NACHWORT
G. Vattimo:
Denker der Moderne
I.
Moderne und Postmoderne
Gianni
Vattimo, geb. 1936 in Turin, kann als einer der führenden
Vertreter
der philosophischen Postmoderne in Italien sowie im gegenwärtigen
Denken überhaupt betrachtet werden. Dieser Tatsache in einem
kurzen
Nachwort Rechnung zu tragen ist eine kaum lösbare Aufgabe. Neben
der
Darstellung der Komplexität der sich hinter dem Ausdruck
"Postmoderne"
verbergenden Positionen, d.h. sowohl in der Auffassung ihrer
"Befürworter"
als auch ihrer Kritiker (man denke an Emanuele Severino in Italien, an
Jean-François Lyotard und Jacques Derrida in Frankfreich, an
Jürgen
Habermas und Wolfgang Schirmacher in der Bundesrepublik usw.) besteht
eine
weitere Schwierigkeit darin, daß kaum Vorkenntnisse –
zumindest
bei einem breiten Leserkreis im deutschen Sprachraum – über diesen
Autor vorausgesetzt werden können: Außer der Schrift Jenseits
vom Subjekt (1986 in der "Edition Passagen") und dem Aufsatz
"Ideologie
oder Ethik. Von Marx zum schwachen Denken" (1987/88 in den Nürnberger
Blättern, Nr. 7) sind bisher keine deutschen
Übersetzungen
der Werke Vattimos erschienen.
Bei
dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Sammlung von
Beiträgen,
die zwischen 1980 und 1984 veröffentlicht wurden. Die Einheit
des hier erörterten Sachverhalts kommt im Haupttitel zum Ausdruck:
es geht um die "Moderne". Vattimo: Denker der Moderne? Steht eine
solche
Kennzeichnung nicht im Widerspruch zu seiner "Einordnung" unter den
"Postmodernen"?
Oder ist vielleicht nicht darin bereits die Problematik der
"Postmoderne"
selbst enthalten, daß sie nämlich in die noch herrschende
"Moderne"
eingebettet ist, sich aber bemüht, die Moderne als Moderne
zu reflektieren und so gewissermaßen jenseits ("post")
von
ihr steht? Was besagt dann aber das Präfix "post"? Eine
Erörterung
dieser zentralen Frage findet der Leser in Vattimos Einleitung zu
dieser
Sammlung und, in bezug auf Nietzsche, in Kap. VI. So wäre also der
Genitiv "Denker der Moderne" sowohl im subjektiven als auch im
objektiven
Sinne zu verstehen.
Das
Charakteristische dieses Denkens der Moderne (genitivus obiectivus)
besteht
aber gegenüber einer Selbstreflexion der Moderne darin, daß
hier kein endgültiger systematischer Abriß der Grundfragen
der
Moderne vorgelegt wird. Das kommt bereits in der Form dieses
Denkens,
nämlich als Essay-Sammlung, zum Ausdruck. Wenn aber
darüber
hinaus die Moderne u.a. dadurch gekennzeichnet ist, daß in ihr
der
Anspruch eines begründenden Denkens (sei es in
rationalistischer
Form wie bei Descartes oder als Transzendentalphilosophie wie bei Kant
und seinen "modernen" Nachfolgern) durch das Denken selbst, vor allem
in
der Form einer "Letztbegründung", erhoben wird, dann steht dieser
"starke" Grundzug der Moderne einem "schwachen Denken" – so
Vattimos
Kennzeichnung seines Denkens als "pensiero debole" – gegenüber
(den
selbstironischen Unterton einer solchen Redeweise mit eingeschlossen).
Macht man sich jedoch bewußt, daß die moderne (!)
Wissenschaftstheorie
gerade in der Infragestellung des Theorems der "Letztbegründung"
den
kritischen Punkt sieht, wo die wissenschaftlichen Theorien von ihrer
angeblichen
Stärke – wollen sie sich als "wissenschaftlich" erweisen – Abstand
nehmen müssen, um sich stets ihrer Vorläufigkeit (oder
"Falsifizierbarkeit")
zu vergewissern, dann stellt sich die Frage, wie dieses aus der
hermeneutischen
Erfahrung der Kunst schöpfende Denken zur Theorie der
"wissenschaftlichen
Revolutionen" in Beziehung steht. Hierzu ist auf den zweiten Teil
dieses
Buches zu verweisen.
Besonders
erwähnenswert scheint mir in diesem Zusammenhang, daß der
Autor
das moderne Phänomen "Wissenschaft und Technik" – Heidegger
folgend
– in seiner Einheit erfaßt und von der Erfahrung der Kunst her zu
deuten versucht. Die verstreuten bzw. "unsystematischen" Hinweise auf
die
Informationstechnologie sowie auf die "Massenmedien" (siehe vor allem
die
Einleitung, Anm. 12, wo Vattimo die "Informatik" als unterscheidendes
Merkmal
zwischen "Moderne" und "Postmoderne" bestimmt; sowie Kap. I, III und
IX)
lassen erkennen, daß in einem anderen Verständnis der
Moderne
gegenüber dem Selbstverständnis der Moderne als
begründendem
Denken, unsere "einzige Chance" besteht, diese zu "verwinden"
(Heidegger).
II.
Übersetzen als denkerischer Dialog
An
dieser Stelle sei auf eine paradoxe Situation des Übersetzers
sowie
des deutschsprachigen Lesers bei der Lektüre dieses Buches
aufmerksam
gemacht: Vattimo schöpft viele seiner Kernbegriffe aus dem Denken Nietzsches
und Heideggers. Das heißt, er
übernimmt
sie (zum Teil in der Originalsprache, wie etwa "Ge-Stell",
"Verwindung",
"Überwindung", "Offenheit", "Ereignis", "Geschick", "Andenken",
"Grund"
usw.) und "setzt" sie, im Kontext der Bezüge der italienischen
Sprache,
"über", S. 56 oder 187f.). Im Falle einer
"Rückübersetzung"
stehen wir nicht einfach vor "ähnlichen" Schwierigkeiten – und ich
bin Herrn Vattimo für seine Vorschläge diesbezüglich
sehr
dankbar –, sondern wir werden uns allmählich der Tatsache
bewußt,
daß hier nicht bloß ein "übersetzungstechnisches"
Problem,
sondern ein höchst bedeutsamer, weil denkerischer Dialog
vorliegt.
Wenn
man die Mißdeutungen Nietzsches etwa durch die Nazi-Ideologen
sowie
die (nicht zuletzt durch Heidegger bewirkte) Infragestellung dieses
Mythos
("Nietzsche als Vorläufer der Nazi-Ideologie") in der Forschung
der
Gegenwart bedenkt, dann verliert die hier vorliegende Deutung
(insbesondere
des "Nihilismus") ihre modische postmoderne
Selbstverständlichkeit.
Dasselbe gilt noch mehr für die Berufung auf Heidegger. Die zum
Teil
heftigen und besonders durch die Medien gesteigerten Polemiken um
Heideggers
politisches Engagement lassen vermuten, daß bei aller
"Entrüstung"
und "Enttäuschung" an einem "Mythos" gearbeitet wird, der
letztlich
nur ein groteskes Zerrbild dieses Denkens (und Denkers!) darstellt. Ein
klares Beispiel für ein solches Zerrbild (Nietzsches und
Heideggers)
ist m.E. Der philosophische Diskurs der Moderne von Jürgen
Habermas (Frankfurt a.M. 1985). Damit soll nicht geleugnet werden,
daß
sowohl bei Nietzsche als auch bei Heidegger "Elemente", zum Teil auch
"einzelne
Tatbestände" lebensgeschichtlicher als auch denkerischer Art
vorhanden
sind, die einen begründeten Anlaß zur Kritik oder, um es
pathetisch
zu sagen, zur "Warnung" geben.
Vattimo
lehrt uns (und damit meine ich auch insbesondere den deutschen Leser),
daß weder Nietzsche noch Heidegger letztlich eines Exorzismus
bedürfen,
um sie "unschädlich" zu machen. Indem man sie als "starke" Denker
der Moderne zu verdogmatisieren versucht, läßt man gerade
den
– "schwachen" – "Unterwegssein"-Charakter beiseite und stellt
(gegebenenfalls
mit "Freude") die mangelnde Systematik und logische Stringenz, die
"liederliche"
Sprache und die Dunkelheit des Ausdrucks, das "Orakelhafte" und
"Prophetische",
das "Mythische" und "Mystische" usw. fest. Man verkennt, mit anderen
Worten,
dabei die Auseinandersetzung, welche mit der sich selbst
verabsolutierenden
und sich so teilweise selbst widersprechenden Moderne stattfindet.
Vattimos
Analysen tragen wesentlich dazu bei, diese Zerrbilder in Frage zu
stellen.
III.
Das "schwache Denken"
Besonders
hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang Vattimos Erörterungen
des
von seinen linkshegelianischen Wurzeln her gelesenen Marxismus (Kap.
I.)
bis hin zu Bloch und Adorno (Kap. II, IV, V und VII, X) sowie zu
Marcuse
und Benjamin (Kap. III und IV), der Phänomenologie (Husserl) und
des
Sartreschen Existentialismus, der Wissenschaftstheorie (Th. S. Kuhn),
der
analytischen Philosophie (Wittgenstein; Kap. I), der philosophischen
Anthropologie
Gehlens (Einleitung und Kap. VI), der Hermeneutik (Schleiermacher,
Dilthey,
Gadamer; Kap. VII, VIII, X), der Kulturanthropologie und
Sozialphilosophie
(Rorty, Apel, Habermas; Kap. IV) und der Psychoanalyse (Lacan; Kap. I
und
VIII).
Immer
wieder geht es dabei um den von der Moderne aus gesehenen Zerfall des
Fortschrittsgedankens,
der Einheit des wissenschaftlichen Diskurses, der "starken" Formen der
Wahrheit und der Auflösung der Tradition im
Informationsgefüge.
Anstatt aber den Verlust der "Stärke" der Moderne zu beklagen und
in deren Namen kulturkritisch "Gefahren" zu beschwören, macht sich
Vattimo an die Arbeit eines gegenüber dem Rückzug in die
Moderne
gewandelten Verständnisses dieser Auflösungserscheinungen,
die
"das Ende der Moderne" ankündigen. Die Gefahr besteht gerade
darin,
auch die "starken " Grundzüge der Moderne ebenfalls diesen
Erscheinungen
zuzuschreiben, statt sie als Chance zu nutzen.
Letzteres
bedeutet aber nicht eine Apologie des Bestehenden, sondern öffnet
sich einer gewandelten "Ethik der Güter", sowie einer sozusagen
"vorwärtsgerichteten"
Hermeneutik, d.h. einer Hermeneutik, die sich nicht nur mit den Texten
der Vergangenheit, sondern mit den Mitteilungen der Massenmedien abgibt
(vgl. Kap. X). Fern jeder anthropozentrischen (oder eurozentrischen)
"humanistischen"
Romantik lehrt uns Vattimo, die Illusion des Fortschritts oder die
Gegenillusionen
der Apologie des Vergangenen bzw. des Gegenwärtigen zu
verabschieden
und – anstatt in die scheinbare Geschichtslosigkeit des
wissenschaftlichen
Begriffs zu verfallen – die Ereignishaftigkeit des Geschichtlichen,
also seine "schwache" oder "geringe" Seinsweise zu
vernehmen.
In
dem Anfangs erwähnten Aufsatz "Ideologie oder Ethik" schreibt
Vattimo:
"Das
ist keine Philosophie die sich unmittelbar und direkt in
politische
Entscheidungen umsetzen will. (...) Auch leht ein schwacher Denker
Gewalt als Methode des politischen Kampfes ab. Vor allem aber versucht
er die Geschichte und den Fortschritt nicht mehr unter dem
Zeichen
des Aufstiegs, des quantitativen Wachstums der Güter und Objekte
zu
denken" (S. 1).
Das "schwache
Denken" ist ein "kontaminierendes", die scheinbaren geschichtslosen und
scharfen Züge der modernen wissenschaftlich-technologischen
Zivilisation
im "chiaroscuro" (Halbdunkel) der sie ermöglichenden Tradition
auflösendes
Denken (vgl. Kap. X).
Vielleicht
lernt auch mancher Ritter der Aufklärung und der Rationalität
das Tragikomische seiner träumerischen Gestalt am Ende seiner
Laufbahn
erkennen. Vielleicht schluchzt dann Sancho Panza und sagt:
"Ach,
sterbt nur nicht, gnädiger Herr! Nehmt meinen Rat an und lebt noch
viele Jahre. Es ist die größte Torheit, die ein Mensch in
diesem
Leben begehen kann, daß er mir nichts dir nichts stirbt. Steht
auf!
Wir wollen als Schäfer verkleidet aufs Feld gehen, wie wir es
verabredet
hatten, vielleicht finden wir hinter einer Hecke die entzauberte
Señora
Doña Dulcinea. Wollt Ihr aber aus Verdruß darüber
sterben,
daß Ihr besiegt worden seid, so schiebt nur die Schuld auf mich
und
sagt, Rosinante wäre gestürzt, weil ich sie so schlecht
gesattelt
hätte. Ihr werdet ja auch in den Ritterbüchern gelesen haben,
daß es etwas Alltägliches ist, daß ein Ritter den
anderen
aus dem Sattel hebt, und daß er, der heute besiegt wird, morgen
der
Sieger ist." (Don Quijote, Schlußkapitel)