I. LEBENSERFAHRUNGEN UND DENKWEGE
a)
Lebenserfahrungen
Emmanuel
Lévinas wurde 1906 in Kaunas (Litauen) geboren und stammt einer
strenggläubigen jüdischen Familie /1/. Die
hebräische Bibel, Puschkin und Tolstoi bilden seine frühen
geistigen
Quellen. Er erlebt als Kind in Charkow (Ukraine), wohin seine Familie
1914
umgezogen war, die russische Revolution [Wolzogen 1986]. 1923 beginnt
er
seine philosophische Ausbildung in Straßburg. Er studiert 1927/28
bei Husserl in Freiburg, die letzten zwei Semester bevor Heidegger sein
Nachfolger wurde, sowie ein Semester bei Heidegger selbst von dem er
sagt:
"Das
Wunder der Phänomenologie ist Sein und Zeit. Alles, was
dort
gesagt wird, die Applikation der phänomenologischen Methode, ohne
gerade auf das konstituierende Bewußtsein zurückzukommen:
die
Seiten über die Befindlichkeit, das Sein zum Tode
–
all das ist
ein
Wunder." [Wolzogen 1986]
Von
Heidegger,
sein Widersacher in Totalität und Unendlichkeit (TU), sagt
er ferner:
"Heidegger
ist für mich der größte Philosoph des Jahrhunderts,
vielleicht
einer der ganz Großen des Jahrtausends; und doch bin ich sehr
betrübt
darüber, denn niemals kann ich vergessen, was er im Jahre 1933
war,
selbst wenn er es nur eine kurze Periode lang war. Was ich an seinem
Werk
bewundere, ist Sein und Zeit. Das ist ein Gipfel der
Phänomenologie.
Die Analysen sind genial. Was den späten Heidegger betrifft, den
kenne
ich viel weniger. Was mich erschreckt, ist auch die Entfaltung einer
Reflexion,
in der das Menschliche zur Äußerung einer anonymen oder
neutralen
Intelligibilität wird, der die Offenbarung Gottes untergeordnet
ist,
im "Geviert" stehen die Götter im Plural." [Lévinas 1986,
39]
Nach
eigenem
Zeugnis ist die Phänomenologie und nicht die jüdische
Tradition
die eigentliche Quelle oder "Ausgangspunkt" seiner Philosophie [Krewani
1983, Biographie]. Das Judentum bleibt freilich der
außerphilosophische
"Ursprung" seines Denkens /2/.
Lévinas
promovierte 1930 bei Jean Wahl an der Sorbonne mit der These Theorie
de l'intuition dans la phénoménologie de Husserl, die
von Jean Hering, einem protestantischem Theologen und engem Freund
Husserls,
angeregt wurde. Es war die erste große Arbeit über Husserl
in
Frankreich, und sie stand unter Heideggerschem Einfluß. 1931
erschienen,
mit Mitwikung Lévinas, Husserls Méditations
Cartésiennes,
die prägend für die französische Phänomenologie
wurden.
Zu Lebzeiten Husserls gab es diese Schrift nur in französischer
Übersetzung
(Deutsch erst 1950). Im Mittelpunkt der fünften Meditation steht
die
Frage der Intersubjektivität. Die Konstitution des Anderen wird
von
Husserl in Analogie zur Erfahrung des eigenen Leibes
vollzogen.
1939
wird Lévinas, der inzwischen die französische
Staatsangehörigkeit
angenommen hatte, einberufen. Er gerät 1941 in deutscher
Gefangenschaft.
Seine gesamte litauische Familie fiel den Verfolgungen der Nazis zum
Opfer.
Es sind gewiß diese Erfahrungen, die zur Infragestellung eines
egologischen,
sich in sich verschließenden Denkens führten. Der Krieg
bildet
den Ausgangspunkt von Totalität und Unendlichkeit. Der
Ursprung
dieses Ausgangspunktes dürfte das biblische Tötungsverbot
sein.
Nach
dem Krieg wurde er Leiter der "Ecole normale Israelite orientale", eine
Anstalt zur Lehrerausbildung. 1946/47 hielt er Vorlesungen an dem von
J.
Wahl gegründeten Institut philosophique, die unter dem Titel "Le
temps
et l'autre" 1948 erschienen. Er beginnt zu dieser Zeit auch mit der
Exegese
des Talmuds.
1961
erschien seine Habilitationsschrift Totalité et infini.
Er
wurde 1962 Professor an der Universität Paris-Nanterre und folgte
1973 einem Ruf an der Sorbonne. 1964 erscheint Jacques Derridas Gewalt
und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas
[Derrida 1971], dass mit dem Satz aus Joyces Ulysses
endet:
"Welches
ist die Berechtigung, welches ist der Sinn der Kopula in diesem
Satz des vielleicht hegelischsten aller modernen Romanciers: "Jewgreek
is greekjew. Extremes meet".
Lévinas
wurde 1976 emeritiert.
b)
Denkwege
In
der
umfangreichen Untersuchung von Waldenfels über die
Phänomenologie
in Frankreich gehört Lévinas, neben Sartre, Merleau-Ponty
und
Ricoeur, zu den Kernfiguren dieser philosophischen Bewegung [Waldenfels
1987]. Strasser [Strasser 1987] unterscheidet drei Phasen in
Lévinas'
philosophischer Entwicklung.
Die
erste Phase umfaßt die Veröffentlichungen zwischen 1930 und
1950. Sie läßt sich mit dem Titel "Kritik der Ontologie"
gekennzeichnen.
Über Ausgang bildet die Dissertation über Husserls Theorie
der
Intuition (1930) sowie kritische Veröffentlichungen über
Husserl
und Heidegger (En découvrant l'existence avec Husserl und
Heidegger
1949). Dabei distanziert sich Lévinas sowohl vom
phänomenologischen
Idealismus Husserls als auch von Heideggers Fundamentalontologie. Er
sucht
den Weg von der Existenz zum Existierenden (De l'existence à
l'existant 1947). Denn das Sein, die Serie des "es gibt" ("il y
a"),
erhält erst einen Sinn im Sich-Verhalten des Existierenden zum
Anderen.
Daher auch Lévinas' spätere Deutung der Platonischen Formel
vom "jenseits des Seins" (epékeina tes ousías
Polit.
509 b), im Sinne des ethischen Verhältnisses zum (ganz) Anderen
(TU
437-38).
Mit
diesem letzten Hinweis treten wir in die zweite Phase, in deren Mitte
das
Werk Totalité et Infini. Essai sur
l'extériorité
(1961) steht, ein. Der Kerngedanke ist die Kritik der bisherigen
Ontologien
im Sinne totalisierender Seinslehren, bei denen das ethische
Verhältnis
zum Anderen vergessen bleibt. Diese von den Ontologien vergessene
Dimension
wird "Exteriorität" genannt. Es ist eine radikale, metaphysische
Dimension.
Anstelle der totalisierenden Ontologien entwirft Lévinas eine
Metaphysik
der Exteriorität, er faßt Ethik als erste Philosophie auf.
Strassers
Kennzeichnung dieser Phase lautet: "Metaphysik statt
Fundamentalontologie".
Zur
dritten Phase gehört vor allem das Werk Autrement
qu'être
ou au-delà de l'essence (1974). Für Lévinas
selbst
stellt diese Phase die eigentliche Wende oder die zweite Phase seiner
Philosophie
dar, ja er spricht sogar von einer vorkritischen und einer kritischen
Phase
[Krewani 1983, S. 19]. In ihr sucht Lévinas die Spur des
Unendlichen,
die göttliche Transzendenz, jenseits der Sprache der Ontologie. Er
sucht sie nicht im Logos des Gesagten ("dit"), sondern im Sagen
("dire"),
in der "Ent-stellung" ("dé-position") oder "Ent-situierung"
("dé-situation")
des Subjekts, das für den Anderen im wörtlichen Sinne
ver-antwortlich
ist, indem es sich exponiert" ("exposition") /3/.
Die
"Exposition" ist, im Gegenzug zur Intentionalität des
Bewußtseins,
eine leibliche Bewegung ("Kinästhese") zum Anderen hin. Strasser
kennzeichnet
diese Phase mit dem Ausdruck "Ethik als Erste Philosophie".
Wenden
wir uns aber jenem Werk zu, dass die Mitte dieses Denkweges darstellt.
In der inneren Auseinandersetzung mit der Ontologie bringt er
vielleicht
am prägnantesten die Sprengkraft des ethischen An-Satzes zum
Ausdruck.
II. SPRENGSÄTZE
Im
Vorwort der 1987 erschienenen deutschen Übersetzung von Totalité
et infini (1961) schreibt Lévinas:
"Das
vorliegende Buch, das sich unter phänomenologischen Einfluß
weiß und den Geist der Phänomenologie für sich in
Anspruch
nimmt, ist aus einer langen Beschäftigung mit den Texten Husserls
und aus einer unablässigen Aufmerksamkeit auf "Sein und Zeit"
entstanden.
Weder Martin Buber noch Gabriel Marcel sind dem Text fremd, der auf
Franz
Rosenzweig vom Vorwort an verweist. Das Buch beansprucht zudem, im
zeitgenössischen Denken, eine Treue zum bahnbrechenden Werk Henri
Bergsons, das eine Reihe entscheidender Positionen bei den großen
Lehrern der Phänomenologie möglich machte." (TU 7) /4/
Der
Hinweis
auf Franz Rosenzweigs Der Stern der Erlösung [Rosenzweig
1988]
gibt zugleich den entscheidenden Wink für den Grundgedanken von Totalität
und Unendlichkeit nämlich "der Widerstand gegen die Idee der
Totalität"
(TU 31). So wie Rosenzweig die Idee der Totalität des Deutschen
Idealismus
von innen heraus sprengt, so sprengt auch
Lévinas
den selbständigen Diskurs des abendländischen Logos, der in
der
Heideggerschen Ontologie kulminiert /5/.
Paradoxerweise
geschieht diese Sprengung des Logos nicht nur in der Nachfolge der
Phänomenologie
Husserls und Heideggers, sondern vor allem durch einen wiederholten
Rekurs
auf Descartes und, in einer freilich nicht unproblematischen Umdeutung,
auf die erwähnte Platonische Formel. Descartes und Platon, das
sind
zwei Denker, die von Heidegger und Lévinas, wenngleich auf je
verschiedene
Weise, destruiert werden. Was dabei entsteht, ist ein höchst
bedeutsamer
Dia-log, ein Unter-schied, bei Heidegger im, bei Lévinas
zum Logos des Seins. Was in Totalität und
Unendlichkeit
gesprengt wird, ist aber nicht bloß ein theoretisches
Denkgebäude,
sondern nicht mehr und nicht weniger als der Kerngedanke der
neuzeitlichen
Ethik, nämlich die Autonomie des freien Subjekts oder,
metaphysisch
ausgedrückt, die Selbstwerdung des Subjekts als Rückkehr zu
sich
selbst.
a)
Vor-Worte
Welcher
ist der Ausgangspunkt von Totalität und Unendlichkeit? Es
ist
jener 'Punkt' nämlich, an dem der philosophische Diskurs zu Ende
geht,
nämlich der Krieg. Denn im Krieg tritt die "harte Wirklichkeit"
anstelle
der Worte und Bilder ein (TU 19). Der Krieg, und mit ihm die Politik,
ist
das Gegenteil der Moral. Wenn im Krieg die Wirklichkeit ausbricht, dann
ist er das ontologische Ereignis 'par excellence'. Für die
Kriegsteilnehmer – ein wohl zynischer
Ausdruck – bedeutet die
Kraftprobe des
Krieges vor
allem "Gewalt" ("violence") im Sinne des Verlustes der eigenen Tatkraft
und Identität und somit Unmöglichkeit Abstand zu nehmen. Der
Krieg verschlingt alles in sich:
"Das
Gesicht des Seins, das sich im Krieg zeigt, konkretisiert sich im
Begriff
der Totalität." (TU 20)
Nun
ist
aber 'Totalität' nicht irgendein Begriff, sondern derjenige, der
die
abendländische Philosophie beherrscht. Diese setzt dem Krieg den
"Frieden
der Imperien" gegenüber. Sie gibt der Politik den Vorrang vor der
Moral. Demgegenüber sieht Lévinas in der "Eschatologie", im
"messianischen Frieden", dasjenige Phänomen, das uns jenseits
der Totalität führt. Der Ausdruck für dieses die
Totalität
transzendierende Verhältnis ist das "Unendliche". Der
Maßstab
des Wahren ist also nicht, wie für Hegel, das Ganze in seiner
geschichtlichen
Entwicklung, sondern ein dieses Ganze Transzendierende ("par
delà
la totalité", "un surplus toujours extérieur à la
totalité"), das sich aber zugleich innerhalb der
Totalität
kundtut, indem es zur Verantwortung aufruft. Dieser Gesichtspunkt eines
Jenseits, das augenblicklich, und nicht am Ende eines Prozesses,
einbricht,
ist die Grunderfahrung, die Lévinas in Totalität und
Unendlichkeit
thematisiert. Eine solche Erfahrung entspringt aber nicht einer
eschatologischen
Vision, sondern sie vollbringt eine solche:
"Die
Ethik ist eine Optik. Aber sie ist ein bildloses 'Sehen', ein 'Sehen'
ohne
die dem Sehen eigenen Vermögen der synoptischen und
totalisierenden
Objektivation; sie ist eine Beziehung oder eine Intentionalität,
die
ganz anderer Art ist, und die zu beschreiben sich eben diese Arbeit
bemüht."
(TU 23)
Befinden
wir uns aber dabei nicht im religiösen und somit
außerphilosophischen
Bereich? Geht es hier um Glauben statt um Wissen? Es wäre in der
Tat
so, wenn diese Erfahrung sich gänzlich außerhalb der
Totalität
eignen würde. Für Lévinas geht es aber darum zu
zeigen,
wie sich diese Erfahrung des Nicht-Wissens sich als solche in einer
Situation
der Totalität zeigt:
"Eine
solche Situation ist das Erstrahlen der Exteriorität oder der
Transzendenz
im Antlitz des Anderen." (TU 25)
Wie
aber
vermag das Endliche das Unendliche in sich aufzunehmen? Hier greift
Lévinas
Descartes' Idee des Unendlichen auf. Denn diese Idee überschreitet
das Denken und setzt dieses in Beziehung zum absolut Anderen. Anstelle
einer autonomen endlichen Subjektivität, sucht Lévinas
nicht,
wie etwa die Postmoderne, ihre Auflösung, sondern ihren
unendlichen
Ursprung und stellt diese aus der Unendlichkeit hervorgehenden
Subjektivität
dem Gesetz des Krieges gegenüber.
"Dieses
Buch stellt die Subjektivität als etwas dar, das den Anderen
empfängt,
es stellt sie als Gastlichkeit dar." (TU 28)
Maßstab
des Denkens ist nicht die Adäquation zum Objekt, sondern dieser
geht
die "Inadäquation" zu dem voraus, was den Rahmen des Gedachten
"sprengt"
("faire éclater les cadres d'un contenu pensé", TU 29).
In
Anschluß an die (mittelalterliche) Tradition stellt
Lévinas
dem Begriff des Denkens den des "Aktes" voraus. Durch den Bezug des
Aktes
zum Unendlichen überschreitet das Bewußtsein sowohl die
Sphäre
des Gedachten als auch die Möglichkeit einer Rückkehr zu sich
selbst, wie sie etwa Odysseus versinnbildlicht. Für das Begehren
("désir")
des Unendlichen steht Abraham Pate. Letzteres ist nicht ein Begehren,
das
sein Ausgangspunkt im Selben hat, sondern eines, das sich als Anruf des
Anderen ereignet.
Von
diesen Prämissen ausgehend, grenzt Lévinas seine Optik von
der der Heideggerschen und Husserlschen Phänomenologie ab. Denn
das
Ziel dieser Philosophie ist nicht die Entbergung des Seins. Diese
Entbergung
wird nicht bei der Beziehung des Selben zum Anderen vorausgesetzt /6/.
Lévinas sprengt aber auch den noetisch-noematischen Rahmen der
Husserlschen
Phänomenologie, obwohl oder gerade dadurch, dass er sich dieser
Methode
bedient, um ein Jenseits der sinnstiftenen Subjektivität
aufzuzeigen.
Gerade weil Exteriorität radikal ist, wählt er den Ausdruck
"Metaphysik"
für die Bestimmung seines Unternehmens, das jenseits des
theoretischen
Verhältnisses führt. Dieses "Jenseits" steht aber nicht jenem
theoretischen Verhältnis gegenüber, sondern "hier steht eine
Beziehung mit dem absolut Anderen oder die Wahrheit; der Königsweg
der metaphysischen Transzendenz ist die Ethik." (TU 32) Theorie und
Praxis
sind, mit anderen Worten, Modi der metaphysischen Transzendenz. Die
transzendierende
Intentionalität Husserls hat, so Lévinas,
"diesen
Übergang von der Ethik zur metaphysischen Exteriorität
möglich
gemacht." (TU 33)
In
den
Schlußsätzen des Vorwortes gibt Lévinas indirekt
darüber
Auskunft, dass die im Untertitel gewählte Bezeichnung für die
Form des Unternehmens, nämlich ein "Versuch über die
Exteriorität"
(Essai sur l'extériorité), keineswegs im Sinne
eines
zusammenhanglosen "essays", sondern als eine "streng gegliederte"
"recherche"
zu verstehen ist. Das System soll ja nicht verlassen, sondern von innen
heraus gesprengt werden. Die Exteriorität soll nicht jenseits,
sondern
innerhalb der Erfahrung erscheinen. Vor-Worte sind aber eigentlich
"Ver-sprechungen",
die das Sagen nicht ersetzen, sondern versagen.
b)
Bei-Worte zum Vor-Gang der Untersuchung
Im
Folgenden
kann es nicht darum gehen, den Gang selbst durch Nach-Worte zu
ersetzen,
sondern ihn durch Einblicke zu begleiten. Es geht also eher um
Bei-Worte.
Diese sind Einblicke eines Fremden. Sie sind unentbehrlich zumal, wenn
jene Frage verneint werden soll, die sich Lévinas stellte, als
er
die Arbeit bereits geschrieben hatte:
"Und
kann man von einem Buch sprechen, als hätte man es nicht
geschrieben,
als wäre man sein erster Kritiker?" (TU 33)
Man
kann
es nicht, denn Selbst-kritik bleibt immer Selbst-kritik.
Das Selbst kann nicht das Lesen des Anderen ersetzen. Somit sind wir
aber
schon am Anfang oder Vor-Gang des Weges.
Vor
diesem ersten Abschnitt warnt Lévinas den Leser. Der Weg ist
dürr,
trocken und unbequem. Zugleich aber ist er der Horizont aller
darauffolgenden
Untersuchungen. Er führt über folgende Gipfel: Metaphysik und
Transzendenz, Trennung und Rede, Wahrheit und Gerechtigkeit, Trennung
und
Absolutes.
'Metaphysik',
das ist zunächst ein Begehren, ein Streben nach "ganz Anderem,
nach dem absolut Anderen." (TU 35). Diese allgemeine Kennzeichnung
der Metaphysik weist unmißverständlich auf Platon hin und
auf
ihn beruft sich Lévinas auch ausdrücklich, wenn er dieses
Streben
nach der "Dimension des Hohen" stets in der Gefahr sieht, von den
allzumenschlichen
Bedürfnissen, vom Hunger und von der Angst, verraten zu werden.
Lévinas
deutet die Metaphysik im Sinne einer Bewegung, die nicht beim
Begehrenden
selbst bleiben kann, sondern über dieses hinaus will, zum Anderen
hin. So bilden also das Selbe ("le même") und das Andere
("l'autre")
eine Beziehung ganz besonderer Art. In der Hegelschen
Phänomenologie,
Lévinas' erste kontrastierende Folie für die
Herausarbeitung
der eigenen Optik, vermag das Ich sich im Anderen wiederzufinden, indem
es die Unterschiede aufhebt. So vermag das Ich im Leib und im Haus, in
der Arbeit, im Besitz und in der Ökonomie heimisch zu werden,
indem
es seine Möglichkeiten zu einer umfassenden Totalität
entfaltet.
Wäre also jene metaphysische Beziehung lediglich ein Vorstadium
einer
solchen Totalität? Oder, anders gefragt, ist eine Beziehung zum
Anderen
möglich, die dieses Andere "als Anderes anerkennt", und
zwar
jenseits einer bloßen formalen Andersheit? (TU 43). Das ist
Lévinas'
Kernfrage in diesen Untersuchungen.
Es
ist eine metaphysische Frage, denn sie ist die Frage nach dem absolut
Anderen,
mit dem ich also keine Totalität, kein "Wir", keine
gleichmäßige
Mehrheit, bilden kann. In der metaphysischen Beziehung bleibt die
Distanz
zwischen der Selbstheit des Selben oder dem "Ich" ("Je") und dem
Anderen
bewahrt. Eine solche Beziehung zum Anderen kann sich aber, so
Lévinas,
nur als eine Beziehung "Von-Angesicht-zu-Angesicht"
("face-à-face")
ereignen (TU 45). Inwiefern? Insofern als die Termini sich nicht durch
eine Operation des Verstandes synthetisieren lassen. Das geschieht aber
nur, wenn wir Lévinas in seine Einsicht nach-folgen,
dass
eines der Termini, nämlich das Ich, diese Bewegung vollzieht, von
sich also aus-geht, sein Denken überschreitet zu dem hin,
was
es widersteht, nämlich zum Angesicht eines Anderen. Diese
Operation
vollbringt dann nicht die Vereinnahmung eines Gegenstandes im Denken,
sondern
sie vollzieht sich als Sprechen.
Eine
so verstandene die Totalität des Selbstdenkens
metaphysisch-negierende
Bewegung unterscheidet sich von der negierenden Bewegung des Denkens
dadurch,
dass diese sich stets im Diesseits – "ici-bas", so
Lévinas im
Anklang
an das Heideggersche "Dasein" – abspielt, während
jene die
Grenze
zum absolut Anderen überschreitet. Die abendländische
Ontologie
als Logos des Seins und ihr Gipfel, die Heideggersche Ontologie, ist
für
Lévinas diejenige Theorie, in der das Andere auf das Selbe
zurückgeführt
wird. Aber die Theorie kennt auch, in der Form der Metaphysik, einen
anderen kritischen Weg, nämlich die Möglichkeit des
Selben sich
durch den Anderen in Frage stellen zu lassen. Diese Möglichkeit
heißt
Ethik, "in ihr", so Lévinas, "erfüllt sich das kritische
Wesen
des Wissens." (TU 51). Gegenüber dem Primat des Selben im Sinne
der
Ontologie, hebt Lévinas dem des Anderen, der Metaphysik als
Ethik,
hervor. Das Primat des Selben führt zur Ungerechtigkeit, zum
Gehorsam
gegenüber dem Anonymen, ja zur Tyrannei. Aber nicht die Freiheit,
sondern die Gerechtigkeit, nicht das Sein als Totalität, sondern
das
Seiende als das Getrennte, hat den Vorrang, im Sinne auch des
höheren
Ranges.
In
Anschluß an Descartes' Idee des Unendlichen unterscheidet
Lévinas
zwischen derjenigen Intentionalität, die den mentalen Akt vom
Gegenstand
trennt und die, im Falle seines Besitzes, zur Aufhebung des Seins des
Gegenstands
führen kann, und derjenigen, des Begehrens
("désir"),
die das Endliche transzendiert. Dieser Unterschied zwischen
"Objektivität"
und "Transzendenz" ist also grundlegend. Er vollzieht sich in der
Begegnung
"face-à-face" mit dem Anderen, dann nämlich, wenn dieser
meine
Vorstellung stets überschreitet, sie sprengt, so dass das Begehren
des Besitzes sich in ein Begehren des Unendlichen
verwandelt:
"Denn
die Gegenwart vor einem Antlitz, meine Orientierung auf den Anderen
hin,
kann die Gier des Blickes nur dadurch verlieren, dass sie sich in
Großmut
verwandelt, unfähig, den Anderen mit leeren Händen
anzusprechen.
Diese Beziehung über die Dinge, die von nun an der
Möglichkeit
nach gemeinsam sind, d.h. fähig, gesagt zu werden - ist die
Beziehung
der Rede. Die Weise des Anderen sich darzustellen, indem er die
Idee
des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz.
Diese Weise besteht nicht darin, vor meinem Blick als Thema
aufzutreten,
sich als ein Ganzes von Qualitäten, in denen sich ein Bild
gestaltet,
auszubreiten. In jedem Augenblick zerstört und überflutet das
Antlitz des Anderen das plastische Bild, das er mir
hinterläßt,
überschreitet er die Idee, die nach meinem Maß und nach dem
Maß ihres ideatum ist - die adäquate Idee. Der Antlitz
manifestiert
sich nicht in diesen Qualitäten, sondern "kath'autó". Das
Antlitz drückt sich aus." (TU 63)
So
führt
also die vom Ich ausgehende Bewegung der spontanen Freiheit zur
Infragestellung
eben dieser subjektiven Freiheit hin. Wenn es einen Gedanken gibt, das
dem gesamten Denken Lévinas' zugrundeliegt und in seiner
Unerschöpflichkeit
immer wieder zum Denken, vor allem aber zum Handeln, auffordert, dann
ist
es der des Antlitzes ("visage") oder genauer, des
"Angesicht-zu-Angesicht"
("face-à-face").
Die
Trennung zwischen dem Selben und dem Anderen ist also nicht im Sinne
einer
"Korrelation" oder Entgegensetzung zu verstehen. Soll sie als ein
Verhältnis
aufgefaßt werden, das sich jeder Integration widersetzt, dann
muß
sie anders bestimmt werden. Wird aber eine solche Trennung nicht
bloß
erdacht? Für Lévinas gründet seine Frage in der
konkreten
ethischen Erfahrung:
"Was
ich von mir selbst fordern darf, kann mit dem, was ich vom Anderen zu
fordern
das Recht habe, nicht verglichen werden." (TU 67)
Dieses
Verhältnis ist also asymmetrisch. Ich kann den Anderen nicht mit
meinem
Maßstab messen und ich kann mich selbst auch nicht mit den
anderen
"ver-gleichen". Das bedeutet, dass ich auch über mich selbst nicht
in der Weise verfügen kann, die mir erlauben würde, mich im
Ganzen zu sehen, so dass bei diesem Über-Blick zugleich den
Durch-Blick
zu anderen "Psychismen" hätte. Es ist also mein Sein selbst, das
sich
der Totalisierung widersetzt. Dieser Widerstand, der aus der "Idee des
Unendlichen" im Cogito entsteht, wird aber vom Denken erst
nachträglich
entdeckt. Zunächst scheint das Cogito in der Totalität der
Geschichte
einzugehen. Dem widersetzt sich aber der Psychismus, als ob sein Leben
sich eigentlich auf einer anderen Ebene abspielen würde. Hier
stellt
sich für Lévinas nicht die Frage nach einem Leben nach dem
Tode, sondern nach der Nichtintegrierbarkeit der eigenen Zeit in die
historische
Zeit. Diese Erfahrung des eigenen inneren Lebens oder der Innerlichkeit
im Sinne ihrer Nichtintegrierbarkeit in einer geschichtlichen
Totalität
ist die Quelle für Lévinas' Auffassung eines
Verhältnisses
zum Anderen, das keine Totalität sondern eine Pluralität
bildet.
Kennzeichnend für diese Pluralität ist die Trennung im Sinne
der Asymmetrie der Beziehungen. Wie radikal der Begriff der Trennung
gemeint
ist, zeigt sich darin, dass das Cogito fähig ist, sich der
Dimension
des Unendlichen gegenüber in einem Verhältnis des Glaubens
oder
des Nicht-Glaubens zu sehen. Daher auch die Bezeichnung der Trennung
als
"Atheismus" (TU 75). Ein so, d.h. nachträglich, zu seiner Ursache
sich verhaltender Psychismus nennt Lévinas "Wille". So ist also
das Verhältnis des Selben zum Anderen, des Psychismus zur Idee des
Unendlichen, eine radikale Trennung, die sich in der Möglichkeit
der
Wahrheitssuche und somit auch des Irrtums vollzieht. Diese Suche ist
ein
Begehren und zwar jenseits des eigenen Glücks:
"Das
Begehren ist das Unglück des Glücklichen, ein
verschwenderisches
Bedürfnis." (TU 82)
Das
Begehren
("désir") übersteigt also das Ich in seinem egoistischen
Genuß
("jouir"), in seinem Glück ("bonheur"). Das Platonische Begehren,
mit seiner Ablehnung des Mythos vom Androgynen, bietet hier den
Anhaltspunkt
für die Erfahrung, die Jenseits des (als Totalität
aufgefaßten)
Seins führt.
Dieser
Bestimmung eines transzendenten Verhältnisses steht die der
"gegenständlichen
Erkenntnis", im Sinne von einer "Entdeckung" des Wirklichen,
gegenüber.
Was sich in der Trennung als "an sich" ("kath'auto") offenbart bzw. sich
ausdrückt, ist das sprechende Antlitz des
Anderen:
"Die
Augen, die unverhehlbare Sprache der Augen, brechen durch die Maske
hindurch."
(TU 89)
Von
hier
aus öffnet sich die Möglichkeit einer gesellschaftlichen
Beziehung,
in der die Gesprächspartner trotz ihres Verhältnisses durch
die
Sprache einander asymmetrisch bleiben. Hier liegt m.E. ein Ansatzpunkt
für eine Kritik der "idealen Kommunikationsgemeinschaft" à
la Apel/Habermas. Lévinas grenzt seinen Ansatz nicht nur etwa
von
Heidegger, sondern auch von Dürckheim sowie von Marcel und Buber -
dessen "Du" sowohl Dinge als auch Menschen meint - ab, wiewohl letztere
seinem Denken näher stehen. Die Sprache ist nicht etwa das Medium
gesellschaftlicher Beziehungen, sondern sie ist primär "Anruf" des
Anderen, der keinen Gegenstand meines Verstehens werden kann. Sie ist
auch
nicht, Hegelianisch aufgefaßt, ein für das Bewußtsein
äußeres Ergon,
"denn
die objektive Exteriorität des Werkes liegt schon in der Welt, die
von der Sprache, das heißt, von der Transzendenz, gestiftet
wird."
(TU 94)
Die
Gemeinschaft
der "face-à-face" Redenden gründet also nicht in einer
universellen
Vernunft, denn eine solche Vernunft braucht letztlich keine
Kommunikation
und Pluralität. Eine Gemeinschaft, die den Anderen nicht
unter-drückt,
sondern ihm zum Ausdruck kommen läßt, ist plural,
sie
ist eine Gemeinschaft "ethischer Art" (TU 69). Was aber fordert konkret
der Andere?
"Die
Nacktheit seines Antlitzes setzt sich fort in der Nacktheit des Leibes,
der friert und der sich seiner Nacktheit schämt. In der Welt ist
die
Existenz "kath' auto" eine Misere. Hier besteht zwischen mir und dem
Anderen
eine Beziehung, die über die Rhetorik hinaus ist. (...) Die
Nacktheit
des Antlitzes ist Blöße, Mangel. Den Anderen anerkennen,
heißt,
einen Hunger anerkennen. Den Anderen anerkennen – heißt geben.
Aber
man gibt dem Meister, dem Herrn, man gibt dem, den man in einer
Dimension
der Erhabenheit mit 'Sie' anredet. (...) Den Blick des Fremden, der
Witwe
und des Waisen, ich kann ihn nur anerkennen, indem ich gebe oder
verweigere;
ich bin frei zu geben oder zu verweigern, aber der Weg führt
notwendig
durch die Vermittlung der Dinge" (TU 102-105) /7/.
Die
Universalität
der Sprache ist also ihre Möglichkeit, mit dem Anderen eine
Gemeinschaft
zu stiften, endet aber nicht mit der Stiftung einer abstrakten
Objektivität
sondern dadurch, dass wir den Anderen empfangen. Lévinas betont,
dass das ethische Verhältnis nicht im Sinne einer mystischen oder
numinosen Beziehung aufgefaßt werden darf. Die Beziehung bleibt
im
Kern "atheistisch". Denn auch die Epiphanie des Göttlichen im
Antlitz
des Anderen bedeutet nicht, dass der Andere eine Inkarnation Gottes
wäre.
Für Lévinas stellt die Beziehung von Mensch zu Mensch ein
absolutes
Primat gegenüber etwa den ästhetischen Beziehungen zum
Erhabenen
dar. Die Beziehung "von-Angesicht-zu-Angesicht" ist "irreduzibel", sie
führt zu keiner Ganzheit, sie ist, paradox ausgedrückt, eine
"Beziehung ohne Beziehung" ("rélation sans rélation") (TU
110).
Das
führt zur Kritik jener neuzeitlichen Auffassung von Freiheit, die
ihre Erfüllung in einer immer größer werdenden
Spontaneität
sieht. Messen wir uns aber am Unendlichen, indem wir den Anderen
empfangen,
dann wird die Autonomie der Freiheit in Frage gestellt. Dieser Empfang
vollzieht sich als "Scham". Wovor schämt sich die sich
in-Frage-stellen-lassende
Freiheit? Vor ihren totalitären und mörderischen
Absichten.
"Die
Rede und das Begehren, in denen der Andere als Gesprächspartner
gegenwärtig
ist, als derjenige, dem gegenüber ich nicht können kann,
den ich nicht töten kann, bedingen diese Scham (...) Die Moral
beginnt,
wenn sich die Freiheit, statt sich durch sich selbst zu rechtfertigen,
als willkürlich und gewalttätig empfindet. Ineins damit
beginnt
die Erforschung des Intelligiblen, aber zugleich zeigt sich die kritische
Natur des Wissens, der Rückgang eines Seienden hinter seine
Bedingung."
(TU 116)
Damit
besteht also der Grund des Wissens im Sinne von Kritik zunächst in
der ethischen Forderung, den Anderen zu empfangen, d.h. meine Freiheit
in Frage stellen zu lassen. Die Kritik führt nicht zur Analyse und
Sicherung meiner Vermögen, sondern zu deren Infragestellung. Ein
moralisches
Wesen ist also ein atheistisches Wesen, das fähig ist, sich zu
schämen.
Erst kommt also die Gerechtigkeit und dann die Wahrheit. Der
höchste
Ausdruck der Exteriorität ist die Idee der Schöpfung (ex
nihilo)
eines solchen moralischen Wesens. Die Gegenüberstellung der
ontologischen
immanentistischen Tradition und des metaphysischen Gedankens der
Transzendenz
kommt im letzten Sprengsatz am Schluß dieses ersten
ab-gründigen
Ganges zum Ausdruck:
"Das
Denken und die Freiheit entstehen für uns aus der Trennung und aus
der Rücksicht auf den Anderen – diese These ist das
Gegenteil des
Spinozismus." (TU 149)
Von
hier
aus werfen wir weitere fremde Ein-Blicke zunächst in die Struktur
des Selben dann aber, erneut, in die des Anderen.
c)
Die Ökonomie des Selbst und die Stiftung der Pluralität
Die
Trennung
des Selben als Innerlichkeit bildet keine Vorstufe zu einer
späteren
Einheit mit dem Anderen. Denn es kommt darauf an, zwischen den
Beziehungen
der "eigentlichen Transzendenz" und denjenigen, die diesen nur "analog"
sind, zu unterscheiden, wobei die Pointe der Analysen darin besteht, zu
zeigen, wie die letzteren, also die Beziehungen, in der ich mich als
getrennt
konstituiere, nur von den ersten her, also von der metaphysischen
Trennung
des Anderen, zu deuten sind (TU 151). Zu diesen letzteren gehört
das
"Leben von..." im Sinne des Genusses ("jouissance").
Wir
sahen, das für Lévinas Genuß und Glück nicht mit
"Begehren" ("désir") zu verwechseln sind. Inwiefern zeigt sich
aber
im Glück ("bonheur") so etwas wie eine Analogie zur "eigentlichen
Transzendenz"? Insofern nämlich, als wir mit Glück eine
erfüllte
Beziehung zu dem, was "was ich tue und was ich bin" bezeichnen (TU
156).
Glück ist also nicht die bloße Erhaltung meines
natürlichen
Seins, sondern geht über dieses hinaus und in seinem jähen
Ereignis
zeigt sich seine Unabhängigkeit von der Dauer. Das Bedürfnis
("besoin") als Quelle des Reichtums – das Platonische
Verhältnis
von
"penia" und "poros" (Symp. 203-204) –, seine Erfüllung
im
Glück,
zeigt die Möglichkeit einer Transzendenz eben dieser
Bedürfnisse,
die auf die Trennung des Individuums hin zielen. Für
Lévinas
gründet aber das Bedürfnis im Begehren, denn das Andere des
Selbst
ist der Leib. Sobald aber das Selbst die Befriedigung seiner
materiellen
Bedürfnisse erreicht, öffnet es sich dem Geistigen, da mit
jener
Erfüllung die Zeit keineswegs vollendet ist. Diese zeigt sich dann
als "grenzenlose Zukunft". Sie kommt von jenseits des erfüllten
Bedürfnisses,
nämlich vom grenzenlosen Begehren (TU 163). Ferner widersetzt sich
das Ich der Einordnung unter dem Allgemeinen als das Individuelle:
"Das
Ich ist in ausgezeichneter Weise Einsamkeit." (TU 165)
Auch
die
Gegenstände, die Dinge und das Zeug, gehören zum Bereich des
Genusses, den dieser
"umgreift
alle Beziehungen mit den Dingen. (...) Den Genuß einer Sache –
und
sei sie ein Werkzeug – besteht nicht nur
darin, sie dem
Gebrauch,
für
den sie hergestellt ist, zuzuführen – die Feder dem
Schreiben, den
Hammer dem einzuschlagenden Nagel –, der Genuß
besteht auch
darin,
sich mit dieser Tätigkeit zu plagen oder daran Freude zu haben."
(TU
188)
Das
Glück
des Genusses erfüllt sich für das Ich bei sich zu Hause,
indem
es erfülltes, wenngleich flüchtiges Leben ("carpe diem")
findet.
Auch hier sucht also der Genuß die Trennung. Schließlich
gehört
auch die Arbeit, "dank derer ich frei lebe, indem ich mich gegen die
Ungewißheiten
des Lebens versichere" (TU 209) zum Bereich des Genusses.
Lévinas
faßt den bisherigen Weg folgendermaßen zusammen:
"Die
Trennung, der Atheismus, diese negativen Begriffe, ereignen sich durch
ein positives Geschehen. Ich, atheistisch, bei sich, getrennt,
glücklich,
geschaffen sein, dies sind Synonyme. Egoismus, Genuß und
Sinnlichkeit
und die ganze Dimension der Innerlichkeit sind Artikulationen der
Trennung;
sie sind erforderlich für die Idee des Unendlichen – oder für
die Beziehung mit dem Anderen, die sich vom getrennten und endlichen
Seienden
aus einen Weg bahnt." (TU 211)
Das
Wohnen
gehört somit für Lévinas zum Wesen des Ich. Denn das
Haus
ist nicht bloß ein Mittel, ein Werkzeug, sondern der Ort, in dem
sich das Bewußtsein inkarniert ("l'incarnation de la conscience"
TU 219), als der Ort der Zuflucht und als Vollzug der Innerlichkeit. An
diesem Ort trifft Lévinas "das Weibliche" ("le féminin").
Worauf versammelt sich die Sammlung, wenn die Existenz immer
abhängig
von etwas bleibt? Ist es nicht bloß die Zufriedenheit mit dem
Genuß?
Lévinas weist auf eine weitere, nämlich auf eine positive
Abstandnahme
vom Genuß, es ist "eine Dimension der Innerlichkeit im Ausgang
von
der intimen Vertrautheit, in die das Leben eintaucht!" (TU 221). Diese
Intimität ist aber eine "Intimität mit jemandem", die
Sammlung ("recueillement") ist ein Empfang ("accueil") (ibid.).
Ist
aber die Gegenwart des Anderen nicht Trennung und Transzendenz? An
dieser
Stelle gipfelt sozusagen die Paradoxie zwischenmenschlicher
Beziehungen.
Denn "gleichzeitig" mit der Gegenwart des Anderen in seinem Antlitz
vermag
er/sie (!) seine/ihre Gegenwart "in seinem Rückzug und in seiner
Abwesenheit"
zu offenbaren." Diese unscheinbare Anwesenheit oder scheinbare
Abwesenheit
ist das Wesen der Diskretion:
"Und
der Andere, dessen Anwesenheit auf diskrete Weise eine Abwesenheit ist,
von der aus sich der gastfreundliche Empfang schlechthin, der das Feld
der Intimität beschreibt, vollzieht, ist die Frau. Die Frau ist
die
Bedingung für die Sammlung, für die Innerlichkeit des Hauses
und für das Wohnen." (TU 222)
Dementsprechend
ist das sprachliche Verhältnis nicht das "Sie" ("vous") der
transzendenden
Beziehung zu einem Höheren, sondern das "du" ("tu") der
Vertrautheit.
Ein solches Du steht aber nicht einem Sie gegenüber, sondern es
"schließt
alle Möglichkeiten einer transzendenten Beziehung mit dem Anderen
ein." (TU 223). Es gibt wenige philosophische Texte, in denen ein
männlicher
Philosoph sich über das Wesen des Weiblichen – das Wesen des
Männlichen
bleibt Unausgesprochen /8/ – so frag-würdig
äußert,
zumal aus der Sicht der Frauenemanzipation, für die eine solche
Gleichsetzung
von Weiblichkeit und Frau-sein und ihre Verortung im Haus kaum
annehmbar
sein dürfte /9/. Dass dies nicht ganz so ist, zeigt
Lévinas in seiner "Phänomenologie des Eros" (TU 372 ff).
Das
Weibliche ("féminité") wird dort auf der einen Seite als
das Zärtliche ("tendre") und Zerbrechliche ("fragile"), auf der
anderen
Seite aber und zugleich (!) als ein "Gewicht an Nicht-Bedeuten" ("ce
poids
de non-signifiance"), was aber "schwerer ist als das Gewicht des
formlosen
Wirklichen" bestimmt (TU 375). Das Weibliche ist das
Jungfräuliche,
das "ewig Weibliche", "was noch nicht ist", ein "Weniger als nichts",
"das
jenseits der Zukunft verschlossen ist und schlummert und daher ganz
anders
schlummert als das Mögliche, das sich der Antizipation
preisgibt."
(TU 376). Das Gegenteil vom Weiblichen ist also nicht das
Männliche
sondern das Mögliche. Das Weibliche ist ein anderer Name
für
das absolut Andere. Der Ort der Epiphanie des Weiblichen ist aber das
Antlitz
der Geliebten, das weibliche Antlitz also. Dieses ist zweideutig, indem
es das Unsagbare zugleich sagt und verschweigt. In der erotischen
Prophanierung
verschweigt sich die Zweideutigkeit selbst. Das Seiende, das sich im
Antlitz
der Frau präsentiert, ist zweideutig:
"Es
ist Gesprächspartner, Mitarbeiter und Chef von überlegener
Intelligenz;
es dominiert sehr oft die Männer in der männlichen
Zivilisation,
in die es eingetreten ist; zugleich aber ist es Frau, die als Frau
behandelt
werden will, gemäß den unwandelbaren Regeln der zivilen
Gesellschaft."
(TU 386)
Das
Antlitz
der Frau zeigt also auf der einen Seite Offenheit, auf der anderen
Seite
aber eine Anspielung auf jenes "Weniger als nichts". Eros ist jene
Bewegung
des Begehrens jenseits des Antlitzes und nähert sich
"im
Schwindel dem Verborgenen oder dem Weiblichen, dem
Nicht-Persönlichen,
aber das Persönliche geht darin nicht unter." (TU 387)
Das
Verborgene,
das Weibliche, das ist der Widerstand gegen die soziale Beziehung,
gegen
die Eingliederung in die Gesellschaft. Eros sucht die Trennung und will
lediglich "Glied einer Gesellschaft zu zweit" sein (ibid.). Dabei
verschmelzen
sich aber das Selbe und das Andere nicht, sondern sie zeugen "jenseits
eines jeden möglichen Entwurfs, jenseits eines jeden sinnvollen
und
intelligenten Könnens" - das Kind (TU 390). Lévinas nennt
diese
Transzendenz die "Transzendenz der Fruchtbarkeit" (TU 397).
"Die
Sexualität ist in uns weder Wissen noch Können, sondern die
eigentliche
Pluralität unserer Existenz." (TU 405)
Eine
solche
Pluralität ist also, etwa gegenüber einer bloßen
Pluralität,
asymmetrisch und unabschließbar. Sie ist nicht ko- sondern
sozusagen
"de-relativ". Ihre "Termini" werden wesenmäßig von einem
Dritten
durchbrochen. Denn das, was die Koexistenz Von-Angesicht-zu-Angesicht
offenbart,
ist stets ein Drittes. Dieses aber nicht an sich, sondern nur indem es
die Ko-relation sprengt und es als wahre nicht aufhebbare
Pluralität
stiftet.
Der
Sprengsatz ist das Antlitz des Anderen. Dieses ist die "bleibende
Öffnung"
(TU 283), die sich dem totalisierenden dialektischen oder ontologischen
Diskurs unmittelbar widersetzt. Für die kompromißbereite und
Fairneß suchende Moderne ist der Andere vor allem die Grenze
meiner
Freiheit. Die Gerechtigkeit besteht darin, gegenteilige
Durchsetzungsinteressen
in Einklang zu bringen. Ganz anders bei Lévinas: "Das Seiende,
das
sich ausdrückt, setzt sich durch; aber er tut dies, indem es mich
in seiner Not und seiner Nacktheit – in seinem Hunger – um Hilfe
angeht,
ohne dass ich für seinen Anruf taub sein könnte. Dergestalt,
dass das Seiende, das sich durchsetzt, mit dem Ausdruck meine Freiheit
nicht begrenzt, sondern, indem es meine Güte hervorruft,
fördert."
(TU 287-88). Somit hat die Sprache primär eine ethische und nicht
eine ontologische Funktion. Es ist außerdem eine prosaische
Sprache,
d.h. sie hat im ethischen Verhältnis keine mystische Funktion.
Ferner,
ruft die Idee des Unendlichen nicht, wie etwa bei Kant, aus dem
Gewissen
des autonomen Subjekts, sondern aus dem Angesicht des Anderen. Die
Beziehung
mit dem Anderen ist die erfahrbare Beziehung mit seiner
Transzendenz.
Sowenig
wie Lévinas das Wesen des Weiblichen vom Biologischen her
deutet,
sowenig deutet er die Gesellschaft vom Genetischen her, aus ihrem
Entstehen
im Evolutionsprozeß. Das bedeutet nicht die Negation eines "genus
humanus", das als biologische Gattung bestimmt werden kann. Die Einheit
aber, die durch die Sprache gestiftet wird, ist sozusagen eine Einheit
'sui generis'. Sie ist eine Gemeinschaft ("communauté") in der
die
Menschen Brüder, d.h. miteinander verwandt sind. Diese
Bruderschaft
wird aber nicht etwa durch Ähnlichkeit oder durch eine kausal
verstandene
Vaterschaft gestiftet:
"Sie
ist die Stiftung einer Einzigkeit, mit der die Einzigkeit des Vaters
eins
ist und nicht eins ist." (TU 390)
Denn,
wie wir sahen, bildet der Sohn als Frucht des väterlichen Eros
keineswegs
bloß eine Verlängerung des väterlichen Ich, sondern
bleibt
ihm in der Beziehung zugleich äußerlich:
"Er
ist einzig für sich selbst, weil er einzig ist für seinen
Vater."
(TU 408)
Der
Begriff
der "Mutterschaft" wird eingeführt, aber lediglich in Zusammenhang
mit dem Hüten des Kindes (TU 407). Sowohl die
Nichtberücksichtigung
des mütterlichen Ich als auch die Betonung des väterlichen
Eros
und des männlichen Sohnes sind einseitig. Streng genommen ist auch
der Gedanke einer Verwandlung der Gesellschaft
("société")
in eine Gemeinschaft von Brüdern ("communauté fraternelle")
eine romantische Idee, bei Lévinas ist sie eine
"eschatologische"
Optik. Denn der Unterschied zwischen der Gemeinschaft der Gattung und
der
brüderlichen Gemeinschaft ist so wenig aufhebbar, wie der zwischen
der politischen Gesellschaft und der brüderlichen Gemeinschaft.
Dieser
letzte Unterschied ist kein Plädoyer für eine amoralische
Politik,
genausowenig wie der erste die biologische Einheit der Gattung mit der
durch die Sprache gestiftete asymmetrische Beziehung verwechselt.
Allerdings
hat Lévinas recht, wenn er, auf dem Fundament der "Asymmetrie
des
Interpersonalen" (TU 311), Konsequenzen für die politische
Gestaltung
der Gesellschaft ziehen will. Ich meine, dass das Antlitz des Anderen
durchaus
gesellschaftspolitisch zu verstehen ist: Es sind die Leiber und
Gesichter
der Hungernden, die das satte Selbst einer Gemeinschaft oder einer
Gruppe
von Ländern in Frage stellen. Auch in dieser Begegnung ist das
Dritte
gegenwärtig, als jene Dimension nämlich, die die Ebene der
bilateralen
Beziehungen und Verträge sprengt. Diese Dimension sprengt die
Logik
des Krieges und die des Handelns. Im Falle des Krieges fehlt jede
Beziehung.
Der Handel ist wiederum eine Versachlichung des Anderen. Beide, Krieg
und
Handel, legen die Schwäche des Willens dar:
"Das
Gold und die Drohung zwingen den Willen dazu, nicht allein seine
Produkte,
sondern sich selbst zu verkaufen. Oder auch: Der menschliche Wille ist
nicht heroisch." (TU 335)
Letztlich
ist es die Sterblichkeit, die "die Setzung eines Für-sich, das
nicht
schon dem Anderen ausgeliefert und daher nicht schon Ding
wäre"
verhindert (TU 345). Die Wahrheit des sterblichen Willens ist aber
nicht
die Furcht vor dem Tod, sondern "die Furcht, einen Mord zu begehen."
(TU
359), oder positiv und formelhaft ausgedrückt:
"Für
den Anderen sein heißt - gut sein." (TU 382). Der eigentliche
Vollzug
des Seins ist – Exteriorität.
Sein
heißt, "von Außen
auf
uns zu – als Getrennter – oder Heiliger – als Antlitz" (TU 421)
Für
die metaphysische Logik des Seins sind das Endliche und das Unendliche
zwei Pole, die zu einer Totalität des Realen gebracht werden.
Für
Lévinas aber ist das Sein nicht Totalität sondern
Exteriorität.
Das Sein ist also primär das Sein des Seienden (genitivus
subiectivus)
oder, anders ausgedrückt, das Seiende hat den Vorrang vor dem Sein
als Totalität. Was ist, ist die Beziehung zwischen getrennten
Seienden,
die "rélation sans rélation", das
"Von-Angesicht-zu-Angesicht",
wodurch das Dritte ein-bricht. Dieser Einbruch sprengt das "Sein als
Panorama"
(TU 443), die Ontologie des Neutrums. Existieren heißt "über
das Sein hinausgehen" (TU 438). Dieses Ausser-sich-gehen ist Beziehung
zum Anderen "als Dienst und als Gastlichkeit" (TU 435)
"Im
Gegensatz zur Tradition des Spinozismus ereignet sich dieses
Überschreiten
des Todes nicht in der Universalität des Denkens, sondern in der
pluralistischen
Beziehung, in der Güte des Seins für den Anderen, in der
Gerechtigkeit."
(TU 438)
III.
NACH-WORTE
Ich
schließe
diese Ein-Blicke in Totalität und Unendlichkeit mit einem
Hinweis
auf die Rezeption der Philosophie Lévinas in Lateinamerika sowie
mit einer Bemerkung zum Thema Heidegger-Lévinas. Mit dem ersten
Hinweis möchte ich auf die sozialphilosophische Wirkung in der
konkreten
Situation eines ausgebeuteten Kontinents aufmerksam machen. Bei dem
zweiten
geht es mir um die Frage des Verhältnisses zwischen Ethik und
Ontologie.
Lévinas
selbst hat sich über die Wirkung seiner Philosophie in
Lateinamerika
sowie auf die Frage nach einer Synthese mit dem Marxismus
folgendermaßen
geäußert:
"Ich
kannte Dussel, der mich ehedem auch zitierte, und der heute dem
politischen
-, sogar dem geopolitischen Gedanken viel näher steht. Auf der
anderen
Seite habe ich eine sehr sympathische südamerikanische Gruppe
kennengelernt,
die an einer "Philosophie der Befreiung" arbeitet – Scannone des
näheren.
Wir haben hier eine Konferenz abgehalten, mit Bernhard Casper, meinem
Freund,
dem Freiburger Theologieprofessor, und katholischen Philosophen aus
Südamerika.
Es gibt da einen interessanten Versuch, auf den südamerikanischen
volkseigenen Geist zurückzukommen; im übrigen steht dahinter
ein grosser Einfluß Heideggers in der Art, dem 'Rhythmus' der
Entwicklung,
in der Radikalität der Fragestellung. Ich bin sehr glücklich,
sehr stolz auch, wenn ich ein Echo in dieser Gruppe finde. Das ist eine
Zustimmung 'von unten'. Das bedeutet, dass es Leute gibt, die auch
'das'
gesehen haben." [Lévinas 1986, 42]
Bezüglich
des Marxismus betont Lévinas, dass in diesem nicht allein das
Moment
der Eroberung, sondern auch das "Erkennen des Anderen" (ibid.) gibt,
und
dass für ihn eine der größten Enttäuschungen des
20.
Jahrhunderts gewesen ist, dass eine solche Bewegung den Stalinismus
gebracht
hat: "Das ist die Endlichkeit" (ibid.). Aber zurück zu
Lateinamerika.
In seiner "Ethik der Gemeinschaft" [Dussel 1988] deutet Dussel das
"Antlitz"
des Anderen im Sinne der unterdrückten Völker und faßt
von hier aus die Praxis der Exteriorität als Praxis der Befreiung
auf. Das führt u.a. dazu, die totalisierende Vorstellung einer
dialektischen
Praxis, von außerhalb ("aná") des Horizonts des Systems,
"analektisch"
also, zu durchbrechen. Eine solche Sprengung geschieht auch
hinsichtlich
der Vorstellung einer "idealen Kommunikationsgemeinschaft" (K.-O.
Apel). Denn für Dussel hat die "reale Kommunikationsgemeinschaft",
die mehr ist als bloße Argumentationsgemeinschaft, nämlich
ethisch-interpellierende
Lebensgemeinschaft, das Primat gegenüber dem
abstrakt-transzen- dentalen
Logos. [Dussel 1990].
Scannone
seinerseits /10/, denkt die ethische Dimension in ihrer
Inkarnation im "Angesicht der Armen", wobei er diese Inkarnation auch
in
ihrer konkreten kulturellen Dimension im Sinne des Mestizentums
Lateinamerikas
auffaßt. Sowohl diese Betonung der symbolischen Dimension als
auch
eine nicht totalisierende Kategorie des "Wir" des Volkes, grenzen
diesen
Ansatz von dem des Lévinas und führen diesen explizit auf
der
Ebene einer konkreten sozialpolitischen inkarnierten und das
heißt
pluralen Reflexion hin.
Zum
Verhältnis Heidegger-Lévinas glaube ich, dass der
eigentliche
Widersacher in "Totalität und Unendlichkeit" nicht Heidegger,
sondern
- Spinoza ist /11/. Denn der Duktus der Heideggerschen
Seinsfrage besteht gerade darin, die totalisierenden Entwürfe der
Metaphysik in Frage zu stellen. Die Existenz, das "Dasein", ist
wiederum
kein Neutrum, sondern ein Sein nicht nur "mit", sondern auch "für"
den Anderen, dass sich als "Draußen-sein" vollzieht und somit die
Vorstellung einer in sich abgekapselten Psyche sprengt. Denn Heidegger
kennt nicht bloß das von Lévinas hervorgehobene "Besorgen"
sondern die "vorspringend- befreiende Fürsorge" als wohl ethische
Dimension
des "Mitdaseins". Interessanterweise nimmt Lévinas in einem
Martin
Buber gewidmeten und 1963 veröffentlichen Essay [Lévinas
1963],
Heidegger gegenüber Buber in Schutz und zwar in dem Sinne, dass
Lévinas
den Heideggerschen Begriff der "Fürsorge" als die materielle Sorge
um den Anderen versteht. Dabei übersieht er auch hier den
Unterschied
zwischen der "einspringend-beherrschenden" und der
"vorspringend-befreienden
Fürsorge" /12/. Auch Buber mißdeutet die
"Fürsorge" im Sinne einer äußeren und nicht einer
"wesentlichen
Beziehung" des Selbst gegenüber dem Anderen [Buber 1962]. Der
Mensch
vollzieht sich bei Heidegger, so Buber, solipsistisch im Selbstsein
/13/.
In diesem Sinne betont er in seiner Erwiderung an Lévinas, dass
er den geistigen Zugang zum Anderen zwar nicht im Sinne einer "rein
geistigen
Freundschaft", wohl aber als ein Sichöfnen dem
"eigentümlichen
Seelenprozeß" des Anderen versteht. Denn, so Buber gegen
Lévinas:
"Wenn
alle wohlbekleidet und wohlgenährt wären, wüde das
eigentliche
ethische Problem erst ganz augenscheinlich werden." [Buber 1963,
618].
Demgegenüber
bildet die "vorspringend-befreiende Fürsorge", etwa für M.
Boss,
die Grundlage für das "daseinsanalytische" therapeutische Handeln
[Boss 1975]. Der gemeinsam also ethisch mit-geteilte Offenheitsbereich
ist auch der zu bedenkende Ort des informationstechnischen Handelns
[Capurro
1986]. Die Sprengung der Metaphysik der Präsenz, der Einbruch des
Dritten also, wird bei Heidegger durch die stets sich entziehende und als
solche sich in der Endlichkeit des Existierens manifestierende
Dimension
der "Lethe" – als Herz der
"A-letheia" – angezeigt. Sowenig wie
für
Lévinas die Ethik im Sinne universeller Soll-Sätze
verstanden
wird, sowenig führt die Seinsfrage zu einem ethik-freien Diskurs.
Heidegger bedenkt die Ethik im Sinne des menschlichen Wohnens ("ethos"
mit Eta), des endlichen Aufenthaltes des Menschen, der in seinem
Handeln
wesensmäßig für den Anderen "schuldig" bleibt. Die
Größe
des phänomenologischen Ansatzes von Lévinas besteht aber
freilich
darin, diese Erfahrung des Schuldig-seins in der Beziehung
"von-Angesicht-zu-Angesicht",
als nominale Beziehung also, thematisiert zu haben. Wenn Heidegger die
Seinsfrage aus ihrer Leere bzw. Abstraktheit herausholt, dann nicht um
eine neue Seinslehre zu gründen, sondern, ganz im Sinne von
Vattimos
"schwachem Denken" [Vattimo 1990], um sie zur Auflösung zu
führen.
Wenn sich dann die Dimension der Grundlosigkeit auftut, dann wird diese
eben nicht mehr durch ein "il y a" ausgefüllt, sondern dieses wird
von jener ausgehöhlt. Von hier aus sucht Heidegger ein Gott
jenseits
der Metaphysik der Präsenz, aus der Erfahrung der Grundlosigkeit
des
"Es gibt". Weist vielleicht Lévinas auf das Gemeinsame im
phänomenologischen
Denken hin, wenn er im Vorwort seines kritischen Werkes Autrement
qu'être
ou au-delà de l'essence (S. 10) schreibt:
"Mais
entendre un Dieu non contaminé par l'être est une
possibilité
humaine non moins importante et non moins précaire que de tirer
l'être de l'oubli où il serait tombé dans la
métaphysique
et dans l'ontothéologie."
ANMERKUNGEN
1.
Zu seiner Biographie vgl. [Schmidt/Schischkoff 1982; Krewani 1983,
Biographie;
Strasser 1987].
2.
Auf den Unterschied zwischen "Ursprung" und "Ausgangspunkt" des
Philosophierens
macht P. Ricoeur aufmerksam. Vgl. Huizing 1988, 19, der auf
Lévinas'
Diktum verweist, wonach "jedes philosophische Denken auf
vorphilosophischen
Erfahrungen" ruht.
3.
Die Berechtigung der Rede von einer "Kehre" im Denken Lévinas
ist
nicht unproblematisch. Vgl. [Huizing 1988, 126].
4.
Alle TU-Zitate beziehen sich auf [Lévinas 1961/1987].
5.
Lévinas spricht auch von einer "Unterbrechung" (nicht
"Abbruch"!)
des Denkens. Vgl. [Funk 1989, 101].
6.
In der deutschen Übersetzung steht für "dévoiler" bzw.
"dévoilement" sowie "découverte", "erschließen"
bzw.
"Erschlossenheit", was "ouverture" heißt. Mit
"dévoiler"
ist wohl das Heideggersche "Entbergen" gemeint. Die "Erschlossenheit"
im
Sinne des "Draußen-seins" des "Daseins" steht näher der
"Exteriorität",
so wie auch der Begriff des "sich offenbaren" im Sinne des
Heideggerschen
Phänomenbegriffs. Lévinas stellt der "Erkenntnis" des
Anderen
durch den Selben, die "Offenbarung" ("révélation") des
Anderem
zum Selben gegenüber (TU 30). Nicht nur der Übersetzer,
sondern
Lévinas selbst begeht hier ein "qui pro quo", zumal Heidegger
keineswegs
darauf zielt, "dem Sein durch die Vorstellung gleichzukommen" (ibid.),
sondern stets auf die Abkünftigkeit der
erkenntnismäßigen
Aufklärung verweist.
7.
Vgl. [Strasser 1987, 234]: "Der Fremdling, die Witwe, die Waise sind
Ausnahmen
von der gebräuchlichen sozialen und juridischen Regel. Die
biblischen
Worte sollen die Einzigartikeit des Einzelnen und seiner Situation
paradigmatisch
verdeutlichen. Kein einziges gangbares Prinzip paßt auf seinen
Fall.
Wird der Einzelne aufgrund solch eines universalen Prinzips verurteilt,
dann widerfährt ihm Unrecht."
8.
In [Lévinas 1986, 36] weist Lévinas auf die Trennung des
Menschlichen in 'Mann' und 'Frau' und auf die Andersartigkeit im
Weiblichen
(wieso nicht im Männlichen?) hin: "die Frau ist weder
kontradiktorischer
noch konträrer Gegensatz zum Mann, noch wie die übrigen
Gegensätzlichkeiten.
Das ist nicht wie der Gegensatz von Licht und Finsternis. Die
Unterscheidung
ist keine zufällige, und es gilt, den Platz all dessen in Hinsicht
auf die Liebe zu bestimmen." Die Liebe, das ist Eros und Agape: "Vor
dem
Eros ist das Angesicht" (ibid.). Wenn das Weibliche "die
Andersartigkeit
selbst" ist (ibid.), dann scheint es wiederum jenseits des
Unterschiedes
Mann/Frau zu sein, als das Andere schlechthin. Das Weibliche ist dann
ein
anderer Name für die Idee des Unendlichen. Zu einer Ontologie der
Geschlechterdifferenz, die diese nicht 'ver-gleicht', sondern von der
sie
geschichtlich-geschicklich unterscheidenden Selbigkeit im Sinne eines
sie
transzendierenden Dritten denkt vgl. M. Eldred, Der Mann (Frankfurt
1989).
9.
In Lévinas 1986, 36, weist Lévinas auf die Trennung des
Menschlichen
in 'Mann' und 'Frau' und auf die Andersartigkeit im Weiblichen (wieso
nicht
im Männlichen?) hin: "Die Frau ist weder kontradiktorischer noch
konträrer
Gegensatz zum Mann, noch wie die übrigen Gegensätzlichkeiten.
Das ist nicht wie der Gegensatz von Licht und Finsternis. Die
Unterscheidung
ist keine zufällige, und es gilt, den Platz all dessen in Hinsicht
auf die Liebe zu bestimmen." Die Liebe, das ist Eros und Agape: "Vor
dem
Eros ist das Angesicht" (ibid.). Wenn das Weibliche "die
Andersartigkeit
selbst" ist (ibid.), dann scheint es wiederum jenseits des
Unterschiedes
Mann/Frau zu sein, als das Andere schlechthin. Das Weibliche ist dann
ein
anderer Name für die Idee des Unendlichen.
10.
Zu J.C. Scannone vgl. [Capurro 1990 und 1991].
11.
Zum Verhältnis Heidegger-Lévinas vgl. [Derrida 1972] und
[Huizing
1988]
12.
Lévinas schreibt: "Buber erhebt heftigen Einspruch gegen den
heideggerschen
Begriff der Fürsorge, der Sorge um den Anderen, die für den
deutschen
Philosophen der wahre Zugang zum Anderen sein soll. Sicherlich darf man
bei Heidegger nicht Menschenliebe und soziale Gerechtigkeit lernen
wollen.
Aber die Fürsorge als Antwort auf eine wesentliche Not ist ein
Zugang
zur Andersheit des Anderen. Sie wird dieser Dimension der Höhe und
des Elends gerecht, durch die sich das Verhältnis viel besser
kennzeichnet
als durch die Umfassung. Man darf sich fragen, ob Nacktheit kleiden und
Hunger stillen nicht der wahre konkrete Zugang zur Andersheit des
Anderen
ist - und zwar echter als die ätherische Luft der Freundschaft.
Ist
Zwiesprache ohne Fürsorge möglich?" (S. 131-132).
13.
Buber schreibt: "In der bloßen Fürsorge bleibt der
Mensch,
auch wenn er vom stärkstem Mitleiden bewegt wird, wesentlich bei
sich;
er neigt sich handelnd, helfend dem Anderen zu, aber die Schranken
seines
eigenen Seins werden dadurch nicht durchbrochen; er erschließt
dem
Anderen nicht sein Selbst, sondern gibt ihm seinen Beistand; er
erwartet
ja auch keine wirkliche Gegenseitigkeit, ja er erwünscht sie wohl
kaum, er "geht", wie man sagt, "auf den Anderen ein", aber er begehrt
nicht,
dass der Andere auf ihn eingehe. (...) Der einzelne Mensch trägt
bei
ihm das Wesen des Menschen in sich und bringt es zum Dasein, indem er
zu
einem "entschlossenen" Selbst wird. Das Selbst Heideggers ist ein geschlossenes
System." (S. 366-369).
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