelnde 'Wahr-nehmen'
eines Hauses uns aus der ursprünglichen Erschlossenheit von Welt
"angeht"
(Heidegger 1976: 137).
Dementsprechend
unterscheidet Heidegger zwischen dem "Rührenden in der Affektion"
bei einem Seienden von der Seinsart des Daseins und dem "Druck und
Widerstand"
zwischen zwei nicht daseinsmäßigen Seienden. Während
die
ekstatisch erstreckte Sinnlichkeit Seiendes in der Welt in einer
primär
durch die Stimmung erschlossenen Welt "entdeckt", vermag ein nicht
'existierendes'
Seiendes nicht so vom "Innerweltlichen" "angegangen" zu werden (ebd.).
Auch ein "reines Anschauen", bei dem die Zeitekstase der Anwesenheit
vorherrscht,
ist im Falle des Daseins keineswegs vom Erstrecktheitscharakter frei,
sondern
es ist, wie Heidegger in Anschluß an Aristoteles betont (Met A 2,
982 b 22 ff), ein 'musisches' ("rastone") und 'freies'
("diagogé")
Verhalten ("phrónesis"), bei dem auch "ein neuer Reichtum" des
"Entdeckbaren
beschlossen liegt" (Heidegger 1976: 138). Wenn uns also sinnlich
Begegnendes
in der Weise der "reinsten 'theoría'" oder des Bedrohlichen
affizieren
kann, dann nur auf dem Grunde unserer Seinsweise als existenziale
Erstrecktheit.
"Affizieren" heißt für Heidegger vom Seienden so sinnlich
"angegangen"
werden zu können, daß wir Seiendes z.B. als "Bedrohliches"
entdecken
können. Dies aber setzt eine zeitlich-ekstatische
Welterschließung
voraus.
Mit
anderen Worten, affiziert werden kann nur ein Seiendes, daß "in
einem
ständigen Modus der Gewesenheit existiert" (Heidegger 1976: 346) (5).
Keineswegs reduziert also Heidegger das Sinnliche auf die Gegenwart,
sondern
"Reiz" und "Rührung" der Sinne verweisen uns ekstatisch auf unsere
Faktizität bzw. auf unsere "Angewiesenheit auf Welt" (Heidegger
1976:
137). Über den Zusammenhang von Leiblichkeit, Gefühl und
Dasein
schreibt er:
"Wir
»haben« nicht einen Leib, sondern wir »sind«
leiblich.
Zum Wesen dieses Seins gehört das Gefühl als das
Sichfühlen."
(N I, S. 118)
Heidegger
betont die doppelte Leistung des Gefühls, nämlich auf der
einen
Seite den "Einbezug des Leibes in unser Dasein", das "Sichfühlen",
zum anderen "das Gefühl-haben für das Seiende im Ganzen".
Letzteres
ist genau jene ekstatische Erstreckung der Sinnlichkeit wodurch erst,
wie
Heideggers Beispiel zeigt, so etwas möglich wird, daß durch
"eine Magen-»verstimmung«" "eine Verdüsterung
über
alle Dinge" sich legen kann (N I, S. 118-119). Mit anderen
Worten,
"die
Stimmung ist gerade die Grundart, wie wir außerhalb
unserer
selbst sind. So aber sind wir wesenhaft und stets." (ebd.)
Wesentlich
ist dabei, daß die Erstreckug der Existenz endlich ist (6).
"Das erstrecke Sicherstrecken", so Heidegger wörtlich,
"ist
das Sein des »Zwischen« mit Bezug auf Geburt und Tod."
(Heidegger
1976: 374)
Heidegger
betont den Unterschied zwischen diesem endlichen existenzialen
Sicherstrecken
des Existierens als 'ent-schlossener' Bezug zu den "gewesenden"
Möglichkeiten
bzw. als Offenheit für das Neue einer geschichtlichen Situation
(Heidegger
1976: 391) und dem Nacheinander von Jetztpunkten oder der Erstreckung
einer
aufgezogenen Feder. Die existenziale Erstreckung wird aber nicht erst
durch
das "Kennen" und "Nichtkennen" des jeweiligen ontischen "Kommenden" und
"Gewesenen" des Daseins konstituiert, sie steht also nicht unter dem
Joch
der Bedeutung, sondern dieses Kennen und Nichtkennen setzt die
Erstrecktheit
voraus (Heidegger 1991: 50).
Wenn
wir also unser Leben ekstatisch und stimmungsmäßig 'leiben'
und "jeder Augenblick des Da-seins" "als diese dreifach-einige
Ent-rückung"
(ebd.) geschieht, dann bestimmt diese Erstrecktheit unsere
Sinnlichkeit.
Die existenziale Gespanntheit der Sinnlichkeit betrifft, wie Heidegger
mit Bezug auf die Struktur der Datierbarkeit ausführt, sowohl das
"jetzt" als auch das "damals" und das "dann" (Heidegger 1976: 409). Die
Auslegung bzw. das Vergessen der Erstrecktheit setzt die
Erschlossenheit
voraus und zwar so, daß der alltägliche Verlust an
Zusammenhang
(die "gelöcherte Zeit" (Heidegger 1976: 410) nicht die Umkehrung
eines
linearen Zeitflusses, sondern eine Weise der Zeitigung der
"Ent-schlossenheit"
darstellt. Die Loslösung der Wahrnehmung vom ekstatischen Horizont
der Zeitlichkeit beruht auf dem metaphysischen Entwurf des Seins als
Anwesenheit
und führt zu einer Reduktion der Wahrnehmung als "Wahrnehmung von
Vorhandenem" (Heidegger 1975: 448). Genau gegen diese von Sallis
monierte
Reduktion richtet sich Heideggers existenziale Erstrekung der
Sinnlichkeit.
Wir
leiben unsere "Existenz" sinnlich-ekstatisch. Es ist nicht so, wie
Heidegger
in seiner Husserlkritik betont, daß ein "transzendentes Objekt"
"draußen"
durch ein "immanentes Bild" im Bewußtsein erfaßt wird,
sondern
unser "intentionales Erkennen" ist "nur auf dem Grunde einer nicht
erkennenden
Verhaltung", der Befindlichkeit also, möglich (Heidegger 1979:
222).
Die sinnliche Wahrnehmung eines die Weltoffenheit 'wahr-nehmenden'
Seienden
ist kein Prozeß, wodurch ein Subjekt aus seiner
"Innensphäre",
wie eine Schnecke aus ihrem Gehäuse (Heidegger 1979: 223-224; Vgl.
Heidegger 1976: 62) hinausgeht, sondern wir halten uns immer schon
"draußen".
Dieses "draußen" ist ein Sinnlich-bezogensein auf das uns
Begegnende
und zwar im Sinne einer existenzial erstreckten Sinnlichkeit. Medard
Boss
beschreibt diesen Sachverhalt mit folgenden Worten:
"Jetzt
gerade bin ich zum Beispiel hier mit meinem Gesprächspartner beim
Thema unserer Diskussion. Ich bin in Südafrika, bei einer dort
durchgeführten
Herztransplantation. Ich bin aber ineins auch hier, wo dort der Tisch
und
wo dort drüben das Fenster ist und wo weiter dort draußen
das
Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht. Das
jederzeitige
»Hier« eines Menschen gibt es immer nur als sein hiesiges
Sein
bei den Gegebenheiten dort. Also bestimmt sich mein jeweiliges
»Hier«
stets von dem »Dort« des mir im offenständigen
Vernehmensbereich
meiner Welt Begegnenden her." (Boss 1975: 284)
Die
Besonderheit
unseres "Leibens" rührt also vom Existieren nicht von der
Bedeutung,
daher auch der methodische Zugang von dem, was "zunächst und
zumeist"
verdeckt bleibt. Würden wir methodisch vom Leiblichen ausgehen,
kämen
wir nicht auf das Existieren. Dieses aber, das Existieren, ist, so
Medard
Boss anschließend, "was »leibt«" und deshalb ist es
auch
"das Leibliche des Menschen methodisch im Grunde das letzte, wenn es
auch
das sinnenhaft erste, das zuerst sich dem Blick Aufdrängende."
(ibid.).
Die
Sinnlichkeit wird also bei Heidegger nicht durch ein
übersinnliches
Reich der Bedeutungen unterjocht, genausowenig wie das sinnliche
Scheinen
des uns Begegnenden auf die Anwesenheit reduziert wird. Sallis' Frage,
nämlich "wie im Scheinen des Sinnlichen ein gewisses Aufspannen (spacing)
wirkt" (Sallis 1993: 38) ist also dahingehend zu beantworten, daß
die ekstatische Erstreckung der Sinnlichkeit ein solches "Aufspannen"
nicht
(be-)"wirkt", sondern zum Vorschein kommen läßt, und zwar im
Sinne eines Durchscheinens des Seins im Möglichsein des
Sinnlichen.
So setzt also Seinsverständnis immer schon das sinnlich-befindlich
'Aus-halten' der Welterschlossenheit voraus, ohne sich aber in der
erstreckten
sinnlichen Affektion zu erschöpfen. Das heißt wiederum,
daß
wir auch vom "Leiben" 'wegschauen' können, ohne daß wir aber
dabei aufhören unser Leben zu 'leiben'. Das geschieht z.B., wenn
wir
"»mit Leib und Seele« bei einer Sache" sind oder wenn wir
etwas
in seiner Bedeutung erfassen (Heidegger 1987: 244-247).
Das
"Weg-sein" des Leibes bedeutet aber nicht, eine cartesianische Trennung
oder gar eine "Unterordnung des Sinnlichen unter die Bedeutung"
(Sallis),
sondern
"das
Leiben gehört immer mit zum In-der-Welt-sein. Es bestimmt das
In-der-Welt-sein,
das Offensein, das Haben von Welt immer mit. (...) Mit »Leib und
Seele« bei etwas sein, heißt: mein Leib bleibt hier, aber
das
Hiersein des Leibes, mein Sitzen auf dem Stuhle hier, ist seinem Wesen
nach immer schon ein Dortsein bei etwas. Mein Hiersein zum Beispiel
heißt:
Sie dort sehen und hören." (Heidegger 1987: 126-127)
Nicht
nur das Seinsverständnis, sondern ebensosehr die Sinnlichkeit
sind,
entgegen Sallis' Deutung der Letzteren, immer schon ekstatisch
erstreckt.
Er schreibt:
"Obwohl
in der Tat die Erschlossenheit jenseits jeder Hoffnung einer
Selbstaneignung
ausgespannt wird, ist es eben eine solche Spanne, die dem Sinnlichen
verweigert
wird." (Sallis 1993: 36)
Wenn
Heidegger
die Leiblichkeit als ursprüngliche Weise des "In-der-Welt-seins"
bestimmt,
dann stellt sich die Frage, inwiefern die damit wesenhaft
zusammenhängende
Geschlechtlichkeit die Grundlage für eine je faktische Bestimmung
von Männlichkeit und Weiblichkeit ausmacht, oder, wie Heidegger
selbst
mit Bezug auf die Frage nach der "Neutralität" des "Daseins"
ausführt,
inwiefern es sich umgekehrt verhält. Leiblichkeit und
Geschlechtlichkeit
sind dann nicht lediglich biologisch, sondern primär existenzial
zu
deuten, d.h. es ist die vorgängige Wesensfülle menschlicher
Verhaltensmöglichkeiten,
die "die innere Möglichkeit für die faktische Zerstreuung in
die Leiblichkeit und damit in die Geschlechtlichkeit" in sich birgt
(Heidegger
1978: 173. Vgl. Eldred 1989 und Capurro 1993).
Medard
Boss spricht von der "androgynen Fülle an mitmenschlichen
Verhaltensweisen"
(Boss 1984: 161). Er berichtet von Regula Zürchers Schilderung der
Geschlechterliebe im Sinne einer "Ekstase des ganzen Menschen" bzw.
einer
beider Liebenden umfassenden "Entrückung", wobei er zugleich eine
mögliche "Inflation" dieser Beziehungsmöglichkeit als eine
Einengung
eben jener Wesensfülle deutet (Boss 1975: 398-399) Gemeint ist
damit
die Einschränkung des eigenen ekstatisch-leiblichen Bezuges zum
Gegenwärtigen,
Gewesenen und Zukünftigen, sofern dieser Bezug eben eines
ständigen
Haltes in dieser faktischen Form des Leibens zu einem geliebten Mann
nötig
hat. Es ist aber die Wesensfülle der sinnlichen und geistigen
Erstreckung
des Existierens, d.h. also die Gleichursprünglichkeit von
Befindlichkeit
und Seinsverständnis, die den offenen Raum für das freie
Austragen
einer bestimmten Ausformung sinnlich-geschlechtlichen Existierens
gewährt.
Von
hier aus läßt sich das von Wolfram Hogrebe postulierte
Primat
der "Mantik" gegenüber der Semantik so (um)deuten, daß unser
"Hinaussein ins Unbestimmte" der hermeneutischen Namensgebung der Dinge
vorausgeht, so daß wir dadurch (!) "pronominaler" oder
"subsemantischer"
Natur sind (Hogrebe 1992: 18). Was sich kundtut, wenn die Worte fehlen,
bleibt deshalb offen vor bzw. nach der nominalen Deutung, weil wir eben
als dieses "Hinaussein" existieren. Diese "indefinite
Pronominalität"
ermöglicht uns, daß wir von der Weltoffenheit ausgehend,
unsere
Deutungen sowohl auf reale als auch auf imaginäre Welten ausdehnen
können. Das Hinaussein des Daseins bzw. sein "Entwurfscharakter"
ist
aber für Heidegger, entgegen Hogrebes Auffassung, nicht
daseinsrelativ
schlechthin, sondern das Dasein entwirft Welt ausgehend von der durch
die
Befindlichkeit (also "pronominal") eröffneten Dimension der
Faktizität
seines "In-der-Welt-seins". Es ist diese Faktizitätsdimension, die
die ekstatische Transzendenz des Daseins in ihrem Entwurfscharakter
abgründig
'fundiert'. In Heideggers Worten:
"Das
»Sein« »wird« nicht erst zum Sein durch
einen menschlichen Entwurf - in dem Sinn, daß »sich«
das menschliche Subjekt eine Ansicht über das Sein
»einbildet«
-, sondern der Ent-wurf stellt sich in das Offene dergestalt, daß
er dabei ein geworfener ist, d.h. bestimmt und gestimmt durch das, was
er entwirft und durch das, woraufhin er entwerfen muß.
Das
Sein selbst, und nur dieses, kann den Entwurf des Seins auf seine
Wahrheit
und das Wesen dieser bestimmen." (Heidegger 1991: 68)
Wir
können
uns deshalb auf 'irgendetwas' mantisch beziehen, sofern nämlich
sich
(!) uns die offene Dimension des Möglichseins selbst kundtut und
zwar
so, daß unsere Beziehung oder 'Relation' zu ihr, unser Sein
ausmacht.
Hogrebe nimmt der Daseinsanalytik nicht nur die Pointe der kontingenten
Abgründigkeit weg, sondern er scheint auch den 'Versuchscharakter'
zu verfehlen, der dem Entwurf von Sein und Zeit einen
möglichen
'vor-läufigen' Sinn gibt.
Zusammenfassend
können wir also festhalten, daß Heidegger nicht in einen
Platonismus
verfällt, indem er das Sinnliche der Bedeutung unterordnet,
daß
er aber ebensowenig die Verhältnisse bloß umkehrt. Die
Sphären
des Sinnlichen und des Geistigen, der Affektion und der Bedeutung
werden
in einer sich herausdrehenden Bewegung von der grundlegenderen
Dimension
des Existierens überschritten und verwandelt. Dabei faßt
Heidegger
das Existieren "im transitiven Sinne" auf, d.h. als das Offenhalten
eines
"Bereiches von Welt-Offenständigkeit", wodurch sowohl der
sinnliche
als auch der geistige Bezug zum sich Entbergenden stets eine
ekstatische
Qualität aufweist (Heidegger 1987: 292) Unser Ausgerichtet-sein
auf
etwas (auf 'irgendetwas' im Sinne Hogrebes) wäre ohne das
(transitiv
verstandene) Existieren eines 'Zwischen' nicht möglich. Dieses
"aktive
Moment" (Hogrebe) entspringt aber der abgründigen Erfahrung der
Faktizität,
ist also "pronominaler" Natur.