1.
MASSENMEDIEN UND WELTVERNETZUNG
Themen
wie Pornographie und Rechtsradikalismus stehen oft im Mittelpunkt der
durch
die Massenmedien verbreiteten Kritik am Cyberspace. Dabei entsteht
leicht
den Eindruck, diese Probleme wären die eigentliche Herausforderung
der Cyberkultur. Entscheidend ist aber, daß dadurch die digitale
Weltvernetzung gegenüber den Massenmedien insgesamt ins Zwielicht
gerät. Eine mögliche Erklärung dafür liegt meines
Erachtens
darin, daß die Massenmedien und ihre Akteure den Cyberpace als
eine
ernsthafte existentielle Bedrohung ansehen. Mehrere Strategien bieten
sich
dabei an. So wird zum Beispiel eine wie auch immer geartete technische
Fusion dieser beiden Kommunikationsformen in Aussicht gestellt. Welche
Konsequenzen diese Fusion hätte, ist noch völlig offen.
Bekanntlich
sind die Massenmedien durch eine hierarchische One-to-many-Struktur
gekennzeichnet.
Die Weltvernetzung in Form von World Wide Web, E-Mail,
Diskussionsforen usw. erlaubt unterschiedliche Formen von interaktiven
Strukturen (one-to-many, many-to-one, many-to-many) unter
Umgehung
traditioneller Filter wie Journalisten, Moderatoren, Redaktionen,
Programmanbietern
und Herausgebergremien. Zwar bedarf eine Cyberkultur weiterhin dieser
Funktionen,
aber sie verändern sich entsprechend dem neuen Medium. Die
verbreitetste
Strategie der Massenmedien ist aber die der Ablehnung zum Beispiel in
Form
von Bedrohungsszenarien oder eben einseitig sensationsorientierter
Berichterstattung.
2.
STAATLICHE KONTROLLE ODER KONTROLLE DES STAATES?
Die
kulturellen
Veränderungen aufgrund der digitalen Vernetzung lassen sich,
über
die Sphäre der Massenmedien hinaus, in allen gesellschaftlichen
Bereichen
antreffen. Über Jahrzehnte gewachsene lokale und globale Macht-
und
Kontrollstrukturen und die damit zusammenhängenden beruflichen
Aufgaben
und Qualifikationen werden teilweise in Frage gestellt. Das verursacht
Ängste und Verunsicherung. Ein Beispiel dafür ist die
schleppende
Einführung dezentraler und kundenorientierter Vernetzung bei
Banken.
Ein weiteres, das öfter angekündigte Ende der über
Jahrhunderte
gewachsenen Buchkultur. Zwar glaubt fast niemand ernsthaft an das Ende
des Buches, aber viele bedauern den Niedergang der Lesekultur, was aber
wiederum nicht primär mit dem Internet, sondern mit dem Fernsehen
zu tun haben mag. Dabei werden etwa die haptische Qualität des
Buches
sowie andere Eigenschaften dieses Mediums, je nach Standpunkt,
gegenüber
digitaler Vernetzung und Multimedialität über- oder
unterbetont.
Es bilden sich Lager und Polemik macht sich breit.
Gerade
die Buchkultur ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die umfassende
kulturelle Auswirkung eines neuen Mediums. Die Aufklärung
kämpfte
bekanntlich ganz besonders um die Zensurfreiheit des gedruckten Wortes
gegenüber der Kontrolle durch Politik, Kirche und Militär.
Auf
dieser Grundlage avancierten die Massenmedien - allen voran die Presse,
der Rundfunk und das Fernsehen - in diesem Jahrhundert zu einer vierten
Gewalt in der Konzeption eines modernen demokratischen Staates. Mit der
digitalen Weltvernetzung spitzt sich diese Entwicklung nicht nur weiter
zu, sondern sie kehrt sich teilweise um. Die Nationalstaaten, die noch
eine gewisse Kontrolle über die Massenmedien ausübten, wurden
zunächst durch deren zunehmenden politischen Einfluß
verunsichert.
Die Verhältnisse werden aber jetzt völlig auf den Kopf
gestellt.
Die herkömmlichen Kontroll- und Zensurmechanismen versagen
zumindest
teilweise im Internet und man befindet sich in der umgekehrten
Situation:
Nicht der Staat gewährt einem Medium bestimmte Freiheiten, sondern
die Staaten müssen sich solche Freiheiten gegenüber einem
globalen
Medium politisch und kulturell erkämpfen.
Dieses
Phänomen der Umkehrung sozialer Macht- und
Kontrollverhältnisse
läßt sich auch auf Mikro- und Mesoebene beobachten. Kinder
und
Jugendliche haben auf einmal einen für bisherige Generationen
undenkbaren
kulturellen Vorsprung gegenüber den Älteren. Das
Lehrer-Schüler-Verhältnis
so wie auch die herkömmlichen Wissenshierarchien an Hochschulen
kehren
sich ebenfalls teilweise um oder werden durch weltweite Kommunikation
sowie
durch den schnellen Zugriff zum Wissen ausgehöhlt. Das gilt
insbesondere
auch für die gewachsenen hierarchischen Strukturen in der
Wirtschaft,
die durch vernetzte Strukturen zu einem radikalen Umdenken ihrer
Produktions-,
Innovations-, Informations- und Kommunikationsprozesse gezwungen ist.
Die
Management-Lehre muß neu geschrieben werden.
3.
INTERNETMORALEN UND ETHOS DES CYBERSPACE
Die
Weltvernetzung
bringt aber keineswegs eine Angleichung aller Verhältnisse im
Sinne
von Chancengleichheit, wie die Optimisten es gern hätten, noch im
Sinne von Verflachung kultureller Unterschiede, wie es die Pessimisten
befürchten. Beides ist zutreffend: Herkömmliche Wissens- und
Kommunikationsmonopole werden in Frage gestellt, aber dabei entstehen
neue
Ungleichheiten. Das gilt schon auf der technischen Ebene, wenn man zum
Beispiel an die unterschiedliche Auslastung und Strukturierung der
Netze
denkt. Im Netz bilden sich aber auch unterschiedliche Internetmoralen.
Diese werden durch die lokalen Kulturen geprägt. Diese Situation
eines
moralischen Pluralismus ist nicht neu, aber sie macht sich hier
besonders
bemerkbar und führt unweigerlich zu Konflikten, die mit
herkömmlichen
politischen und rechtlichen Mitteln allein kaum zu bewältigen
sind.
Die Aufstellung einer Netiquette war und ist ein Ausdruck
dieses
Problems. Natürlich lassen sich moralische Konflikte nicht durch
Vorschriftskataloge
lösen, zumindest solange diese nicht als Anlaß zum Dialog
verstanden
werden. Ethik als Reflexion über Moral kann und soll mittel- und
langfristig eine Atmosphäre schaffen. Der Terminus Atmosphäre
steht hier stellvertretend für das, was die abendländische
Tradition ethos im Sinne von Wohnort nennt. Das
griechische Wort ethos
bedeutet, je nach Schreibweise mit kurzem oder langem E, Gewöhnung
bzw. Wohnort oder Gewohnheit. Durch Gewöhnung bildet sich, so
Aristoteles,
der Charakter oder, allgemein gesagt, eine Kultur.
Die
Formel Ethos des Cyberspace drückt das Problemfeld einer
Weltkultur
aus, die zwar über die Grenzen der modernen Nationalstaaten
hinauswächst,
ohne aber schon einen neuen Wohnort gebildet zu haben. Zwar helfen
technische
Normen sowie gesetzliche Regulierungsmaßnahmen für eine
minimale
Versittlichung des Cyberspace, aber dadurch werden die Probleme im
globalen
Umgang mit diesem Medium kaum gelöst. Mit anderen Worten, wir
haben eine doppelte Aufgabe bei der Bildung eines Ethos des Cyberspace
vor uns, nämlich eine innere und eine äußere. Einige
Propheten
dieses neuen Mediums nehmen ausschließlich eine innere
Einstellung
ein, indem sie den Cyberspace zu einer neuen kulturellen Stufe der
Menschheit
stilisieren. Manche machen sogar eine gnostische Lehre daraus, indem
sie
die Weltvernetzung als Keim eines sich bildenden supraindividuellen
Gehirns
ansehen. Die frühen anarchistischen Vorstellungen eines allen
zugänglichen
und politisch nicht kontrollierbaren Kommunikationsraumes, in dem sich
der Traum eines Kommunismus des Geistes technisch verwirklichen
würde,
sind längst den wirtschaftlichen und politischen Interessen der
verschiedenen
Akteure gewichen.
Der
Blick von außen auf die globale Weltvernetzung ist durch die
vielfältige
Strukturierung der geographischen, politischen und kulturellen
Räume,
durch die verschiedenen historisch gewachsenen Wohnorte also,
geprägt.
Diese Unterschiede führen innerhalb des Netzes aufgrund
technischer,
ökonomischer, rechtlicher und politischer Kontrollinstanzen zur
Bildung
von Internetmoralen.
4. AUFGABEN EINER ETHIK
DER CYBERKULTUR
Wie
gehen
wir also an die Probleme der Bildung eines Ethos des Cyberspace heran?
Ich meine, daß die Spannung zwischen Selbstorganisation und
äußeren
Kontrollmaßnahmen nicht aufgehoben werden kann. Sie bedarf aber
einer
wechselseitigen Vermittlung. Darin sehe ich die künftigen Aufgaben
einer Ethik der Cyberkultur. Ich nenne einige dieser
Problemfelder:
Die
Spannung
zwischen der Freiheit der Kommunikation und dem Schutz der
Privatsphäre.
Stichwort: informationelle Selbstbestimmung.
Die
Spannung
zwischen der digitalen Manipulation von Waren und Dienstleistungen und
dem Recht auf den Schutz der materiellen und geistigen Arbeit.
Stichwort:
Copyright.
Die
Spannung
zwischen den Informationsreichen und -armen. Stichwort:
Informationsgerechtigkeit.
Die
Spannung
zwischen den Wirtschaftsinteressen des Informationsmarktes und dem
demokratischen
Recht auf einen ungehinderten Informationszugang. Stichwort:
informationelle
Grundversorgung.
Die
Spannung
zwischen globalen und lokalen Informationsmärkten. Stichwort:
"Glokalisierung"
(Beck 1997)
Die
Spannung
zwischen der einen Cyberkultur und dem Recht auf Bewahrung
medialer
Traditionen. Stichwort: multikulturelle Mediengesellschaft.
Diese
Problemfelder gehören zu einem sich entwickelnden
Weltinformationsethos.
Die Lösungen schwanken zwischen gesetzlichen Regulierungen und dem
Ruf nach Selbstkontrolle. Ich meine, daß zu komplexen Problemen
auch
komplexe Lösungen gehören. Selbstkontrolle durch die Nutzer,
interne Selbstregulierungsmechanismen im Netz sind dazu ebenso
notwendig
wie öffentliche Foren, nationale und internationale Gesetzgebung,
Einwirkung von NGOs (Non-Governmental Organizations) und
UN-Organisationen,
wie UNESCO, ITU und den Entwicklungsprogrammen der UNDP und der
Weltbank.
In Frage steht dabei, wie dieses europäisch-abendländische
Kulturprogramm
Vermischungen mit anderen medialen Traditionen zuläßt.
Mögliche
Strategien sind: Abwehr, Mißverständnis, Adaption,
Assimilation
bis hin zu einer medialen Weltgemeinschaft. Letztere kann als Plattform
für kulturelle Vielfalt verwirklicht werden. Sie kann aber auch zu
Uniformität und Kolonialismus führen. Eine Ethik der
Cyberkultur
muß sich diesen Fragen stellen.
LITERATUR
Beck,
U.: Was ist Globalisierung? Frankfurt 1997.
Capurro,
R.: Informationsgerechtigkeit. In: medien
praktisch
4/98, S. 42-44.
-: Ethik der Cyberkultur
(1998)
-: Leben im Informationszeitalter,
Berlin
1995.
Coy,
W.: Media Control. Wer kontrolliert das Internet? In: S. Krämer,
Hrsg.:
Medien Computer, Realität, Frankfurt a.M. 1998, S.
133-151.
Großklaus,
G.: Interkulturelle Medienwissenschaft. In: Jahrbuch Deutsch als
Fremdsprache
22 (1966), S. 191-206.
Kolb,
A., Esterbauer, R., Ruckenbauer, H.-W. Hrsg.: Cyberethik. Verantwortung
in der digital vernetzten Welt, Stuttgart 1998.
Leggewie,
K., Maar, Chr. Hrsg.: Internet Politik. Von der Zuschauer- zur
Beteiligungsdemokratie.
Köln, 1998.
UNESCO:
Virtual Forum-INFOethics.