TECHNE UND ETHIK

Platons techno-theo-logische Begründung der Ethik im Dialog "Charmides" und die aristotelische Kritik 

 
Rafael Capurro
  
 
 
 

Vortrag im Rahmen des Habilitationsverfahrens an der Universität Stuttgart (1989). Siehe diesen Beitrag, der von der Fakultät nicht angenommen wurde. Erschienen in: Concordia. Internationale Zeitschrift für Philosophie,  20 (1991) S. 2-20.
 

 


 

Zusammenfasung

Ziel des folgenden Beitrags ist die Erörterung und Kritik der platonischen Umdeutung des sophistischen Techne-Begriffs. Platons Frühdialoge, und der "Charmides" insbesondere, setzen eine techno-theo-logische Auffassung der Idee des Guten voraus im Sinne einer absoluten oder göttlichen Norm, deren Kenntnis die Vollendung ethischen Handelns bildet. Gegen diese intellektualistische und elitäre Auffassung der Ethik richtet sich die aristotelische Kritik des platonischen Techne-Begriffs. Dabei entwirft Aristoteles eine Theorie menschlichen Handelns (praxis), bei der der Techne-Begriff dem Praxis-Begriff unterstellt wird. Grundlage dafür ist die aristotelische Trennung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie.  
  

Summary

The paper deals with Plato's interpretation of the sophists' concept of techne in his early dialogues, and particularly in the "Charmides". Plato' s early dialogues are based on a techno-theo-logical conception of the idea of the good in terms of an absolute or divine norm. Its knowledge is the fulfilment of morality. Aristotle's criticism of the platonic concept of techne concerns this intellectualistic and elite-oriented conception of morality. Aristotle develops his theory of human action (praxis), where the concept of techne is subordinated to the one of praxis. The basis for this conception is the distinction between theoretical and practical philosophy.  

 

 
  

Inhalt

Einleitung  

I. Die platonische Umformung des sophistischen Techne-Begriffs im Dialog "Charmides"  

1. Sophistische und platonische techne  
2. Platons "Charmides"  

a) poiesis und praxis (162c-165c)  
b) episteme heautes und heautou (165d-166d)  
c) episteme epistemes (166e-171c)  
d) Das Gute als Gegenstand der sophrosyne (171d-174e)
3. Hinweise auf den Techne-Begriff in anderen Dialogen im Anschluß an die im "Charmides" behandelten Fragen 
 

II. Die aristotelische Kritik des platonischen Techne-Begriffs und die Begründung der praktischen Philosophie  
1. Die Thesen  

a) techne/poiesis vs. phronesis/praxis  
b) phronesis (sophrosyne): weder episteme noch techne  
c) Die Vollendbarkeit der techne und die Unvollendbarkeit der phronesis  
d) Fehlerhaftigkeit bei den technai, nicht aber bei der phronesis  
e) Vergessen und Erlernen von phronesis und techne
2. Schlußfolgerung: Die Begründung der praktischen Philosophie 
  
Ausblick  

Anmerkungen

 
 
  
  

Einleitung

   
Ziel dieser Darlegungen ist eine Erörterung und Kritik der platonischen Umdeutung des sophistischen Techne-Begriffs. Diese Umdeutung dient zur metaphysischen oder techno-theo-logischen Grundlegung der Ethik. Es soll dabei gezeigt werden, dass Platon eine intuitionistische und deshalb nicht schriftlich fixierbare Prinzipienlehre vertritt, die auch dem frühen Dialog "Charmides" zugrunde gelegt werden muß, wenn die hier stattfindende Auseinandersetzung mit den Sophisten ihren Sinn gerade in der aporetischen Form finden soll. /1/ So haben die Dialoge zum einen eine protreptische oder werbende Funktion, zum anderen aber soll das Motiv der Zurückhaltung sowohl im Sinne einer Andeutung und Erinnerung "für den schon Wissenden" (Phaidr. 276d) als auch zur Vermeidung des Anscheins eines "dürren Schematismus" (H.-G. Gadamer) dienen. /2/ Damit soll das genetische Entwicklungsprinzip als hermeneutischer Leitfaden zugunsten des Artikulationsprinzips, wenn auch nicht aufgegeben so doch zumindest eingeschränkt werden. /3/  

Die Frühdialoge, und der "Charmides" insbesondere, setzen eine techno-theo-logische Auffassung der Idee des Guten voraus und zwar im Sinne einer absoluten oder göttlichen Norm, deren Kenntnis nicht nur die Voraussetzung, sondern auch die Vollendung ethischen Handelns bilden soll. Damit vertritt Platon eine intellektualistische Auffassung der Ethik. Die Konsequenzen daraus sind zum einen eine Abwertung der praktischen Philosophie, zum anderen eine elitäre Überbewertung menschlicher Vernunft. Auf der Grundlage einer Kritik des platonischen Techne-Begriffs gelingt es Aristoteles, eine Theorie des menschlichen Handelns (praxis) zu entwerfen, die sich von einer nach außen gerichteten Theorie des Herstellens (techne) sei es anarchischer Art, wie bei den Sophisten, sei es göttlicher Art, wie bei Platon unterscheidet. Mit anderen Worten, während Platon einerseits eine metaphysische Über-Techne mit einem absoluten Sachbezug nämlich dem zur Idee des Guten, entwickelt und die Sophisten, andererseits, diesen Sachbezug im Formalen auflösen, geht es Aristoteles um eine Korrektur beider Gesichtspunkte im Sinne der Grundlegung der Autonomie menschlichen Handelns, indem der Techne-Begriff dem der ethischen und politischen praxis untergeordnet wird.   

Somit vertrete ich eine gegenteilige Auffassung als die von E. Martens, der Platon in einen fallibilistischen Denker verwandelt, indem er sowohl das Ziel der platonischen Dialektik, nämlich die Erkenntnis der göttlichen Norm, als auch die letztlich intuitive Art der Erkenntnis dieser Norm in Frage stellt. /4/  Einverstanden bin ich allerdings damit, dass die Idee des Guten kein Gegenstand "wie ein Metermaß" (Martens) ist. Die Techne-Analogie zeigt aber, dass Platon den sophistischen Vergleich umkehrt, die relativen Maßstäbe werden aus der Sicht eines absoluten Maßstabs als solche erkannt. Diese Erkenntnis eines absoluten "Gegenstandes" bleibt für Platon, anders als für Aristoteles, die Basis der Ethik.   

Platon behauptet nicht, dass mit dieser Erkenntnis der Mensch oder die dafür naturgemäß geeignete Philosophen-Elite zum Gott wird. Die Unverfügbarkeit der Idee des Guten zeigt, dass die Verstandesdialektik letztlich durch eine vom Menschen lediglich vorbereitete, nicht aber erzwingbare noetische Vision überschritten werden muß. Aus dem Platonischen Weg der dialektischen Kritik das Ziel zu machen und Platon gewissermaßen als Denker des "herrschaftsfreien Dialogs" sowie als Fallibilist zu interpretieren, scheint mir eine so einseitige Verzerrung zu sein, wie wenn man ihn zum Dogmatiker abstempelt oder das Ziel der göttlichen Vision nicht mehr berücksichtigt. Zwischen der Scylla der Sophisten und der Charybdis des religiösen Dogmas wählt Platon einen mittleren techno-theo-logischen Weg. 

In den folgenden Ausführungen soll insbesondere auf den Techne-Begriff eingegangen werden, dessen sophistische Deutung in Zusammenhang mit der Bestimmung des Guten das Angriffsziel im Dialog "Charmides" darstellt. /5/ Anhand einer Erörterung der in diesem Dialog vorgetragenen Argumente soll vor allem die der platonischen Argumentation zugrundeliegende absolute Auffassung der Idee des Guten thematisiert werden. Anschließend wird die aristotelische Kritik umrißhaft dargestellt. /6/  

 

 
   

I.  Die platonische Umformung des sophistischen Techne-Begriffs im Dialog "Charmides"

 1. Sophistische und platonische techne

Die Übertragung des Techne-Begriffs aus dem handwerklichen Bereich in  andere Wissensbereiche, etwa im Sinne von "Wissen, wie man etwas erreicht", findet vor allem in der nach-homerischen Zeit statt. /7/ Sowohl der Techne-Begriff als auch der Begriff des Handwerkers (demiourgos) wurden über die handwerkliche intellektuelle Komponente hinaus auf jede Art beruflichen Wissens (z.B. auf die Kunst von Dichtern, Musikern, Sehern, Ärzten usw.) bezogen und somit zum Kennzeichen des im 7. und 6. Jh. aus dem handwerklichen Bereich entstandenen Bürgertums.Dementsprechend wurden sie von der Adelsethik abschätzig gebraucht. Im 5. Jh. gewinnt techne eine herausragende Bedeutung im Sinne all dessen, was der Mensch dank seiner intellektuellen Fähigkeiten und nicht also von Geburt (physis) oder von den Göttern bekommt machen kann. Techne meint nicht mehr bloß Erfahrung (empeiria), sondern Wissen, das sich sowohl auf das Herstellen als auch auf das Handeln bezieht. /8/ 

Aufgrund der Infragestellung der überkommenen Arete-Auffassung der Adelsethik lag es nahe, indem man die arete zum Gegenstand eines Wissens machte, sie auch wie eine techne aufzufassen. Hier liegt die Wurzel der Auseinandersetzung zwischen der sophistischen und der platonischen Auffassung des Techne-Begriffs. Der Sophist man denke z.B. an Protagoras' homo-mensura-Satz vertritt die These, dass das Gute und Schlechte jeweils relativ ist, d.h. auch die techne der politike arete ist eine lehr- und lernbare Fähigkeit, um den Einzelfall zu erkennen und dementsprechend zu handeln. /9/  Es kommt also nicht darauf an, die Wahrheit zu erkennen, sondern die jeweils richtige Wahrheit. /10/ Der Sophist erkennt zwar die Gesetzlichkeiten der physis, stellt aber die menschlichen Zwecke in den Vordergrund, sein Techne-Begriff ist anthropozentrisch. Diese Auffassung ist aber kein schrankenloser Relativismus, so wie es in der jetzt zu analysierenden Platonischen Polemik zum Ausdruck kommt. Erst von einer metaphysischen und gleichbleibenden Auffassung der Ordnung des Seienden aus, mit ihrem außerhalb menschlicher Zwecke liegenden Maßstab, konnten die sophistischen Äußerungen als relativistisch verzerrt aufgefasst und karikiert werden. In diesem Sinne wird Platon den Techne-Begriff teleologisch und techno-theo-logisch umdeuten und die politike arete metaphysisch aufheben. Sehen wir uns die Platonische Argumentation im Dialog "Charmides" im Einzelnen an.      

2. Platons "Charmides" /11/ 

Den Kernbereich der Diskussion bilden die Thesen des Kritias, d.h. jener Persönlichkeit, in der sich alle Impulse der sophistischen Bewegung vereinigen, jene Impulse nämlich, die Hegel mit denen der neuzeitlichen Aufklärung vergleicht. /12/ Das Szenario vor dem diese Thesen diskutiert werden, stellt die Ringschule des Taureas dar. Der Dialog wird mit einem knappen Hinweis auf die Tapferkeit des Sokrates eröffnet, der aus der Schlacht von Potidaia zurückgekehrt ist. /13/ Dass aber nicht die Tapferkeit (andreia), sondern die Besonnenheit (sophrosyne) sofort zum Gegenstand des Gesprächs wird, muß nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sowohl von den Sophisten als auch von Sokrates herbeigeführten Umgestaltung der adligen arete aufgefaßt werden: Nicht die Tapferkeit der Krieger steht jetzt im Vordergrund, sondern die auf Erkenntnis beruhende durch die Vernunft bzw. das Gesetz geleitete Beherrschung seiner selbst. /14/  

Es geht also um die Bestimmung des ethischen Kampfes. Ein weiterer die Diskussion mit Kritias einleitender Gedanke gilt der Frage nach dem Zusammenhang von Weisheit (sophia) und Schönheit, wobei die unübersehbare körperliche Schönheit des Charmides lediglich den Ausgangspunkt für die Frage nach der Schönheit der Seele eine "kleine Zugabe" (173d), wie Sokrates ironisch bemerkt darstellt. Hier kündigt Platon seine Grundthese an, nämlich die des Vorrangs des Ganzen vor den Teilen: Charmides, der an Kopfschmerzen leidet, gibt nämlich Sokrates Anlass zu der Bemerkung, dass die Heilung bestimmter Körperteile in eins mit der Heilung des ganzen Körpers geht. Zur Debatte steht dementsprechend, ob und wie die Besonnenheit (sophrosyne) den Menschen als Ganzes oder nur jeweils in gewisser Hinsicht heilen kann, d.h. ob es ein Wissen, also eine techne, von ihr geben kann.   

Der Prüfung dieses Sachverhaltes gelten zunächst die drei Thesen des Charmides, von denen die letzte die des Kritias ist. Sie lauten:  

1) sophrosyne ist eine gewisse Ruhe im ganzen Verhalten. Sokrates' Einwand: Schnelligkeit macht die Schönheit der meisten körperlichen und geistigen Handlungen aus (159a-160d). Sokrates' Einschränkung seiner eigenen Schlußfolgerung ("aufgrund unseres jetzigen Nachweises") zeigt, dass er sich der Einseitigkeit seiner Beispiele bewußt ist.  

2) sophrosyne ist Scheu (aidos). Sokrates erwidert mit einem Homerzitat, in dem die Scheu etwa eines leidenden Menschen als unangebracht bezeichnet wird (160d-161b). /15/  

3) sophrosyne ist, so Kritias' Definition im Munde des Charmides, "das Seinige tun" (ta heautou prattein). /16/ Dabei bezieht Sokrates das prattein auf einen eingeschränkten Wissensbereich, nämlich auf jene technai, die der Herstellung von materiellen Gegenständen dienen. Damit führt er die Definition ad absurdum: jeder müßte z.B. seine eigenen Schuhe herstellen usw., wenn es offenbar ist, dass ein Staat (polis) gut verwaltet bzw. besonnen ist. Das gibt den unmittelbaren Anlaß zu der Kontroverse um die Bestimmung des Guten als Gegenstand der sophrosyne. Der Kernpunkt dabei ist, ob und in welchem Sinne hier von einer techne gesprochen werden kann (161b-162c).  

Die beiden gegeneinander konkurrierenden Thesen, die in vielen dialektischen Schwingungen abgewandelt werden, lassen sich folgendermaßen vorausschicken:  

Kritias wird die These vertreten, dass sophrosyne zwar formal eine techne ist, dass sie aber keinen eigenen Gegenstand hat und somit also "relativ" bleibt. Der Techne-Begriff bleibt ein auf die Einzelwissenschaften bezogener Begriff. Der platonische Sokrates behauptet die strenge also formale und inhaltliche Vergleichbarkeit der sophrosyne im Sinne eines Wissens um das Gute und um das Eine. Ihr Gegenstand überragt die Gegenstände der anderen technai und kann mit diesen nicht nivelliert werden. Die Ironie der platonischen Argumentation besteht nicht zuletzt darin, dass die Sophisten genau mit jenem Begriff widerlegt werden sollen, der ihnen am teuersten ist.   

Sehen wir uns die Thesen und Antithesen im einzelnen an. Sie laufen darauf hinaus, dass eine inhaltsleere techne ein Selbstwiderspruch ist, und dass die Kenntnis des Einen als des Guten den Inhalt der sophrosyne darstellt bzw. von ihr vorausgesetzt werden muss. Eine solche nicht diskursiv sondern letztlich nur intuitiv-noetisch erreichbare weil an sich seiende Dimension, die, vor allem in den späteren Dialogen, explizit göttliche Züge annimmt, stellt, wie Aristoteles hervorheben wird, nicht nur eine intellektualistische Verzerrung der Ethik dar, sondern sie hebt die Eigenständigkeit menschlicher Praxis auf. Beide Aspekte kommen in den folgenden Widerlegungen sophistischer Unterscheidungen deutlich zum Ausdruck.  
  

a) Poiesis und praxis (162c-165c)

Wie sehr es für Platon auf die Erkenntnis des Guten ankommt, zeigt seine Widerlegung der Unterscheidung des Kritias zwischen dem Bereich des Machens (poiein) von dem des Tuns (praxis), eine Unterscheidung, die erst Aristoteles als eine für die Ethik grundlegende ausführen wird. Diese Unterscheidung wird bei Platon nur angedeutet und bleibt ohne klare Unterscheidungskriterien. Im Gegenteil, beide Begriffe werden mit derselben Intention ("alle Werke") als Synonyme gebraucht. Kritias will den Sinn des prattein (gemäß der dritten sophrosyne-Definition: ta heautou prattein) auf jene Tätigkeiten einschränken, die ein schönes und sichtbares Werk (ein ergon) hervorbringen, während poiein der allgemeine Ausdruck für jede Tätigkeit ist. Es kommt also nicht darauf an, ob beim Handeln bzw. Machen Tätigkeit und Ziel zusammenfallen oder nicht, gemäß unserer (aristotelischen) Unterscheidung zwischen Handeln und Machen. Entscheidend ist außerdem, dass es sich um Werke (erga) im Plural handelt. /17/  

Für Sokrates stellt sich dagegen die Frage nach dem einen Prädikat "gut", das ta agatha erst als solche konstituiert. So lautet jetzt die sophrosyne-Definition: "das Hervorbringen der guten Werke" (ten gar ton agathon praxin 163d). Für Platon geht es aber dabei nicht primär um das Hervorbringen der Werke durch die Fachleute (demiourgoi), sondern um die Bedingung davon. Denn, so Platon, es genügt nicht, dass der Fachmann die Werke verrichtet, denn dann könnte es heißen, dass er gelegentlich nicht weiss, was er tut, ein Widerspruch, den Kritias nicht annehmen kann. So sieht er sich genötigt, sophrosyne als "das Sichselbsterkennen" (to gignoskein heauton 164d) zu bestimmen. Aber auch hier gilt es für Platon, den sophistischen Relativismus zu widerlegen.  
  

b) Episteme heautes und heautou (165d-166d) 

Die Frage lautet also jetzt, inwiefern Wissen (episteme), das immer ein Wissen von etwas ist, sich nicht nur auf alle Fachkünste (technai), die schöne Werke hervorbringen, sondern auch auf die Selbstkenntnis (episteme heautou) ausdehnen läßt. Dabei muß man beachten, dass diese Kenntnis des Selbst nicht im Sinne des genitivus obiectivus oder gar im Sinne des neuzeitlichen Selbstbewußtseins gedeutet werden kann. /18/ Es geht statt dessen, wie die Diskussion zeigt, um die Kenntnis, die der Mensch vom Guten hat. /19/ Zur Debatte steht nämlich, ob das Wissen der sophrosyne von derselben Art (omoia) ist, wie das der anderen technai, so dass auch sie einen eigenen Gegenstand hat. Für beide, d.h. für Kritias und für Platon, gibt es da Unterschiede: während für den Sophisten das Wissen der sophrosyne keinen eigenen materialen, sondern nur einen formalen Gegenstand besitzt und somit als Metawissenschaft aufzufassen ist, betont Platon, dass sie einen eigenen materialen Gegenstand hat, dass dieser aber sich von dem der anderen technai unterscheidet.  

Damit widerspricht Platon der sophistischen Auffassung, dass das Wissen der sophrosyne sich selbst zum Gegenstand hat, dass sie also eine Kenntnis seiner selbst (episteme heautes) bzw. eine Metawissenschaft (epistemon episteme) ist, sondern eine Selbstkenntnis im Sinne eines Wissens, welches sich des eigenen Gegenstandes bewußt ist (episteme heautou). So liegt also dieser Kritik die Auffassung zugrunde, dass es zum einen einen solchen Gegenstand, nämlich das Gute, gibt, und dass alles auf seine Kenntnis ankommt. Die areta hat das agathon als einzigen Bezug, während das sophistische Wissen von hier aus metaphysisch diskreditiert wird, und zwar als ein formales Wissen, das aufgrund dialektischer Situationsanalysen über die Richtigkeit bestimmter Maßnahmen urteilt, ohne also ein Fachwissen im eigentlichen (Platonischen) Sinne zu besitzen. /20/  

Vieles vom Wissen um das Gute als das Eine bleibt hier freilich ungesagt bzw. ungeschrieben. Platon begnügt sich damit, vor allem in den frühen Dialogen, die Aporien aufzuzeigen. Dass er aber den Maßstab des ethischen Handelns weder in den einzelnen technai noch im formalen Bereich findet, zeigt, dass er von einem metaphysischen bzw. techno-theo-logischen Vorverständnis des Einen als des Guten ausgeht. Die Erörterung des Unterschiedes zwischen episteme heautes und heautou ist in mehrfacher Hinsicht ironisch: Es ist nämlich Sokrates, der behauptet, dass für Kritias die Besonnenheit episteme heautou ist, und es ist wiederum Kritias, der scheinbar unmerklich von episteme heautes spricht und somit diesen für Platon (!) wichtigen Unterschied zum Ausdruck bringt. Die Ironie erreicht aber einen Höhepunkt, wenn Kritias kurz danach (169e) die Unterscheidung aufhebt und Sokrates dieser Aufhebung zustimmt! Die Ideenlehre setzt in der Tat die Einheit beider Momente voraus, aber eben nicht im Sinne eines blossen formalen Wissens, weder in bezug auf sich selbst, noch in bezug auf die Wissenschaften (epistemon episteme 166c). Sie ist weder (eristische) Logik noch Wissenschaftstheorie.  

Diese Diskurse erreichen erst ihre Begründung, wenn der logos sich metaphysisch von einem ihn bedingenden Gegenstand bestimmen läßt. Diese Sache liegt, wie Sokrates wiederum ironisch betont, "im gemeinsamen Interesse aller Menschen" (166d), d.h. sie kann nicht auf die "relativen" Interessen der Sophisten reduziert werden. Denn dem (platonischen) Sophisten geht es primär darum, wer eine Aussage macht, der platonische Sokrates dagegen ist um eine Erörterung der Sache bemüht. Damit muß er aber die gängige "freie" Meinung, d.h. die von den Sophisten propagierten Lehren, in Frage stellen. In diesem Sinne war Platon "Realist" genug, um seine Lehre nicht dem völligen Mißverständnis auszuliefern. Die Dialoge geben das Zerrbild dieser sozialhermeneutischen Bedingungen wider. In diesem Sinne schreibt Kube zutreffend:   

"Platon muss bestimmte Meinungen im Auge gehabt haben, gegen die er sich wandte und die ihm als eine Gefährdung seiner eigenen These vom agathon als einzigen Bezug der areta erschienen. Was liegt da näher als an das logos-Wissen der Sophisten zu denken, an jene episteme, die allen anderen technai übergeordnet ist, durch die man panta epistasthai und überall mitreden kann, die es einem Laien erlaubt, einen Fachmann wenigstens formal zu beurteilen, wie das dann später auch die aristotelische Logik tut? Dieses sophistische Wissen hat in platonischer Sicht ja keinen Gegenstand, es urteilt auf Grund dialektischer Situationsanalysen über die Richtigkeit bestimmter Maßnahmen, ohne ein Fachwissen im eigentlichen Sinne zu besitzen." /21/
Auf die Frage des Kritias, ob Sokrates einen eigenen Gegenstand der Sophrosyne so wie bei den anderen technai aufweisen kann, betont Sokrates die Schwierigkeit, indem er das Beispiel der Rechenkunst, bei der die Geraden und Ungeraden im Verhältnis "zu sich" (pros auta) und "zu einander" (pros állela) stehen, aufführt (166c). Beide Begriffe lassen, so Gaiser /22/, auf einen Unterschied zwischen dem   
"eigentlich autarken An-sich-Sein der Ideen und einer defizienten Form der Selbständigkeit [...] ebenso auch zwischen der relativen Wechselbeziehung und der Beziehung auf eine maßgebende Norm (Einheit)" 
schließen. Die sophrosyne hat als Gegenstand diese maßgebende sittliche Norm, die als Techne-Norm sowohl für die areta als auch für die physis gilt. Für diese Techne-Norm wirbt Platon hier, indem er die Dialektik des propositionalen bzw. dianoetischen Wissens von einem "höheren" noetischen logos aus in Frage stellt und von der aus erst die Vielheit in ihren Zusammenhang zu einem Ganzen begriffen werden kann.  

An dieser Stelle soll bemerkt werden, dass Platons "ungeschriebene Lehre" zwar als eine metaphysisch-esoterische und letztlich auch intuitionistische, aber keineswegs als eine "Geheimlehre" verstanden werden kann. Er hätte sie dann nicht einmal ex negativo andeuten sollen. Ihr gegenüber steht die aristotelische auf die Vermittlung von "Öffentlichkeit" und "Schule" ausgerichtete Propädeutik. /23/  
  

c) Episteme epistemes (166e-171c) 

Es handelt sich hier um eine Argumentation ad absurdum: Würde sich nämlich die sophrosyne, wie die Sophisten behaupten, über alle Wissensarten erheben, so müßte sie auch um die Unwissenheit (anepistemosunes episteme 166e) bzw. um den Unterschied zwischen Wissen und Unwissenheit Bescheid wissen. Eine solche Wissenschaft wäre mit den anderen Wissensarten nicht vergleichbar, müßte sich aber selbst, im äquivoken Sinne also, Wissenschaft nennen (episteme epistemes). Das wäre wie eine Größe (oder ein Klang, eine Farbe usw.), die nicht mit anderen Größen verglichen werden kann, und die ihren Komparativ auf sich selbst anwenden müßte.   

Dieses sowie andere Beispiele zeigen, dass Platon dem pluralistischen bzw. "relativistischen" Denken der Sophisten von einer ex negativo behandelten Hierarchie begegnet, bei der es sich stets um Korrelationsverhältnisse (pros allo 169a) handelt, während die Sophisten stets das jeweils Richtige (pros heauto) betonen. /24/ Dass es sich bei dem Prinzip dieser hierarchischen Ordnung nicht um ein leeres Einheitsprinzip, sondern um einen ontologischen Grund handelt, darauf zielt letztlich der ganze Dialog hin. So gilt für Platon lediglich der Gegenstand der sophrosyne als pros heauto (169a). Im selben Atemzug erwähnt Sokrates seine "innere Stimme", die ihm sagt, dass die Besonnenheit "nützlich und gut" (ophelimon ti kai agathon) sei. Gerade die an dieser Stelle eintretende Verlegenheit (aporia) des Kritias zu einer "klaren Erläuterung" (saphes) der Sache, d.h. des "Was" und nicht nur des "Dass", zeigt erneut die zugrundeliegende metaphysische Auffassung des Guten, die im Schlußteil des Dialogs wiederholt und immer nur mit Hilfe indirekter Andeutungen zur Sprache kommt und alle bisherigen Argumente zusammenfaßt.  
  

d) Das Gute als Gegenstand der sophrosyne (171d-174e) 

Wenn also die sophrosyne keine episteme epistemes sein kann, dann hat sie einen eigenen Gegenstand, und zwar nicht bloss einen formalen, sondern es muss sich dabei um ein Wissen "des Guten" (to agathon) handeln. Denn, wenn die sophrosyne lediglich die Herrschaft der einzelnen technai wäre (panta technikos 173c), dann hätten wir bessere Kleidung, wären wir körperlich gesünder usw. es bliebe aber der Zweifel, ob wir dabei "gut handeln" (eu prattoimen 173d), da eben das Ziel (telos) des guten Handelns sich nicht auf die Summierung der einzelnen Ziele reduzieren läßt, woraus also die Glückseligkeit von Haus- und Staatsführung nicht bestehen kann (kai oikias kai poleos 172d). Die Gründe für seine (ironische) Skepsis trägt Sokrates in der Gestalt eines Traumes vor. /25/  

Dabei betont Platon, dass das Glück (eudaimonia) vom "gut handeln" (tous de eu prattontas eudaimonas einai 172a) abhängt, der Ausdruck prattein bleibt aber unbestimmt, d.h. auf alle, auch handwerklichen, Handlungen bezogen. Das Gegenteil von diesem "Tun" ist der logos  oder das gignoskein des Philosophen (sophia). Demgegenüber wird Aristoteles auch die theoria als praxis - bzw. als praxis i.e.S. - auffassen, wobei erst die sittliche praxis, im Sinne eines vom Handelnden nicht lösbaren Hervorbringen des Guten, sich dadurch von der poiesis wesentlich unterscheidet.   

Über den einen Gegenstand sagt Platon direkt nichts: es handelt sich um "eine Kleinigkeit" nämlich (smikron toinun 173d) - die Ironie des Ausdrucks ist mit der "kleinen Zugabe" der "Seelenanlage" zu Beginn des Dialogs vergleichbar (154d) - wenn aber dieses eine Wissen fehlt, "dann", so Sokrates, "ist es auch für uns vorbei mit dem richtigen und wahren Nutzen aller jener Wissenschaften (epistemon)" (174d). So wäre also die sophrosyne keine formale Über-Techne, sondern eine von ihrem Gegenstand her für diese massgeblich bleibende metaphysische Über-Techne, sie ist also Kenntnis des Guten bzw. sie soll den Maßstab geben für das, was unter ihr als techne gelten darf. Die Einheit des platonischen Denkens im Sinne des anfangs erwähnten Artikulationsprinzips zeigt sich nicht nur in der immer wieder unternommenen Umdeutung des sophistischen Techne-Begriffs, sondern auch in den Anspielungen späterer Dialoge auf frühere Erörterungen. So hebt Sokrates in bezug auf die Frage, welche Einzelwissenschaften den Wahrsager also denjenigen, der eine ausgedehnte techne über Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges hat glücklich machen, hervor, dass dies nichts anderes sein kann als die Kenntnis des Guten und Schlechten (174a-b). Diese Stelle, die wohl den Grundgedanken dieses Dialogs zusammenfaßt, kehrt, wie wir gleich zeigen werden, in der "Politeia" wieder.  

Die sophistische Auffassung der Sophrosyne im Sinne eines formalen Metawissens ist - schließlich - logisch unhaltbar: Es wäre ein Wissen, das sowohl von dem was es weiß, als auch von dem was es nicht weiß, eine sichere Kunde hat. Wie man aber das, was man überhaupt nicht weiß (me oiden medamos 175c) dennoch wissen soll, bleibt rätselhaft. Die Lösung dieses Rätsels liegt für Platon in der Erinnerung (anamnesis) bzw. im erwachenden Bewußtsein eines ursprünglichen Zustandes des Wissens. Die hier aporetisch bleibende Reflexion wird im "Lysis" wieder aufgenommen. Am Schluß des Dialoges hat die körperliche Schönheit des Charmides nur einen peripheren Charakter: Es dreht sich alles von nun an um die Erziehung der Seele.   
  

3. Hinweise auf den Techne-Begriff in anderen Dialogen im Anschluß an die im "Charmides" behandelten Fragen 

In den anderen Dialogen, auf die ich hier nur kurz hinweisen kann, /26/ übernimmt Platon einige der im "Charmides" offengelassenen Fragen bzw. baut seine Deutung des Techne-Begriffs weiter aus. Als Beispiele dafür sind einige Stellen aus dem "Lysis" sowie aus der "Politeia" aufzuführen. So stellt Sokrates im "Lysis" dem Menexenos die Frage, wie einer des anderen Freund wird (212a), wobei die philia in einem sehr weiten Sinne (etwa die Elternliebe sowie das Hauswesen umfassend) verstanden wird. Im Vordergrund steht das Moment des Gegenstandes des Wissens, wobei Platon die am Schluß des "Charmides" angesprochene Aporie nach einer Kenntnis der Unwissenheit wiederaufnimmt. Gegenüber der formalen Argumentation der Sophisten geht es jetzt erneut um den gesuchten Gegenstand des Wissens, wovon aber der Sophist eben nichts wissen will. Die Logik der Argumentation beruht auf dem Vermeiden eines regressus ad infinitum unter Voraussetzung einer "pyramidalen" bzw. hierarchischen Struktur der Zwecke. Dabei wird die Forderung nach einem "Anfang" (arche) bzw. nach einem proton philon, auf den alle anderen technai als dem gemeinsamen Zweck orientiert sind (hou heneka), gestellt. Demgegenüber ist "alles andere" bzw. sind alle anderen Ziele wie "Schattenbilder" (eidola 219c-d). Andeutungsweise spricht Platon von diesem Ziel als einem agathon (220b), von dem es zweideutig heißt, dass es "einem angehörig" (oikeiou 221e) ist, im Hinblick nämlich darauf, ob dieses agathon sich auf einen Zustand der Seele oder auf die "Idee des Guten", also auf einen außerhalb der Seele sich befindenden Gegenstandes, beziehen soll. /27/  

In den mittleren sowie in den späteren Dialogen kommt der Techne-Begriff zur vollen Entfaltung, d.h. hier zeigt sich immer deutlicher, dass der Gegenstand der philosophischen techne alle Gegenstände der anderen technai überragt. Als Beispiel sei eine zentrale Stelle im VI. Buch der "Politeia" aufgeführt. /28/ Dort ordnet Platon die drei Tugenden, nämlich Weisheit (sophia), Besonnenheit (sophrosyne) und Tapferkeit (andreia), hierarchisch-politisch den drei Gesellschaftsklassen (den Herrschenden, den Erwerbenden und den Schützenden), sowie hierarchisch-psychologisch den drei Seelenteilen (dem Vernünftigen, dem Begehrlichen, dem Zornmütigen) zu (Polit. 441a). Mit einem fast wörtlichen Zitat aus dem Charmides (Charm. 174a-b) stellt er den Zusammenhang der technai mit der "Idee des Guten" dar:  

"denn", so Platon, "dass die Idee des Guten das höchste Wissen (megiston mathema) darstellt, hast du oft gehört, sie, die durch ihre Mitwirkung gerechte Handlungen sowie die anderen Handlungen dieser Art überhaupt heilsam und nützlich macht. [...] Oder glaubst du, es sei ein Gewinn alles Mögliche zu besitzen, nur das Gute nicht?" (505a-b).
Dabei stellt Platon ausdrücklich die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Guten (ti pot esti t'agathon 506e) und weist auf das so oft vorgetragene (pollakis eiremena 507a), also auf das, was die neuere Platonforschung (Krämer, Gaiser) die "ungeschriebene Lehre" nennt, hin. Von diesem zum Bereich des intuitiven Denkens gehörenden Gegenstand (en to noeto 508b) äußert sich Platon schriftlich nur per analogiam (analogon heauto 508b), d.h. er vergleicht ihn bekanntlich etwa mit dem Licht bzw. der Sonne oder mit den in den mathematischen Wissenschaften vorausgesetzten unsichtbaren Gegenständen, wie "die Diagonale selbst". Die eigentliche d.h. intuitive Erkenntnis dieses absoluten Zieles ist für Platon nur durch die Trennung der Seele vom Körperlichen zu erreichen. Deshalb kann der Philosoph eine solche Kenntnis nicht in der gleichen Weise mitteilen wie der technites, sondern er kann zunächst nur den Weg dorthin weisen. Der Gang selbst erfordert eine "radikale Umkehr" der Seele (psyches periagoge), d.h. eine Abwendung vom Wandelbaren und Relativen. In diesem Sinne ist die philosophische techne (die Dialektik) mit den anderen technai nicht vergleichbar,    
"aber nicht", wie Kube richtig bemerkt", "weil sie zu wenig, sondern weil sie allein im vollen Sinn techne ist oder wir müssen sagen: episteme, denn Platon trennt jetzt zwischen dem auf unbewiesenen Voraussetzungen beruhenden praktischen Wissen und jenem, das von der anupothetos archa aus die Gründe von allem angeben kann (533 c/d). Eben durch die Forderung des logon didonai also, die doch ursprünglich den technai abgeschaut war, werden diese nun selbst als Modell entthront und einer alles technische Wissen an Gründlichkeit übertreffenden episteme unterworfen." /29/
So ist also das Wissen des Guten ein reines Wissen des Voraussetzungslosen, dessen Gegenstand den anderen "sogenannten Künsten" (to hypo ton technon kaloumenon 511c) zugrundeliegt. Die Techne des Guten ist also keine Meta-Techne im sophistischen bzw. formalen Sinne, sondern sie ist die eigentliche metaphysische Techne, deren Gegenstand alle anderen überragt: epekeina des ousias (509b). Sie ist eine techne im vollen Sinne, weil sie jene Forderung des logon didonai allein erfüllt, weil sie Wissen des Absoluten, dessen also, was keine Voraussetzung hat, ist. /30/  Von dieser "göttlichen techne" (theia techne Soph. 265e) und ihren kosmischen Werken berichtet Platon im "Timaios". So hebt also Platon die Autonomie menschlichen Handelns und die Relativität der Zwecke in eine Verabsolutierung des mit göttlichen Zügen ausgestatteten "Guten an sich" auf. Denn "der Gott" (Nom. 716) und nicht "der Mensch" (Protagoras) ist das Maß aller Dinge. /31/  

In den Spätdialogen "Sophistes", "Phaidros", "Politikos", "Philebos" ist Platon zwar darum bemüht, den Zusammenhang zwischen der Idee des Guten und der Welt des Werdens herzustellen, was aber zur Reduktion der empirischen Wirklichkeit auf feste Grundelemente führt, deren Verhältnisse unveränderbar sind. Grundlage bleibt dabei stets das höchste göttliche Mass. Der Techne-Begriff erfüllt hier eine andere, nämlich eine methodische Funktion, während in den Früh- und Mittleren Dialogen die Zielsetzung Platons war, die Notwendigkeit eines eigenen absoluten Gegenstandes der Arete, bzw. des Wissens um des Guten, mit Hilfe des Techne-Begriffs nachzuweisen. Nachdem Platon die Pyramide der Technai mit ihrem absoluten Ziel von unten nach oben aufgebaut hatte, widerlegt er jetzt die Sophisten ebenfalls mit dem Techne-Begriff in ihrem eigentlichen Feld, nämlich in der Welt des Werdens, indem er den umgekehrten Weg geht. /32/  

  

II. Die aristotelische Kritik des platonischen Techne-Begriffs und die Begründung der praktischen Philosophie


 Es ist das Verdienst des Aristoteles gewesen, durch eine genaue Analyse und Kritik des platonischen Techne-Begriffs zur Begründung der praktischen Philosophie als eines eigenständigen Bereiches beigetragen zu haben. Er schlägt damit sozusagen einen Mittelweg zwischen dem von Platon gewiß karikierten Formalismus und Relativismus der Sophisten und der Gegenposition einer Aufhebung der Ethik in einem theologischen Diskurs ein. /33/  

Diese Kritik und die sich daraus ergebenden Konsequenzen kommen am prägnantesten in der Nikomachischen Ethik zum Ausdruck. Dort nämlich unterscheidet Aristoteles nicht nur die herstellenden von den theoretischen Wissenschaften, sondern er stellt das Wissen bezüglich der phronesis als einen gegenüber der sophia eigenständigen Bereich dar. Ein solches Wissen findet aber seine Erfüllung nicht in einem bloß gewussten oder im einem hergestellten Gegenstand, sondern im tugendhaften Handeln (praxis). Schauen wir uns Aristoteles' Argumentation im Einzelnen an.  
  

1. Die Thesen

Aristoteles' Grundposition ist nämlich die der Skepsis gegenüber der meta­physischen Supposition der "Idee des Guten". So gibt er im ersten Satz der Nikomachischen Ethik durchaus im Einklang mit den Sophisten zu, dass   
"jede techne und jede wissenschaftliche Untersuchung (methodos), ebenso alles Handeln (praxis) und Wählen (prohairesis), nach einem Gut (agathou tinos), wie allgemein angenommen wird, strebt" (NE 1094 a 1-3) (34),
bestreitet aber zugleich, dass von hier aus Rückschlüsse auf eine einzige "Idee des Guten" zu ziehen wären. In seiner Kritik der platonischen Position geht er einen Schritt weiter: auch im Falle der Annahme einer solchen Prämisse wäre die conclusio in Frage zu stellen, denn, so Aristoteles wörtlich,  
"selbst wenn es 'das Gute' gäbe, das eines ist und in übergreifender Weise ausgesagt wird oder das getrennt und an sich existierte, so ist doch klar, dass ein solches 'Gutes' durch menschliches Handeln (prakton) nicht verwirklicht und auch nicht erreicht werden könnte. Nun ist es aber doch gerade ein solches Gutes, das wir suchen." (NE 1096 b 31-35)
Damit ist der platonischen Argumentation der Boden entzogen: die einzelnen technai brauchen keineswegs die Erkenntnis des einen Guten beim Streben nach ihrem jeweiligen Zweck. Aristoteles führt in diesem Zusammenhang ein weiteres Argument ein:   
"Es ist wenig plausibel, dass die Vertreter der praktischen Künste (technites) alle miteinander ein so bedeutendes Hilfsmittel ignorierten und sich gar nicht darum bemühten." (NE 1097 a 6-8).
Er vertraut, mit anderen Worten, dem common sense einer scientific community vor allem gegenüber einem rein theoretischen und absoluten Wissen als unmittelbare Schau des "Guten an sich", dessen konkreter Nutzen für den Arzt, den Feldherrn usw. nicht einzusehen ist. Daraus ergibt sich also die Möglichkeit und Notwendigkeit das Wissen der phronesis und seiner Selbständigkeit und Eigenartigkeit gegenüber den anderen technai sowie gegenüber einem rein theoretischen Wissen herauszuarbeiten. Leitfaden für die im VI. Buch der "Nikomachischen Ethik" (NE) durchgeführte Argumentation ist die Kritik des platonischen Techne-Begriffs.  

Diese Kritik umfasst folgende Aspekte:  
  

a) Techne/poiesis vs. phronesis/praxis

Aristoteles schränkt den Techne-Begriff auf das Wissen bezüglich der Hervorbringung (poiesis) des Veränderlichen ein. Demgegenüber stellt er den Bereich menschlicher Handlungen (praxis), dessen Wissen die phronesis ist. Obwohl Aristoteles den praxis-Begriff als das Wesen alles Lebendigen auffaßt, schränkt er hier diesen Begriff im Sinne einer spezifisch menschlichen Kategorie unter Bezug auf den logos ein. /35/  

Die phronesis zielt auf das "gute Leben" des Menschen "insgesamt" (holos NE 1140 a 25). Die Bestimmung dieses allgemeinen Zieles erfolgt einerseits durch die ethische Tugend, andererseits (im Hinblick auf die Mittel) durch die Klugheit (NE 1144a). Der Irrtum des Sokrates, so Aristoteles anschließend, bestand darin, dass er die Tugenden zu besonderen Arten der Klugheit machte dass er sie also intellektualisierte. Die Tugenden sind aber nicht der Vernunft untergeordnet, sondern mit ihr verbunden. Da es sich stets um menschliche Tugend handelt, bleibt das Thema der praktischen Philosophie, die konkrete Bestimmung des (sittlichen) Glücks also, auf das bezogen, was für den Menschen (individuell und politisch) jeweils erreichbar ist.  

"Ein kluger Mann", so Aristoteles, "scheint sich also darin zu zeigen, dass er wohl zu überlegen weiß, was ihm gut und nützlich ist, nicht in einer einzelnen Hinsicht, z.B. in bezug auf Gesundheit und Kraft, sondern in bezug auf das, was das menschliche Leben insgesamt gut und glücklich macht." (EN 1140a 25) (meine Hervorhebungen) (ou kata meros, alla poia pros to eu zen holos).
Mit dem "insgesamt" unterscheidet sich Aristoteles von einem blossen Relativismus bzw. einer Auflösung der Sittlichkeit in den technai. Gegenüber Platon stellt er nicht die Kenntnis eines für den Menschen "absoluten" Guten, sondern das beratende Gespräch in bezug auf das, was im Einzelfall zur Entscheidung steht in seinem Bezug auf das "gute Leben" insgesamt, und zwar gemäß der Tugend im Rahmen der erfassungsordnung einer auf Gleichheit beruhenden freien Bürgergemeinde (polis). /36/  

Mittel und Wege zum "guten Leben" (eu zen) des Einzelnen und der Polis stehen nicht von vornherein fest und sie können auch nicht von einer einzelnen techne bestimmt werden, sondern eben von der phronesis, in Wechselwirkung mit den natürlichen Anlagen und den ethischen Tugenden. Diese aristotelische Lehre verbindet, wie Bien richtig hervorhebt,   

"in genialer Weise dialektisch alle drei Momente (NE VI 13, 1144 a 6-1145 a 2). Die als Anlage vorhandene natürliche Tugend (1144 b 16) wird allererst durch den Hinzutritt der praktischen Vernunft in Form der Klugheit zur eigentlichen Tugend (kyria areta). Diese Klugheit wird ihrerseits zu einem positiven rationalen Vermägen erst durch die ethische Tugend". /37/ 
Technai und epistemai darunter vor allem "Politik" und "Ökonomie" bilden, so Aristoteles in Anschluß an die Sophisten, die Grundlagen des beratenden ethisch-politischen Gesprächs. Zwischen dem Einzelnen und dem Staat (polis) tritt das Haus (oikos) als Vermittlung ein, wobei Aristoteles, gegenüber der Identifikation von Staat und Haus bei Platon, die Unterschiede dieser Ordnungen, gerade in bezug auf das gute Leben (eu zen), betont, ohne sie aber als grundsätzliche bzw. absolute Unterschiede aufzufassen. /38/  

Ein weiterer wichtiger Punkt bei dieser Unterscheidung zwischen phronesis und techne ist, dass die technai ihr Ziel als ein ausserhalb ihrer liegendes Ergebnis ansehen, während das Ziel der sittlichen Praxis (eupraxia) eben diese tugendhafte ethisch-politische Praxis selbst, bzw. selbstzweckhaft ist. Zur Erlangung dieses menschlichen Zieles, also des Praktisch-Guten (agathon prakton) dient nicht bloß ein erlernbares Fachwissen, sondern das beratende Gespräch und zwar in bezug auf den Einzelfall. Von hier aus ergeben sich die folgenden Unterscheidungen.  
  

b) phronesis (sophrosyne): weder episteme noch techne

Phronesis oder sittliche Einsicht (sophrosyne) /39/, kann weder eine episteme noch eine techne sein: episteme nicht, weil ihr Gebiet ein Veränderliches ist; techne auch nicht, weil praxis und poiesis unterschiedliche Gattungen (genos) sind (NE 1140 b 4). Somit ist eine Wissenschaft des Guten, wie Platon sie als Maßstab für den Menschen fordert, nicht möglich oder sie ist eine metabasis eis allo genos 
  

c) Die Vollendbarkeit der "techne" und die Unvollendbarkeit der phronesis 

Eine techne kann eine vollendete Stufe erreichen, die phronesis bleibt immer "relativ" auf den "Einzelfall" bezogen nämlich, d.h. sie hat bescheidenere Ziele. Damit setzt sich Aristoteles von einer rein formalistischen sophistischen Position einer Über-techne ab.   
  

d) Fehlerhaftigkeit bei den technai, nicht aber bei der phronesis 

Bei einer "techne" können absichtlich oder unabsichtlich Fehler im Hinblick auf den herzustellenden Gegenstand auftreten. Nicht aber bei der phronesis, sowie bei den anderen Tugenden, weil es sich um eine Haltung handelt, die nicht in ihr Gegenteil umschlagen kann, ohne sich selbst zu leugnen (NE 1140 b 24-28) Auch hier hebt sich Aristoteles deutlich von den Sophisten ab.  
  

e) Vergessen und Erlernen von phronesis und techne 

Schließlich unterscheidet Aristoteles die phronesis von den technai dadurch, dass sie nicht vergessen werden kann, dass sie also kein bloßes erlernbares Wissen, sondern eine menschliche "Anlage" ist, die sich aber erst in der gemeinsamen Beratung zu bewähren hat. Die natürliche Tugend wird erst in Verbindung mit der praktischen Vernunft zur eigentlichen Tugend. Und umgekehrt: erst durch die ethische Tugend wird die phronesis zu einem unauflösbaren Moment der Tugend. Gegenüber der einseitigen sophistischen und platonischen Auffassung betont Aristoteles   
"dass es unmöglich ist, im eigentlichen Sinne tugendhaft zu sein, ohne Klugheit, noch klug ohne sittliche Tugend." (NE 1144 b 30-32). 
 

2. Schlußfolgerung: Die Begründung der praktischen Philosophie 

Aus dieser Argumentation ergibt sich, dass Aristoteles die phronesis sowohl von episteme und sophia in Form des philosophischen Weisen - als auch von techne in der Gestalt des Baumeisters Phidias unterscheidet. Somit trennt er einerseits den Bereich der praktischen von dem der theoretischen Philosophie. Andererseits und darüber hinaus trennt er das auf die Herstellung von Gegenständen bezogene Wissen der technai von dem des sich in der Praxis selbst verwirklichenden sittlichen Wissen. Sofern die techne etwas bewirkt, ist sie auch praxis, aber im Gegensatz zur sittlichen Bestimmung von praxis, bleibt hier der Gegenstand losgelöst vom Handelnden. Die theoria ist dann praxis im eigentlichen Sinne, d.h. Vollzug des menschlichen Daseins. Aristoteles bestimmt aber den Praxisbegriff im Sinne von Lebensvollzug auch in einem umfassenderen Sinne von Lebensvollzug aller Lebewesen sowie letztlich im Sinne von Bewegung überhaupt. Demnach handelt lediglich  (der) Gott nicht. /40/  

Sollte der Mensch die Gegenstände der sophia verwirklichen müssen, dann müßte er "das höchstwertige Wesen im Weltall" sein, was er aber nicht ist (NE 1141 a 21-22). So beschränkt sich also die phronesis auf die Suche dessen, was für den Menschen gut ist (NE 1141 b 8), und zwar, indem der Mensch die ethische Erfüllung, das Glück also /41/, nicht in der theoretischen Kenntnis, sondern in der selbstzweckhaften Verwirklichung des für ihn machbaren Guten (prakton agathon) findet. Demnach ist das ethische Wissen nicht mit einer techne oder mit einer episteme, sondern höchstens mit dem Wissen vergleichbar, das Leute mit "praktischer Erfahrung" (oi empeiroi NE 1141 b 18) haben. Ethisch zu handeln lernt man also, auf der Basis einer allgemeinen Anlage, aus Erfahrung und nicht aus einer übergeordneten Theorie. Und umgekehrt: das höchste Wissen ist ethisch neutral.   
  

Ausblick

Zusammenfassend läßt sich also sagen, dass für Platon das Ethische sich in der intuitiven Erkenntnis des höchsten Gegenstandes, metaphysisch bzw. techno-theo-logisch verwirklicht, während es für Aristoteles im praktischen auf den Menschen bezogenen Handeln besteht. Somit ist also Aristoteles' Kritik der platonischen Ethikbegründung in ihrem Kern nicht nur eine Kritik der Hypostasierung der Idee des Guten, sondern zugleich die Kritik einer intellektualistischen Position auf der Basis eines letztlich nur der Intuition zugänglichen, weil absolut aufgefaßten, Gegenstandes. Die begriffliche Grundlage der platonischen Ethik liegt in der entsprechenden Verabsolutierung des Techne-Begriffs, so dass genau an diesem Punkt die aristotelische Kritik auch ansetzt und am schärfsten ist. Wenn Aristoteles die Handwerker (cheirotechnai) mit ausführenden Verwaltungsbeamten vergleicht (NE 1141 b 27-29), dann weil sie auf niedrigster Ebene ein Wissen vom Allgemeinen haben, das nicht mit der ethischen Praxis, etwa der Beratung und Entscheidung im Einzelfall in der Staatsführung (politike) gleichgestellt werden kann.   

Die von Aristoteles vollzogene Trennung von theoretischer und praktischer Philosophie bedeutet nicht, dass der sittliche logos und der logos der sophia völlig disparat wären, sondern umgekehrt: die platonische Identifikation beider Bereiche beruht auf einem intellektualistischen die menschliche Selbständigkeit aufhebenden Vorurteil. /42/  

Was das Gute ist, läßt sich aber nicht im voraus feststellen bzw. erkennen, sondern muß je in gemeinsamer Verabredung, wo also jeder das gleiche Recht hat, sich dazu zu äußern, gefunden werden. Außerdem kann das "gute Leben" nicht beim Individuum, beim oikos und bei der polis gleichmäßig verwirklicht werden. Die Theorie dieser Praxis ist weder mit der Schau des Guten, noch ist diese Schau mit der sittlichen Praxis selbst zu verwechseln. In diesem Sinne bemerkt Gadamer:  

"Die Frage nach dem Guten im Tun und Sein des Menschen findet das menschliche Dasein jeweils schon vor konkrete Aufgaben gestellt vor, innerhalb deren das, was jeweils das Gute ist, zu wählen ist. Nicht aus einer allgemeinen Idee des Guten (selbst wenn es sie gäbe) ist diese konkrete Frage zu beantworten. Sofern das Handeln des Menschen immer im konkreten Jetzt einer Situation steht, ist freilich die Wahl des jeweils Guten überhaupt nicht durch eine (notwendig auf allgemeine und sich gleichbleibende Seinsverhältnisse beschränkte) Wissenschaft dem Handelnden abzunehmen." /43/
Die Frage nach dem Guten stellt sich also immer vor konkreten Aufgaben bzw. Wahlmöglichkeiten und sie ist nicht aus einer allgemeinen Idee des Guten (selbst wenn es sie gäbe) zu beantworten. Sofern das Handeln des Menschen immer in einer Situation steht, ist diese Frage nicht durch eine theoretische Wissenschaft im Sinne eines notwendig auf ein allgemeines und sich gleichbleibendes Seinsverhältnis bezogenen Wissens, zu beantworten; sie würde nur dem Handelnden die Verantwortung für sein konkretes Tun abnehmen. /44/ Pointiert formuliert läßt sich also die aristotelische Kritik so zusammenfassen: Weder müssen wir alle weise sein um gut zu handeln, noch handeln alle Weisen, weil sie weise sind, gut. Damit wird nicht der bios politikos gegen den bios theoretikos ausgespielt, sondern dieses letztere, für Platon und Aristoteles ranghöchste Leben, stellt sich für Aristoteles nicht als Negation, sondern als Überbietung des dem sterblichen Menschen Möglichen dar.   

Angesichts einer weder metaphysisch-hierarchisch noch modern-systematisch zu überschauenden Vielfalt von Fachdisziplinen in unserer wissenschaftlich-technisch geprägten Welt und angesichts der Notwendigkeit diese Vielfalt nicht einfach in ihrer bloßen Relativität walten zu lassen, da die Auswirkungen eines solchen sophistischen Weges bereits tödlich geworden sind, stellt sich die ethische Frage immer dringender, wie man nämlich diese Vielfalt auf die offenen Ziele menschlichen Zusammenlebens insgesamt beziehen kann. Im Vordergrund steht dabei zum einen die (sophistische) Frage nach der Wissensmitteilung - nach dem also, was wir heute Information nennen - und zum anderen der Zusammenhang dieses technischen und sozialen Vermittlungsprozesses mit der ethisch-politischen Verwirklichung einer weltumspannenden Gemeinschaft. Dass diese Frage wiederum weder losgelöst vom Menschen noch von der physis, d.h. also, dass sie nicht bloß anthropozentrisch, sondern zugleich ökologisch gestellt und beantwortet werden muß, das macht unsere Nähe und unsere Ferne zu den Sophisten, zu Platon und zu Aristoteles zugleich aus. Denn, wer würde heute dem Spruch des Sophisten Antiphon nicht zustimmen, dass nämlich alle Menschen gleich sind:  

"Atmen wir doch alle insgesamt durch Mund und Nase in die Luft aus und essen wir doch alle mit Hilfe der Hände?" (Diels, Fr. 44 B). 
Vorausgesetzt, wir haben alle etwas zu essen und wir können durch Mund und Nase die noch unverseuchte Luft atmen /45/. Die Erörterung dieser Fragen in der Antike ist heute aktueller denn je.



 
 
    
  

Anmerkungen

 1. Mit dem Ausdruck techo-theo-logisch weise ich auf den technischen Charakter der im (im Heideggerschen Sinne) "onto-theo-logischen" Verfassung der Metaphysik hin. Vgl. M. Heidegger: Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik, Pfullingen 1976. Zur Frage der Schriftlichkeit bei Platon vgl. Th. A. Szlezak: Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, Berlin/New York, 1985, der Platons Schriftkritik im Sinne einer selbstkritischen Haltung gegenüber jenem Wertvolleren ("timiotera") deutet, das sich eben jenseits der geschriebenen (und gesprochenen?) Sprache bzw. außerhalb der Seele befindet. Gerade mit Hilfe des Techne-Begriffs wird diese Selbständigkeit eines ausser-logischen bzw. ausser-seelischen Gegenstandes zum Ausdruck gebracht. Die Dialektik ist nur der Weg, Ziel ist die reine Anschauung. Auch wenn der 'lebendige' Logos des Vaters Hilfe nicht in derselben (!) Weise bedarf wie im Falle der Schrift, steht auch er, sofern er inkarniert bleibt, d.h. also sofern die Seele sich nicht von den lebensweltlichen bzw. veränderlichen Bedingungen des Diskurses losläßt und die Anschauung eines qualitativ Höheren erreicht -, in einer Sackgasse. Vgl. auch Th. A. Szlezak: Gespräche unter Ungleichen. Zur Struktur und Zielsetzung der platonischen Dialoge. In: Antike und Abendland, Bd. XXXIV (1988) S. 99-116 sowie: J. Wippern, Hrsg.: Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons, Darmstadt 1972. Das sokratische Nichtwissen drückt m.E. für Platon letztlich diese Überbietung des Logos aus. Das schließt natürlich den 'mühsamen' dialektischen Weg nicht aus (die "mühsame Fahrt" nach Polit. 441c). Platons Umdeutung des sophistischen techne-Begriffs hat m.E. eine metaphysische und nicht bloß eine formale Funktion. In diesem Sinne scheinen mir die Interpretationen von W. Wieland und J. Mittelstrass einseitig. Vgl. W. Wieland: Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982, J. Mittelstrass: Versuch über den sokratischen Dialog. In: K. Stierle, R. Warning, Hrsg.: Das Gespräch, München 1984, S. 11-27.  

2. Vgl. H.-G. Gadamer: Dialektik und Sophistik im siebenten platonischen Brief. In: ders.: Platos dialektische Ethik und andere Studien zur platonischen Philosophie, Hamburg 1968, S. 245. Damit soll das genetische Entwicklungsprinzip als hermeneutischer Leitfaden zugunsten des Artikulationsprinzips, wenn auch nicht aufgegeben so doch zumindest eingeschränkt werden.  

3. Vorsicht ist dennoch geboten, vor allem bezüglich der Abfassung der Ideenlehre im Sinne von Zahlen. Vgl. H.-J. Krämer: Arete bei Platon und Aristoteles, Heidelberg 1959, S. 35.  

4. E. Martens: Nachwort, in: Platon: Charmides. Übers. und Hrsg. Von E. Martens, Stuttgart 1987.  

5. Grundlegend zu diesem Thema: J. Kube: Techne und Arete. Sophistisches und Platonisches Tugendwissen, Berlin 1969. Ferner: Morimichi Kato: Techne und Philosophie bei Platon, Frankfurt a.M. 1986, B. Witte: Die Wissenschaft vom Guten und Bösen. Interpretationen zu Platons "Charmides", Berlin 1970, G. Bloch: Platons Charmides: die Erscheinung des Seins im Gespräch (Diss., Tübingen 1973) mit jeweils umfangreicher Literatur.  

6. Vgl. G. Bien: Das Theorie-Praxis-Problem und die politische Philosophie bei Platon und Aristoteles. In: Philos. Jahrbuch 76 (1968/69) S. 264-314.  

7. Bei Homer und Hesiod bedeutet techne die individuelle Geschicklichkeit und sachgemäße Kenntnis im handwerklichen Bereich (vor allem bei der Gestaltung von Holz oder Eisen).  

8. In diesem Sinne schreibt H.-G. Gadamer: "Also nicht in der Ausübung einer einzelnen Verrichtung kommt das auszeichnende der Techne gegenüber der Erfahrung zur Erscheinung. Es besteht vielmehr darin, daß Techne in einem neuen Sinne Wissen ist. Dies Wissen besteht nicht in der erfahrungsmäßigen Fähigkeit, vor die Aufgabe eines konkreten Herstellens gestellt, die rechten Mittel und den rechten Zeitpunkt zur Ausführung zu wählen, sondern schon vorgängig und mit vorgängiger Sicherheit für jeden möglichen Fall der betr. Verrichtung über die Ausführung zu verfügen; d.h. aber: dieses Entdeckthaben und Verfügen hat ein Allgemeines entdeckt und verfügbar gemacht, in einem strengeren Sinne als auch Erfahrung ein allgemeines Können ist, d.h. ein Eines, das aus vielem Behaltenen ein Können wurde." (Platos dialektische Ethik, a.a.O. S. 18).  

9. Vgl. J. Kube, op.cit.: "Der Sophist lehrt mit seiner Dialektik also auch "Wahrheit", aber nicht wie Platon und Aristoteles eine einzige, sondern viele einander gleichberechtigte." (S. 100). In dieser Aussage wird der Unterschied zwischen Platon und Aristoteles verdeckt. Es ist nämlich Platon, der den Techne-Begriff aus dem menschlichen Bereich losläßt und und ihn auf einen göttlichen Massstab zurückfährt. Aristoteles wird gerade durch den Unterschied zwischen praxis und poiesis den entscheidenden Schritt sowohl über die platonische Verabsolutierung der "techne" als auch über den blossen Relativismus der sophistischen "Werke" tun.  

10. Die Gleichsetzung von Wahrheit und Einzelwahrnehmung ist eine eristische Argumentation Platons ist, da die Sophisten (z.B. Protagoras) zwischen Wahrheit und Richtigkeit unterscheiden. Richtigkeit wird durch Verallgemeinerung anhand des empirischen Erfolgs auf der Basis der Regelmäßigkeit der physis erreicht. J. Kube, Techne und Arete, a.a.O. S. 200-203. Zum Rechtsdenken der Sophisten vgl. die klassische Analyse von E. Wolf: Griechisches Rechtsdenken. Frankfurt a. M.1952, Bd. 2: Rechtsphilosophie und Rechtsdichtung im Zeitalter der Sophistik.  

11. Ich folge Platon: Opera, I. Burnet, Oxford 1973 sowie der Übersetzung von O. Apelt: Platon, Sämtliche Dialoge, Meiner 1988. Vgl. auch Plato: Charmides, Übers. u. hrsg. v. E. Martens, Stuttgart 1977.  

12. G. W. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Frankfurt a.M. 1971, Bd. 18, S. 410 und 421. Der Unterschied besteht für Hegel darin, dass die "Bildung" "in unserer europäischen Welt" auf der Voraussetzung einer "geistigen Religion" aufbauen konnte, während die sophistische Bildung durch die "Richtungslosigkeit", d.h. durch die Zersplitterung der partikulären untergeordneten Gesichtspunkte" gegenüber der "Religion der Phantasie" als einem "unentwickelten Prinzip des Staats" gekennzeichnet war. Kritias war ein radikaler Agnostiker, der das Recht des Stärkeren vertrat. Er sah im Nomos ein Mittel zur Beherrschung des Volkes (bia = Zwang) und in den Göttern eine Erfindung, um den Nomos zu sichern. Der Einzelne sollte also die Norm sein. Kritias verkündet den "großen Mann", der sich keinem Richter unterstellt. Vgl. E. Wolf, Griechisches Rechtsdenken, a.a.O. S. 133. Vgl. H. Diels: Fragmente der Vorsokratiker (Berlin: Weidmann, 1959) Fr. 25, 45a. Für Fustel de Coulanges (Der antike Staat, München 1988, S. 463-472) war die "geistige Revolution", die von den Sophisten und Philosophen ausging, ein Hauptgrund für den Untergang des antiken auf der häuslichen Religion und der staatlichen Allgewalt basierenden Stadtstaates.  

13. Potidaia war eine auf der makedonischen Halbinsel Pallene (Chalkidike) gelegene korinthische Kolonie, die nach zweijährige Belagerung unter athenischer Herrschaft zurückgebracht wurde.  

14. Zum Begriff der Angst bei Platon vgl. Vf.: Frohmütiges Denken. Aspekte der Angst bei Platon und Heidegger. In: J. Albertz, Hrsg.: Aspekte der Angst in der "Therapiegesellschaft". Wiesbaden, Freie Akademie Bd. 10, 1990, S. 15-57.  

15. Der Fremdling, so Telemachos, soll bei den Freiern um Brosamen bitten, "denn die Scheu sei dem darbenden Manne nicht heilsam" (Od. 17, 347). So sollte Odysseus die mildgesinnten von den ungerechten Freier unterscheiden.  

16. Es handelt sich um eine gelehrte überlieferte Formel, die sich als Gegensatz zur athenischen "Vielbetriebsamkeit" (polypragmonein) versteht. Vgl. P. Friedländer: Platon, Berlin 1964, Bd. II, S. 65.  

17. Die Sophisten verdrehen Hesiod (Werke und Tage, 311: "ergon d'ouden aneidos, aergía de t'aneidos" ("die Arbeit bringt keine Schande, die Faulheit aber bringt Schande") indem sie ergon nicht im Sinne der Tätigkeit, sondern der Werke verstehen und auf das Machen poiein) schöner Werke anwenden. Anschließend wird diese Definition auf praxis, als ein poiein des Schönen, im Munde des Prodikos
dessen Spezialgebiet die Synonymik war gelegt. Die ganze Passage (163b-d) dient der Ironisierung sophistischer Unterscheidungen.  

18. Eine gewisse, zumal formal Verwandschaft mit der neuzeitlichen Subjektivitätsproblematik ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Vgl. E. Martens: Das selbstbezügliche Wissen im Platons "Charmides", München 1973. Vgl. auch B. Zehnpfennig: Reflexion und Metareflexion bei Platon und Fichte: ein Strukturvergleich des Platonischen "Charmides" und Fichtes "Bestimmung des Menschen", Freiburg/München 1987; G. Schmidt: Platons Vernunftkritik oder die Doppelrolle des Sokrates im Dialog Charmides, Würzburg 1985.  

19. Vgl. auch J. Kube, op.cit. S. 159. Zur Debatte steht nämlich, ob das Wissen der Sophrosyne von derselben Art (omoia) ist, wie das der anderen technai, so dass auch sie einen eigenen Gegenstand hat. Für beide, d.h. für Kritias und für Platon, gibt es da Unterschiede: während für den Sophisten das Wissen der Sophrosyne keinen eigenen Materialen, sondern nur einen formalen Gegenstand besitzt und somit als Metawissenschaft aufzufassen ist, betont Platon, dass sie einen eigenen materialen Gegenstand hat, dass dieser aber sich von dem der anderen technai unterscheidet.   

20. Vgl. J. Kube, a.a.O. S. 159.  

21. J. Kube, a.a.O. S. 159.  

22. K. Gaiser: Platons Menon und die Akademie. In: J. Wippern, Hrsg.: Das Problem der ungeschriebenen Lehre, Darmstadt 1972, S. 332.  

23. Vgl. G. Bien: Das Theorie-Praxis-Problem a.a.O.. Platons spätere Dialoge sind aber immer mehr auf eine Überbrückung hin orientiert. Dies kommt auch in der letzten Widerlegung der sophrosyne als episteme epistemes zum Ausdruck.  

24. Vgl. H.-J. Krämer, Arete, a.a.O. S. 503 ff, sowie S. 305 und 341.  

25. Es bleibt dabei wiederum ironischerweise offen, ob dieser Traum durch die elfenbeinerne oder durch die hörnerne Pforte der Traumwelt auf ihn gekommen sei. Durch die letztere, so Homer (Od. 19, 560), kommen die wahren Träume.  

26. Vgl. Kube, a.a.O. S. 122 ff.   

27. Zu bemerken ist aber, dass sowohl hier als auch im Charmides vom agathon und philon im Singular des Neutrums die Rede ist. Dadurch wird ein transzendenter Gegenstand angedeutet bzw. das Leben des Menschen
das, was Aristoteles praxis nennt zu einem Zwischenstadium degradiert.  

28. Zum techne-Begriff in der "Politeia" vgl. M. Kato, a.a.O. S. 76-77, die auf den Zusammenhang mit dem "Charmides" hinweist.  

29. J. Kube, a.a.O. S. 195.  

30. Für M. Kato, a.a.O., kultiminert in der "Politeia" alles, was in den Frühdialogen mit dem Techne-Begriff angedeutet wurde. M. Kato zitiert B. Snell (Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, Berlin 1924, S. 93 f.): "Das Bild des Handwerkers, von dem Sokrates immer wieder ausging, hatte für ihn weit mehr als bloß illustrativen Wert. Auch für Platon hatte der enge Zusammenhang von sophia und episteme mit techne und demiourgia tiefere Bedeutung; seine Anschauung vom Wissen des Handwerkers ist gewissermaßen das noch "unverarbeitete Material für sein philosophisches Denken" (S. 5).  

31. Für R. Maurer: Der Zusammenhang von Technik und Gerechtigkeit und seine metaphysische Grundlegung in Platons Politeia. In: Philos. Jahrbuch 82 (1975) 2, S. 259-284, ist die Interpretation der platonischen Philosophie im Sinne einer "Metaphysik der Praxis" unhaltbar. Sie ist, m.E., eine Metaphysik der göttlichen poiesis oder Techno-theo-logie.   

32. Vgl. Kube, a.a.O. S. 200-226.  

33. Vgl. G. Bien: Die Grundlegung der politischen Philosophie bei Aristoteles, Freiburg/München 1973 ; P. Aubenque: La prudence chez Aristote, Paris 1963.  

34. Aristoteles: Ethica Nicomachea, Oxford 1894; Aristoteles: Nikomachische Ethik, Übers. v. E. Rolfes, Eingel. v. G. Bien, Hamburg 1985.  

35. Vgl. G. Bien: Art. Praxis, praktisch. In: Hist. Wörterbuch der Philos. Basel 1989, Bd. 7, Sp. 1277-1287. Vgl. auch: K. Bartels: Das Techne-Modell in der Biologie des Aristoteles (Diss. Hannover 1966).  

36. Vgl. Polit. 1280 b 31; 1328 a 35; 1279 a 24. G. Bien (Die Grundlegung, a.a.O. S. 315 ff) deutet diese Formel im Sinne einer Verfassung schlechthin. Vgl. auch: G. Bien: Bemerkungen zum Aristotelischen Politikbegriff und zu den Grundsätzen der Aristotelischen Staatsphilosophie. In: Aristoteles: Politik, Hamburg 1981. Einl. des Hrsg. S. XII-LXVI.  

37. G. Bien, Grundlegung, a.a.O. S. 92-93.  

38. Vgl. G. Bien: Art. Haus. In: Hist. Wörterbuch der Philos, Basel 1974, Bd. 3, Sp. 1007-1017.  

39. Aristoteles verwendet diesen Ausdruck im etymologischen Sinne, als das, was uns die sittliche Einsicht (phronesis) bewahrt. (NE 1140 b 11-12).  

40. Vgl. G. Bien: Art. Praxis, a.a.O.  

41. Vgl. J. Ritter: Art. Glück. In: Hist. Wörterbuch der Philos., a.a.O. Bd. 3, Sp. 579-691.  

42. Vgl. G. Bien, Das Theorie-Praxis-Problem, a.a.O. S. 288.  

43. Vgl. H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, a.a.O. S. 177; vgl. ders.: Praktisches Wissen. In: Gesammelte Werke, Tübingen 1985, Bd. 5, S. 230-248, der die Unterschiede zwischen phronesis und techne bei Aristoteles in ihrer Gegenüberstellung zu Platon klar herausarbeitet.  

44. Die griechische Ethik berücksichtigt allerdings den Charakter der selbstlosen Liebe nicht in der Weise, wie es die jüdisch-christliche Tradition tut. Vgl. C. de Vogel: Selbstliebe bei Platon und Aristoteles und der Charakter der Aristotelischen Ethik. In: J. Wiener, Hrsg.: Aristoteles. Werk und Wirkung, Berlin 1985, S. 393-426.  

45. Vgl. v.Vf.: Hermeneutik der Fachinformation, Freiburg/München 1986. Über den Zusammenhang der Aristotelischen phronesis mit der Philosophie der Befreiung vgl. v.Vf.: Ethik und Weisheit des Volkes. In: R. Fornet-Betancourt, Hrsg.: Ethik und Befreiung, Aachen 1990, S. 97-107.  
  
  
Letzte Änderung: 19. August 2017

 
 
    

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