3.
Bewußt-sein zwischen Abgrund und Wahnsinn
Kurz nach
der Veröffentlichung von "Sein und Zeit" stellt Heidegger das
Verhältnis von Dasein und
Bewußtsein
folgendermaßen dar:
"Das
Transzendenzproblem überhaupt ist nicht identisch mit dem Problem
der Intentionalität. Diese ist als ontische Transzendenz selbst
nur
möglich auf dem Grunde der ursprünglichen Transzendenz: dem In-der-Welt-sein.
Diese Urtranszendenz ermöglicht jegliches Verhältnis zu
Seiendem.
Dieses Verhältnis aber geschieht dergestalt, daß im und
für
das Verhalten mit diesem Seiendes (sic!) im 'Da' ist. Es gründet
in
einem vorgängigen Verstehen des Seins des Seienden. Dieses
Seinsverständnis
gewährt erst die Möglichkeit, daß sich Seiendes als
Seiendes
bekundet. Es trägt das Licht voran, in dessen Helligkeit Seiendes
sich zeigen kann." (Heidegger 1978: 170)
Ich lese
die mittleren Sätze so: "Dieses Verhältnis aber geschieht
dergestalt,
daß im und für das Verhalten mit diesem (intentionalen
Verhältnis
zu Seiendem, RC) Seiendes im 'Da' ist. Es (das intentionale
Verhältnis
zu Seiendem, RC) gründet in einem vorgängigen Verstehen des
Seins
des Seienden." Nach der "Kehre" ist aber nicht mehr das
Seinsverständnis
der Träger des Lichtes, sondern das "Dasein" gehört in die
"Lichtung"
des "Da-seins", d.h. des "Ereignisses".
Unmittelbar
zum soeben zitierten Text folgt eine Selbstkritik der Daseinsanalytik,
die in den Hinweis mündet, die in der Fundamentalontologie
angelegte
Problematik einer universalen Ontologie bedarf zu ihrer Behandlung
eines
"Umschlags" oder "Kehre" in die ontische Problematik. Damit ist aber
weder
eine "Welt- und Lebensanschauung", noch um eine Summierung von
"ontischen
Erkenntnissen", sondern die Thematisierung jener 'Disziplinen' der
'metaphysica
specialis', nämlich Ethik, Naturphilosophie und 'Theologie'
gemeint.
Erst dadurch findet eine "Konkretion der ontologischen Differenz" statt
(ebda. 199-202).
Diese
Konkretion bedeutet die Rückbeziehung der Transzendenz an die
Intentionalität
und somit an das jetzt nicht mehr eingekapselte Bewußtsein.
Voraussetzung
dafür ist aber wiederum, daß Intentionalität nicht nur
im eingeschränkten idealistischen Sinne als Struktur der
Erkenntnis,
sondern im radikalen Sinne als "Wesenstruktur des Daseins"
aufgefaßt
wird (ebda.167). Es besteht keine Alternative zwischen
"ursprünglicher
Transzendenz" und Intentionalität oder "ontischer Transzendenz",
sondern
"wir bewegen uns im Kreis" und vermögen erst so "ins Zentrum" zu
blicken.
Es ist eine zweideutige oder hin- und rückläufige Bewegung
und
es gilt das Beunruhigende dieses Kreisens nicht "auf dem Wege der
Dialektik"
auszugleichen (Heidegger 1983: 276; Capurro 1993).
Heideggers
Denken dreht sich aber noch einmal und zwar so, daß die Frage
nach dem Zusammenhang zwischen Dasein und Bewußtsein noch
radikaler wird. In der
"Einleitung" zu "Was
ist Metaphysik?" aus dem Jahre 1949 stellt er zurückblickend auf
"Sein
und Zeit" fest, daß der daseinsanalytische Ansatz als Durchgang
für
die Erörterung der Seinsfrage gedacht war, und daß die
Abhandlung
deshalb den Titel "Sein und Zeit" und "nicht 'Existenz und Zeit', auch
nicht 'Bewußtsein und Zeit'" trägt (Heidegger 1975: 17).
Dadurch
wird nicht nur Bewußtsein vom Dasein her, sondern beide von der
abgründigen
Erfahrung des sich zugleich bekundenden ("Da") und entziehenden Seins
erfahren
und erörtert. Heidegger bringt das Mißverständnis zur
Sprache,
in "Sein und Zeit" wäre letztlich das Wort "Dasein" "an die
Stelle"
von "Bewußtsein" getreten. Nicht aber "an die Stelle", sondern
"als
Stelle", wo die "Wahrheit des Seins" in ihrer Abgründigkeit
erfahren
werden kann, tritt "Dasein" ein (ebda. 14). Damit wird also gesagt,
daß
Bewußtsein, sofern es als Fundament des Seins verstanden wird,
diese
Abgründigkeit verdeckt, aber auch, daß Dasein keineswegs als
ein Ersatzfundament zu verstehen ist, sondern als "Ortschaft" oder
"Stelle".
Die
Frage lautet demnach nicht: Dasein oder Bewußtsein?, sondern das
Bewußtsein "setzt die
ekstatisch gedachte
Existenz als essentia des Menschen voraus", diese aber ist die "Stelle"
der "zwiegestaltigen" und abgründigen Erfahrung, nämlich 'daß
Seiendes ist'. Das Bewußtsein, d.h. das intentionale
Verhältnis
zu Seiendem, schafft, so Heidegger, weder das Offensein des Seienden
noch
das Offenstehen des Menschen für das Seiende, sondern setzt beides
voraus. So verstanden, bedeutet das Wort '-sein' sowohl bei
'Bewußtsein'
als auch bei 'Selbstbewußtsein', "falls man je ernstlich
daran gedacht hat", wie Heidegger spitzfindig hinzufügt, "das
existenziale Wesen dessen, das
ist, indem
es existiert" (ebda. 16).
Mit
anderen Worten, im Herzen des Bewußtseins, nämlich in seinem
Sein, ist die Stelle, 'in' der der Mensch ist. Sein 'In-Sein' in dieser
Stelle nennt Heidegger "Inständigkeit". In ihr kann sich die
"Intentionalität
des Bewußtseins" erst bewegen. Mit der Differenz zwischen
"Intentionalität"
und "Inständigkeit", wird die Freiheit als
Ermöglichungsgrund'
für die Offenheit der Intentionalität ausgesprochen. Aber
nicht
das Selbst des Selbstbewußtseins oder das des "eigentlichen"
"Selbst-seins"
bestimmt primär die Existenz, sondern im "Durchgang" durch die
Daseinsanalytik
als Frage nach dem Menschen gelangt Heidegger zum "Da" als "die
Offenheit
des Seienden als solchen im Ganzen" (Heidegger 1989: 296).
Es
ist der Übergang vom "Dasein" zum "Da-sein", von der "Existenz"
zur
"Ek-sistenz" und vom "Bewußtsein" zum "Bewußt-sein". Die
Bindestriche
bringen die zugleich einheitliche und mannigfache Struktur des
"Ereignisses"
zum Ausdruck, nämlich des grundlosen Sichgebens des Seins, das
nicht
nur den Menschen, sondern auch alles nichtdaseinsmäßige
Seiende
entläßt bzw. freigibt. Denn, so Heidegger in den
"Beiträgen",
"das
Da-sein steht in "Sein und Zeit" noch im Anschein des
'Anthropologischen'
und 'Subjektivistischen' und 'Individualistischen' u.s.f., und doch ist
von allem das Gegenteil im Blick; freilich nicht als das zuerst und nur
Beabsichtigte, sondern dieses Gegenteilige überall nur als die notwendige
Folge der entscheidenden Wandlung der 'Seinsfrage' aus der
Leitfrage
in die Grundfrage." (ebda. S.295)
Welche
Folgen hat diese Wandlung für das Verhältnis von Dasein und
Bewußtsein?
oder, anders gefragt, wie stellt sich das Verhältnis von "Da-sein"
und "Bewußt-sein" dar? Im Protokoll zum Zähringer-Seminar
aus
dem Jahre 1973 wird von einem Seminarteilnehmer die Frage aufgeworfen,
ob "vom Bewußtsein zum Da-sein" überzugehen, nicht als eine
"Revolution der Denkart" (Kant) oder als eine "Umkehrung aller
Vorstellungsweisen
und aller Formen" (Hölderlin) zu verstehen ist (Heidegger 1977:
123).
Heideggers
Antwort lautet, daß der passendere Ausdruck "Revolution der
Ortschaft
des Denkens" oder "Ortsverlegung" wäre. Alles, was in den
Ort
des Bewußtseins "verlegt" wurde, indem dieser als
"geschlossene
Ort" "an die Stelle" des "Da-seins" trat, wird jetzt "in" diesen Ort,
man
könnte sagen, zurückverlegt, ohne also, daß das
"Da-sein"
jetzt wiederum "an die Stelle" des Bewußtseins treten würde.
Es (das "Da-sein") tritt "als Stelle", wobei diese Verlegung eben keine
Verlegung mehr ist. "Damit wird verständlich", so
Heidegger
anschließend, "daß das Bewußtsein im Da-sein
gegründet
ist." (ebda. 123)
Ein
nicht nur im "Dasein", sondern im "Da-sein" gegründetes
Bewußtsein,
ein "Bewußt-sein" also, ist aber wie eine Schnecke, die sich
allmählich
bewußt wird, daß ihr Zuhause eigentlich dort ist, wo sie
ihr
Unzuhause dachte. Mehr noch, sie merkt, daß sie ihr
vermeintliches
Zuhause nicht als Gegensatz zu einem Unzuhause auffassen kann. Sie
muß
über den Sinn ihres Gehäuses ganz neu nachdenken, über
das,
was es eigentlich bedeutet 'Zuhause zu sein', und 'Aus dem Haus gehen'.
Alles
dreht sich um und es wird ihr dabei wahrscheinlich schwindlig. Sie wird
vermutlich mißtrauisch darüber, ob die ganze Sache doch
nicht
ein Schwindel ist, ja ob sie nicht dadurch erst in einen Wahnsinn
verfällt,
indem sie die normale Teilung zwischen Innen und Außenwelt, die
doch
eine handfeste Sache ist, aufgibt. Sie denkt vielleicht an Kant, von
dem
Heidegger schreibt: "wie bei keinem Denker sonst (hat man bei ihm, RC)
die unmittelbare Gewißheit: er schwindelt nicht." (Heidegger
1977a:
431; Welsch 1992: 12-26; Capurro 1993) Vielleicht weist aber unsere
Schnecke
ihre Schwindelgefühle nicht ab, sondern bedenkt, in ihrem
Gehäuse
oder auch beim Gehen, daß sie weder den Boden unter ihrem
Gehäuse
noch ihre Fähigkeit des rutschenden Gehens selber schafft. Kurz,
unsere Schnecke muß sich entschließen, ob sie eine
Philosophin
werden will oder nicht.