I.
Die platonische Umformung des sophistischen Techne-Begriffs im Dialog
"Charmides"
1.
Sophistische und platonische techne
Die
Übertragung
des Techne-Begriffs aus dem handwerklichen Bereich in
andere
Wissensbereiche, etwa im Sinne von "Wissen, wie man etwas erreicht",
findet
vor allem in der nach-homerischen Zeit statt. /7/
Sowohl
der Techne-Begriff als auch der Begriff des Handwerkers (demiourgos)
wurden über die handwerkliche intellektuelle Komponente hinaus auf
jede Art beruflichen Wissens (z.B. auf die Kunst von Dichtern,
Musikern,
Sehern, Ärzten usw.) bezogen und somit zum Kennzeichen des im 7.
und
6. Jh. aus dem handwerklichen Bereich entstandenen
Bürgertums.Dementsprechend
wurden sie von der Adelsethik abschätzig gebraucht. Im 5. Jh.
gewinnt techne eine herausragende Bedeutung im Sinne all
dessen,
was der
Mensch dank seiner intellektuellen Fähigkeiten – und nicht also
von
Geburt (physis) oder von den Göttern bekommt – machen kann. Techne
meint nicht mehr bloß Erfahrung (empeiria),
sondern Wissen, das sich sowohl auf das Herstellen als auch auf das
Handeln
bezieht. /8/
Aufgrund
der Infragestellung der überkommenen Arete-Auffassung der
Adelsethik
lag es nahe, indem man die arete zum Gegenstand eines Wissens
machte,
sie auch wie eine techne aufzufassen. Hier liegt die Wurzel der
Auseinandersetzung zwischen der sophistischen und der platonischen
Auffassung
des Techne-Begriffs. Der Sophist – man denke z.B. an
Protagoras' homo-mensura-Satz – vertritt die These, dass das
Gute
und Schlechte
jeweils relativ ist, d.h. auch die techne der politike arete
ist eine lehr- und lernbare Fähigkeit, um den Einzelfall zu
erkennen
und dementsprechend zu handeln. /9/ Es kommt
also
nicht darauf an, die Wahrheit zu erkennen, sondern die jeweils richtige
Wahrheit. /10/ Der Sophist erkennt zwar die
Gesetzlichkeiten
der physis, stellt aber die menschlichen Zwecke in den
Vordergrund,
sein Techne-Begriff ist anthropozentrisch. Diese Auffassung ist
aber kein schrankenloser Relativismus, so wie es in der jetzt zu
analysierenden
Platonischen Polemik zum Ausdruck kommt. Erst von einer metaphysischen
und gleichbleibenden Auffassung der Ordnung des Seienden aus, mit ihrem
außerhalb menschlicher Zwecke liegenden Maßstab, konnten
die
sophistischen Äußerungen als relativistisch verzerrt
aufgefasst
und karikiert werden. In diesem Sinne wird Platon den Techne-Begriff
teleologisch und techno-theo-logisch umdeuten und die politike arete
metaphysisch aufheben. Sehen wir uns die Platonische Argumentation im
Dialog
"Charmides" im Einzelnen an.
2.
Platons "Charmides" /11/
Den
Kernbereich
der Diskussion bilden die Thesen des Kritias, d.h. jener
Persönlichkeit,
in der sich alle Impulse der sophistischen Bewegung vereinigen, jene
Impulse
nämlich, die Hegel mit denen der neuzeitlichen Aufklärung
vergleicht. /12/ Das Szenario vor dem diese Thesen
diskutiert werden,
stellt die Ringschule des Taureas dar. Der Dialog wird mit einem
knappen
Hinweis auf die Tapferkeit des Sokrates eröffnet, der aus der
Schlacht
von Potidaia zurückgekehrt ist. /13/ Dass aber
nicht die Tapferkeit (andreia), sondern die Besonnenheit (sophrosyne)
sofort zum Gegenstand des Gesprächs wird, muß nicht zuletzt
vor dem Hintergrund der sowohl von den Sophisten als auch von Sokrates
herbeigeführten Umgestaltung der adligen arete
aufgefaßt
werden: Nicht die Tapferkeit der Krieger steht jetzt im Vordergrund,
sondern
die auf Erkenntnis beruhende durch die Vernunft bzw. das Gesetz
geleitete
Beherrschung seiner selbst. /14/
Es
geht also um die Bestimmung des ethischen Kampfes. Ein weiterer die
Diskussion
mit Kritias einleitender Gedanke gilt der Frage nach dem Zusammenhang
von
Weisheit (sophia) und Schönheit, wobei die
unübersehbare
körperliche Schönheit des Charmides lediglich den
Ausgangspunkt
für die Frage nach der Schönheit der Seele – eine "kleine
Zugabe"
(173d), wie Sokrates ironisch bemerkt – darstellt. Hier kündigt
Platon
seine Grundthese an, nämlich die des Vorrangs des Ganzen vor den
Teilen:
Charmides, der an Kopfschmerzen leidet, gibt nämlich Sokrates
Anlass
zu der Bemerkung, dass die Heilung bestimmter Körperteile in eins
mit der Heilung des ganzen Körpers geht. Zur Debatte steht
dementsprechend,
ob und wie die Besonnenheit (sophrosyne) den Menschen als Ganzes
oder nur jeweils in gewisser Hinsicht heilen kann, d.h. ob es ein
Wissen,
also eine techne, von ihr geben kann.
Der
Prüfung dieses Sachverhaltes gelten zunächst die drei Thesen
des Charmides, von denen die letzte die des Kritias ist. Sie
lauten:
1) sophrosyne
ist eine gewisse Ruhe im ganzen
Verhalten.
Sokrates'
Einwand: Schnelligkeit macht die Schönheit der meisten
körperlichen
und geistigen Handlungen aus (159a-160d). Sokrates' Einschränkung
seiner eigenen Schlußfolgerung ("aufgrund unseres jetzigen
Nachweises")
zeigt, dass er sich der Einseitigkeit seiner Beispiele bewußt
ist.
2) sophrosyne
ist Scheu (aidos). Sokrates
erwidert
mit einem
Homerzitat, in dem die Scheu etwa eines leidenden Menschen als
unangebracht
bezeichnet wird (160d-161b). /15/
3) sophrosyne
ist, so Kritias' Definition im Munde
des
Charmides, "das
Seinige tun" (ta heautou prattein). /16/
Dabei
bezieht Sokrates das prattein auf einen eingeschränkten
Wissensbereich,
nämlich auf jene technai, die der Herstellung von
materiellen
Gegenständen dienen. Damit führt er die Definition ad
absurdum:
jeder müßte z.B. seine eigenen Schuhe herstellen usw., wenn
es offenbar ist, dass ein Staat (polis) gut verwaltet bzw.
besonnen
ist. Das gibt den unmittelbaren Anlaß zu der Kontroverse um die
Bestimmung
des Guten als Gegenstand der sophrosyne. Der Kernpunkt dabei
ist,
ob und in welchem Sinne hier von einer techne gesprochen
werden
kann (161b-162c).
Die
beiden gegeneinander konkurrierenden Thesen, die in vielen
dialektischen
Schwingungen abgewandelt werden, lassen sich folgendermaßen
vorausschicken:
Kritias
wird die These vertreten, dass sophrosyne zwar formal eine techne
ist, dass sie aber keinen eigenen Gegenstand hat und somit also
"relativ"
bleibt. Der Techne-Begriff bleibt ein auf die
Einzelwissenschaften
bezogener Begriff. Der platonische Sokrates behauptet die strenge also
formale und inhaltliche Vergleichbarkeit der sophrosyne im
Sinne
eines Wissens um das Gute und um das Eine. Ihr Gegenstand überragt
die Gegenstände der anderen technai und kann mit diesen
nicht
nivelliert werden. Die Ironie der platonischen Argumentation besteht
nicht
zuletzt darin, dass die Sophisten genau mit jenem Begriff widerlegt
werden
sollen, der ihnen am teuersten ist.
Sehen
wir uns die Thesen und Antithesen im einzelnen an. Sie laufen darauf
hinaus,
dass eine inhaltsleere techne ein Selbstwiderspruch ist, und
dass
die Kenntnis des Einen als des Guten den Inhalt der sophrosyne
darstellt
bzw. von ihr vorausgesetzt werden muss. Eine solche nicht diskursiv
sondern
letztlich nur intuitiv-noetisch erreichbare weil an sich seiende
Dimension,
die, vor allem in den späteren Dialogen, explizit göttliche
Züge
annimmt, stellt, wie Aristoteles hervorheben wird, nicht nur eine
intellektualistische
Verzerrung der Ethik dar, sondern sie hebt die Eigenständigkeit
menschlicher
Praxis auf. Beide Aspekte kommen in den folgenden Widerlegungen
sophistischer
Unterscheidungen deutlich zum Ausdruck.
a) Poiesis
und praxis (162c-165c)
Wie
sehr
es für Platon auf die Erkenntnis des Guten ankommt, zeigt seine
Widerlegung
der Unterscheidung des Kritias zwischen dem Bereich des Machens (poiein)
von dem des Tuns (praxis), eine Unterscheidung, die erst
Aristoteles
als eine für die Ethik grundlegende ausführen wird. Diese
Unterscheidung
wird bei Platon nur angedeutet und bleibt ohne klare
Unterscheidungskriterien.
Im Gegenteil, beide Begriffe werden mit derselben Intention ("alle
Werke")
als Synonyme gebraucht. Kritias will den Sinn des prattein
(gemäß
der dritten sophrosyne-Definition: ta heautou prattein)
auf
jene Tätigkeiten einschränken, die ein schönes und
sichtbares
Werk (ein ergon) hervorbringen, während poiein der
allgemeine
Ausdruck für jede Tätigkeit ist. Es kommt also nicht darauf
an,
ob beim Handeln bzw. Machen Tätigkeit und Ziel zusammenfallen oder
nicht, gemäß unserer (aristotelischen) Unterscheidung
zwischen
Handeln und Machen. Entscheidend ist außerdem, dass es sich um
Werke
(erga) im Plural handelt. /17/
Für
Sokrates stellt sich dagegen die Frage nach dem einen Prädikat
"gut",
das ta agatha erst als solche konstituiert. So lautet jetzt die
sophrosyne-Definition: "das Hervorbringen der guten
Werke" (ten
gar ton agathon praxin 163d). Für Platon geht es aber dabei
nicht
primär um das Hervorbringen der Werke durch die Fachleute (demiourgoi),
sondern um die Bedingung davon. Denn, so Platon, es genügt nicht,
dass der Fachmann die Werke verrichtet, denn dann könnte es
heißen,
dass er gelegentlich nicht weiss, was er tut, ein Widerspruch, den
Kritias
nicht annehmen kann. So sieht er sich genötigt, sophrosyne
als "das Sichselbsterkennen" (to gignoskein heauton 164d) zu
bestimmen.
Aber auch hier gilt es für Platon, den sophistischen Relativismus
zu widerlegen.
b) Episteme
heautes und heautou (165d-166d)
Die
Frage
lautet also jetzt, inwiefern Wissen (episteme), das immer ein
Wissen
von etwas ist, sich nicht nur auf alle Fachkünste (technai),
die schöne Werke hervorbringen, sondern auch auf die
Selbstkenntnis
(episteme heautou) ausdehnen läßt. Dabei muß
man
beachten, dass diese Kenntnis des Selbst nicht im Sinne des genitivus
obiectivus oder gar im Sinne des neuzeitlichen
Selbstbewußtseins
gedeutet werden kann. /18/ Es geht statt dessen, wie die Diskussion
zeigt,
um die Kenntnis, die der Mensch vom Guten hat. /19/ Zur Debatte steht
nämlich,
ob das Wissen der sophrosyne von derselben Art (omoia)
ist,
wie das der anderen technai, so dass auch sie einen eigenen
Gegenstand
hat. Für beide, d.h. für Kritias und für Platon, gibt es
da Unterschiede: während für den Sophisten das Wissen der sophrosyne
keinen eigenen materialen, sondern nur einen formalen Gegenstand
besitzt
und somit als Metawissenschaft aufzufassen ist, betont Platon, dass sie
einen eigenen materialen Gegenstand hat, dass dieser aber sich von dem
der anderen technai unterscheidet.
Damit
widerspricht Platon der sophistischen Auffassung, dass das Wissen der sophrosyne
sich selbst zum Gegenstand hat, dass sie also eine Kenntnis seiner
selbst
(episteme heautes) bzw. eine Metawissenschaft (epistemon
episteme)
ist, sondern eine Selbstkenntnis im Sinne eines Wissens, welches sich
des
eigenen Gegenstandes bewußt ist (episteme heautou). So
liegt
also dieser Kritik die Auffassung zugrunde, dass es zum einen einen
solchen
Gegenstand, nämlich das Gute, gibt, und dass alles auf seine
Kenntnis
ankommt. Die areta hat das agathon als einzigen Bezug,
während
das sophistische Wissen von hier aus metaphysisch diskreditiert wird,
und
zwar als ein formales Wissen, das aufgrund dialektischer
Situationsanalysen
über die Richtigkeit bestimmter Maßnahmen urteilt, ohne also
ein Fachwissen im eigentlichen (Platonischen) Sinne zu besitzen.
/20/
Vieles
vom Wissen um das Gute als das Eine bleibt hier freilich ungesagt bzw.
ungeschrieben. Platon begnügt sich damit, vor allem in den
frühen
Dialogen, die Aporien aufzuzeigen. Dass er aber den Maßstab des
ethischen
Handelns weder in den einzelnen technai noch im formalen
Bereich
findet, zeigt, dass er von einem metaphysischen bzw.
techno-theo-logischen
Vorverständnis des Einen als des Guten ausgeht. Die
Erörterung
des Unterschiedes zwischen episteme heautes und heautou
ist
in mehrfacher Hinsicht ironisch: Es ist nämlich Sokrates, der
behauptet,
dass für Kritias die Besonnenheit episteme heautou ist,
und
es ist wiederum Kritias, der scheinbar unmerklich von episteme
heautes
spricht und somit diesen für Platon (!) wichtigen Unterschied zum
Ausdruck bringt. Die Ironie erreicht aber einen Höhepunkt, wenn
Kritias
kurz danach (169e) die Unterscheidung aufhebt und Sokrates dieser
Aufhebung
zustimmt! Die Ideenlehre setzt in der Tat die Einheit beider Momente
voraus,
aber eben nicht im Sinne eines blossen formalen Wissens, weder in bezug
auf sich selbst, noch in bezug auf die Wissenschaften (epistemon
episteme
166c). Sie ist weder (eristische) Logik noch Wissenschaftstheorie.
Diese
Diskurse erreichen erst ihre Begründung, wenn der logos
sich
metaphysisch von einem ihn bedingenden Gegenstand bestimmen
läßt.
Diese Sache liegt, wie Sokrates wiederum ironisch betont, "im
gemeinsamen
Interesse aller Menschen" (166d), d.h. sie kann nicht auf die
"relativen"
Interessen der Sophisten reduziert werden. Denn dem (platonischen)
Sophisten
geht es primär darum, wer eine Aussage macht, der platonische
Sokrates
dagegen ist um eine Erörterung der Sache bemüht. Damit
muß
er aber die gängige "freie" Meinung, d.h. die von den Sophisten
propagierten
Lehren, in Frage stellen. In diesem Sinne war Platon "Realist" genug,
um
seine Lehre nicht dem völligen Mißverständnis
auszuliefern.
Die Dialoge geben das Zerrbild dieser sozialhermeneutischen Bedingungen
wider. In diesem Sinne schreibt Kube zutreffend:
"Platon
muss bestimmte Meinungen im Auge gehabt haben, gegen die er sich wandte
und die ihm als eine Gefährdung seiner eigenen These vom agathon
als einzigen Bezug der areta erschienen. Was liegt da
näher
als an das logos-Wissen der Sophisten zu denken, an jene episteme,
die allen anderen technai übergeordnet ist, durch die man panta
epistasthai und überall mitreden kann, die es einem Laien
erlaubt,
einen Fachmann – wenigstens formal – zu beurteilen, wie das dann
später
auch die aristotelische Logik tut? Dieses sophistische Wissen hat in
platonischer
Sicht ja keinen Gegenstand, es urteilt auf Grund dialektischer
Situationsanalysen
über die Richtigkeit bestimmter Maßnahmen, ohne ein
Fachwissen
im eigentlichen Sinne zu besitzen." /21/
Auf die
Frage des Kritias, ob Sokrates einen eigenen Gegenstand der Sophrosyne
so wie bei den anderen technai aufweisen kann, betont Sokrates
die
Schwierigkeit, indem er das Beispiel der Rechenkunst, bei der die
Geraden
und Ungeraden im Verhältnis "zu sich" (pros auta) und "zu
einander"
(pros állela) stehen, aufführt (166c). Beide
Begriffe
lassen, so Gaiser /22/, auf einen Unterschied
zwischen
dem
"eigentlich
autarken An-sich-Sein der Ideen und einer defizienten Form der
Selbständigkeit [...] ebenso auch zwischen der relativen
Wechselbeziehung und der
Beziehung
auf eine maßgebende Norm (Einheit)"
schließen.
Die sophrosyne hat als Gegenstand diese maßgebende
sittliche
Norm, die als Techne-Norm sowohl für die areta als
auch
für die physis gilt. Für diese Techne-Norm
wirbt
Platon hier, indem er die Dialektik des propositionalen bzw.
dianoetischen
Wissens von einem "höheren" noetischen logos aus in Frage
stellt
und von der aus erst die Vielheit in ihren Zusammenhang zu einem Ganzen
begriffen werden kann.
An
dieser Stelle soll bemerkt werden, dass Platons "ungeschriebene Lehre"
zwar als eine metaphysisch-esoterische und letztlich auch
intuitionistische,
aber keineswegs als eine "Geheimlehre" verstanden werden kann. Er
hätte
sie dann nicht einmal ex negativo andeuten sollen. Ihr
gegenüber
steht die aristotelische auf die Vermittlung von "Öffentlichkeit"
und "Schule" ausgerichtete Propädeutik. /23/
c) Episteme
epistemes (166e-171c)
Es
handelt
sich hier um eine Argumentation ad absurdum: Würde sich
nämlich
die sophrosyne, wie die Sophisten behaupten, über alle
Wissensarten
erheben, so müßte sie auch um die Unwissenheit (anepistemosunes
episteme 166e) bzw. um den Unterschied zwischen Wissen und
Unwissenheit
Bescheid wissen. Eine solche Wissenschaft wäre mit den anderen
Wissensarten
nicht vergleichbar, müßte sich aber selbst, im
äquivoken
Sinne also, Wissenschaft nennen (episteme epistemes). Das
wäre
wie eine Größe (oder ein Klang, eine Farbe usw.), die nicht
mit anderen Größen verglichen werden kann, und die ihren
Komparativ
auf sich selbst anwenden müßte.
Dieses
sowie andere Beispiele zeigen, dass Platon dem pluralistischen bzw.
"relativistischen"
Denken der Sophisten von einer ex negativo behandelten
Hierarchie
begegnet, bei der es sich stets um Korrelationsverhältnisse (pros
allo 169a) handelt, während die Sophisten stets das jeweils
Richtige
(pros heauto) betonen. /24/ Dass es sich bei
dem Prinzip dieser hierarchischen Ordnung nicht um ein leeres
Einheitsprinzip,
sondern um einen ontologischen Grund handelt, darauf zielt letztlich
der
ganze Dialog hin. So gilt für Platon lediglich der Gegenstand der sophrosyne
als pros heauto (169a). Im selben
Atemzug erwähnt
Sokrates seine "innere Stimme", die ihm sagt, dass die Besonnenheit
"nützlich
und gut" (ophelimon ti kai agathon) sei. Gerade die an dieser
Stelle
eintretende Verlegenheit (aporia) des Kritias zu einer "klaren
Erläuterung"
(saphes) der Sache, d.h. des "Was" und nicht nur des "Dass",
zeigt
erneut die zugrundeliegende metaphysische Auffassung des Guten, die im
Schlußteil des Dialogs wiederholt und immer nur mit Hilfe
indirekter
Andeutungen zur Sprache kommt und alle bisherigen Argumente
zusammenfaßt.
d)
Das Gute als Gegenstand der sophrosyne
(171d-174e)
Wenn
also
die sophrosyne keine episteme epistemes sein kann, dann
hat
sie einen eigenen Gegenstand, und zwar nicht bloss einen formalen,
sondern
es muss sich dabei um ein Wissen "des Guten" (to agathon)
handeln.
Denn, wenn die sophrosyne lediglich die Herrschaft der
einzelnen technai wäre (panta technikos 173c), dann
hätten
wir bessere Kleidung, wären wir körperlich gesünder usw.
es bliebe aber der Zweifel, ob wir dabei "gut handeln" (eu prattoimen
173d), da eben das Ziel (telos) des guten Handelns sich nicht
auf
die Summierung der einzelnen Ziele reduzieren läßt, woraus
also
die Glückseligkeit von Haus- und Staatsführung nicht bestehen
kann (kai oikias kai poleos 172d). Die Gründe für
seine
(ironische) Skepsis trägt Sokrates in der Gestalt eines Traumes
vor. /25/
Dabei
betont Platon, dass das Glück (eudaimonia) vom "gut
handeln"
(tous de eu prattontas eudaimonas einai 172a) abhängt, der
Ausdruck prattein bleibt aber unbestimmt, d.h. auf alle, auch
handwerklichen,
Handlungen bezogen. Das Gegenteil von diesem "Tun" ist der logos
oder das gignoskein des Philosophen (sophia).
Demgegenüber
wird Aristoteles auch die theoria als praxis - bzw. als
praxis
i.e.S. - auffassen, wobei erst die sittliche praxis, im Sinne
eines
vom Handelnden nicht lösbaren Hervorbringen des Guten, sich
dadurch
von der poiesis wesentlich unterscheidet.
Über
den einen Gegenstand sagt Platon direkt nichts: es handelt sich um
"eine
Kleinigkeit" nämlich (smikron toinun 173d) - die Ironie des
Ausdrucks ist mit der "kleinen Zugabe" der "Seelenanlage" zu Beginn des
Dialogs vergleichbar (154d) - wenn aber dieses eine Wissen fehlt,
"dann",
so Sokrates, "ist es auch für uns vorbei mit dem richtigen und
wahren
Nutzen aller jener Wissenschaften (epistemon)" (174d). So
wäre
also die sophrosyne keine formale Über-Techne,
sondern
eine von ihrem Gegenstand her für diese massgeblich bleibende
metaphysische
Über-Techne, sie ist also Kenntnis des Guten bzw. sie soll
den Maßstab geben für das, was unter ihr als techne
gelten
darf. Die Einheit des platonischen Denkens im Sinne des anfangs
erwähnten
Artikulationsprinzips zeigt sich nicht nur in der immer wieder
unternommenen
Umdeutung des sophistischen Techne-Begriffs, sondern auch in
den
Anspielungen späterer Dialoge auf frühere Erörterungen.
So hebt Sokrates in bezug auf die Frage, welche Einzelwissenschaften
den
Wahrsager – also denjenigen, der eine
ausgedehnte techne
über
Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges hat –
glücklich
machen, hervor, dass dies nichts anderes sein kann als die Kenntnis des
Guten und Schlechten (174a-b). Diese Stelle, die wohl den Grundgedanken
dieses Dialogs zusammenfaßt, kehrt, wie wir gleich zeigen werden,
in der "Politeia" wieder.
Die
sophistische Auffassung der Sophrosyne im Sinne eines formalen
Metawissens
ist - schließlich - logisch unhaltbar: Es wäre ein Wissen,
das
sowohl von dem was es weiß, als auch von dem was es nicht
weiß,
eine sichere Kunde hat. Wie man aber das, was man überhaupt nicht
weiß (me oiden medamos 175c) dennoch wissen soll, bleibt
rätselhaft.
Die Lösung dieses Rätsels liegt für Platon in der
Erinnerung
(anamnesis) bzw. im erwachenden Bewußtsein eines
ursprünglichen
Zustandes des Wissens. Die hier aporetisch bleibende Reflexion wird im
"Lysis" wieder aufgenommen. Am Schluß des Dialoges hat die
körperliche
Schönheit des Charmides nur einen peripheren Charakter: Es dreht
sich
alles von nun an um die Erziehung der Seele.
3.
Hinweise auf den Techne-Begriff in anderen Dialogen im
Anschluß
an die im "Charmides" behandelten Fragen
In
den
anderen Dialogen, auf die ich hier nur kurz hinweisen kann, /26/
übernimmt Platon einige der im "Charmides" offengelassenen Fragen
bzw. baut seine Deutung des Techne-Begriffs weiter aus. Als
Beispiele
dafür sind einige Stellen aus dem "Lysis" sowie aus der "Politeia"
aufzuführen. So stellt Sokrates im "Lysis" dem Menexenos die
Frage,
wie einer des anderen Freund wird (212a), wobei die philia in
einem
sehr weiten Sinne (etwa die Elternliebe sowie das Hauswesen umfassend)
verstanden wird. Im Vordergrund steht das Moment des Gegenstandes des
Wissens,
wobei Platon die am Schluß des "Charmides" angesprochene Aporie
nach
einer Kenntnis der Unwissenheit wiederaufnimmt. Gegenüber der
formalen
Argumentation der Sophisten geht es jetzt erneut um den gesuchten
Gegenstand
des Wissens, wovon aber der Sophist eben nichts wissen will. Die Logik
der Argumentation beruht auf dem Vermeiden eines regressus ad
infinitum
unter Voraussetzung einer "pyramidalen" bzw. hierarchischen Struktur
der
Zwecke. Dabei wird die Forderung nach einem "Anfang" (arche)
bzw.
nach einem proton philon, auf den alle anderen technai
als
dem gemeinsamen Zweck orientiert sind (hou heneka), gestellt.
Demgegenüber
ist "alles andere" bzw. sind alle anderen Ziele wie "Schattenbilder" (eidola
219c-d). Andeutungsweise spricht Platon von diesem Ziel als einem agathon
(220b), von dem es zweideutig heißt, dass es "einem
angehörig"
(oikeiou 221e) ist, im Hinblick nämlich darauf, ob dieses agathon
sich auf einen Zustand der Seele oder auf die "Idee des Guten", also
auf
einen außerhalb der Seele sich befindenden Gegenstandes, beziehen
soll. /27/
In
den mittleren sowie in den späteren Dialogen kommt der Techne-Begriff
zur vollen Entfaltung, d.h. hier zeigt sich immer deutlicher, dass der
Gegenstand der philosophischen techne alle Gegenstände der
anderen technai überragt. Als Beispiel sei eine zentrale
Stelle
im VI. Buch der "Politeia" aufgeführt. /28/ Dort ordnet Platon die
drei Tugenden, nämlich Weisheit (sophia), Besonnenheit (sophrosyne)
und Tapferkeit (andreia), hierarchisch-politisch den drei
Gesellschaftsklassen
(den Herrschenden, den Erwerbenden und den Schützenden), sowie
hierarchisch-psychologisch
den drei Seelenteilen (dem Vernünftigen, dem Begehrlichen, dem
Zornmütigen)
zu (Polit. 441a). Mit einem fast wörtlichen Zitat aus dem
Charmides
(Charm. 174a-b) stellt er den Zusammenhang der technai mit der
"Idee
des Guten" dar:
"denn",
so Platon, "dass die Idee des Guten das höchste Wissen (megiston
mathema) darstellt, hast du oft gehört, sie, die durch ihre
Mitwirkung
gerechte Handlungen sowie die anderen Handlungen dieser Art
überhaupt
heilsam und nützlich macht. [...] Oder glaubst du, es sei ein
Gewinn
alles Mögliche zu besitzen, nur das Gute nicht?" (505a-b).
Dabei
stellt Platon ausdrücklich die Frage nach dem eigentlichen Wesen
des
Guten (ti pot esti t'agathon 506e) und weist auf das so oft
vorgetragene
(pollakis eiremena 507a), also auf das, was die neuere
Platonforschung
(Krämer, Gaiser) die "ungeschriebene Lehre" nennt, hin. Von diesem
zum Bereich des intuitiven Denkens gehörenden Gegenstand (en to
noeto 508b) äußert sich Platon schriftlich nur per
analogiam
(analogon heauto 508b), d.h. er vergleicht ihn bekanntlich etwa
mit dem Licht bzw. der Sonne oder mit den in den mathematischen
Wissenschaften
vorausgesetzten unsichtbaren Gegenständen, wie "die Diagonale
selbst".
Die eigentliche d.h. intuitive Erkenntnis dieses absoluten Zieles ist
für
Platon nur durch die Trennung der Seele vom Körperlichen zu
erreichen.
Deshalb kann der Philosoph eine solche Kenntnis nicht in der gleichen
Weise
mitteilen wie der technites, sondern er kann zunächst nur
den
Weg dorthin weisen. Der Gang selbst erfordert eine "radikale Umkehr"
der
Seele (psyches periagoge), d.h. eine Abwendung vom Wandelbaren
und
Relativen. In diesem Sinne ist die philosophische techne (die
Dialektik)
mit den anderen technai nicht vergleichbar,
"aber
nicht", wie Kube richtig bemerkt", "weil sie zu wenig, sondern weil sie
allein im vollen Sinn techne ist – oder wir müssen sagen: episteme,
denn Platon trennt jetzt zwischen dem auf unbewiesenen Voraussetzungen
beruhenden praktischen Wissen und jenem, das von der anupothetos
archa
aus die Gründe von allem angeben kann (533 c/d). Eben durch die
Forderung
des logon didonai also, die doch ursprünglich den technai
abgeschaut war, werden diese nun selbst als Modell entthront und einer
alles technische Wissen an Gründlichkeit übertreffenden episteme
unterworfen." /29/
So ist
also das Wissen des Guten ein reines Wissen des Voraussetzungslosen,
dessen
Gegenstand den anderen "sogenannten Künsten" (to hypo ton
technon
kaloumenon 511c) zugrundeliegt. Die Techne des Guten ist
also
keine Meta-Techne im sophistischen bzw. formalen Sinne, sondern
sie
ist die eigentliche metaphysische Techne, deren Gegenstand alle
anderen überragt: epekeina des ousias (509b). Sie ist eine
techne im vollen Sinne, weil sie jene Forderung des logon
didonai
allein erfüllt, weil sie Wissen des Absoluten, dessen also, was
keine
Voraussetzung hat, ist. /30/ Von dieser
"göttlichen techne" (theia techne Soph.
265e) und
ihren kosmischen
Werken berichtet Platon im "Timaios". So hebt also Platon die Autonomie
menschlichen Handelns und die Relativität der Zwecke in eine
Verabsolutierung
des mit göttlichen Zügen ausgestatteten "Guten an sich" auf.
Denn "der Gott" (Nom. 716) und nicht "der Mensch" (Protagoras) ist das
Maß aller Dinge. /31/
In
den Spätdialogen "Sophistes", "Phaidros", "Politikos", "Philebos"
ist Platon zwar darum bemüht, den Zusammenhang zwischen der Idee
des
Guten und der Welt des Werdens herzustellen, was aber zur Reduktion der
empirischen Wirklichkeit auf feste Grundelemente führt, deren
Verhältnisse
unveränderbar sind. Grundlage bleibt dabei stets das höchste
göttliche Mass. Der Techne-Begriff erfüllt hier eine
andere,
nämlich eine methodische Funktion, während in den Früh-
und Mittleren Dialogen die Zielsetzung Platons war, die Notwendigkeit
eines
eigenen absoluten Gegenstandes der Arete, bzw. des Wissens um des
Guten,
mit Hilfe des Techne-Begriffs nachzuweisen. Nachdem Platon die
Pyramide
der Technai mit ihrem absoluten Ziel von unten nach oben aufgebaut
hatte,
widerlegt er jetzt die Sophisten ebenfalls mit dem Techne-Begriff
in ihrem eigentlichen Feld, nämlich in der Welt des Werdens, indem
er den umgekehrten Weg geht. /32/
II.
Die aristotelische Kritik des platonischen Techne-Begriffs und die
Begründung
der praktischen Philosophie
Es
ist das Verdienst des Aristoteles gewesen, durch eine genaue Analyse
und
Kritik des platonischen Techne-Begriffs zur Begründung der
praktischen Philosophie als eines eigenständigen Bereiches
beigetragen
zu haben. Er schlägt damit sozusagen einen Mittelweg zwischen dem
von Platon gewiß karikierten Formalismus und Relativismus der
Sophisten
und der Gegenposition einer Aufhebung der Ethik in einem theologischen
Diskurs ein. /33/
Diese
Kritik und die sich daraus ergebenden Konsequenzen kommen am
prägnantesten
in der Nikomachischen Ethik zum Ausdruck. Dort nämlich
unterscheidet
Aristoteles nicht nur die herstellenden von den theoretischen
Wissenschaften,
sondern er stellt das Wissen bezüglich der phronesis als
einen
gegenüber der sophia eigenständigen Bereich dar. Ein
solches
Wissen findet aber seine Erfüllung nicht in einem bloß
gewussten
oder im einem hergestellten Gegenstand, sondern im tugendhaften Handeln
(praxis). Schauen wir uns Aristoteles' Argumentation im
Einzelnen
an.
1.
Die Thesen
Aristoteles'
Grundposition ist nämlich die der Skepsis gegenüber der
metaphysischen
Supposition der "Idee des Guten". So gibt er im ersten Satz der
Nikomachischen
Ethik – durchaus im Einklang mit den
Sophisten – zu, dass
"jede
techne und jede
wissenschaftliche Untersuchung
(methodos),
ebenso alles Handeln (praxis) und Wählen (prohairesis),
nach einem Gut (agathou tinos), wie allgemein angenommen wird,
strebt"
(NE 1094 a 1-3) (34),
bestreitet
aber zugleich, dass von hier aus Rückschlüsse auf eine
einzige
"Idee des Guten" zu ziehen wären. In seiner Kritik der
platonischen
Position geht er einen Schritt weiter: auch im Falle der Annahme einer
solchen Prämisse wäre die conclusio in Frage zu
stellen,
denn, so Aristoteles wörtlich,
"selbst
wenn es 'das Gute' gäbe, das eines ist und in übergreifender
Weise ausgesagt wird oder das getrennt und an sich existierte, so ist
doch
klar, dass ein solches 'Gutes' durch menschliches Handeln (prakton)
nicht verwirklicht und auch nicht erreicht werden könnte. Nun ist
es aber doch gerade ein solches Gutes, das wir suchen." (NE 1096 b
31-35)
Damit
ist der platonischen Argumentation der Boden entzogen: die einzelnen technai
brauchen keineswegs die Erkenntnis des einen Guten beim Streben nach
ihrem
jeweiligen Zweck. Aristoteles führt in diesem Zusammenhang ein
weiteres
Argument ein:
"Es
ist wenig plausibel, dass die Vertreter der praktischen Künste (technites)
alle miteinander ein so bedeutendes Hilfsmittel ignorierten und sich
gar
nicht darum bemühten." (NE 1097 a 6-8).
Er vertraut,
mit anderen Worten, dem common sense einer scientific
community
vor allem gegenüber einem rein theoretischen und absoluten Wissen
als unmittelbare Schau des "Guten an sich", dessen konkreter Nutzen
für
den Arzt, den Feldherrn usw. nicht einzusehen ist. Daraus ergibt sich
also
die Möglichkeit und Notwendigkeit das Wissen der phronesis
und seiner Selbständigkeit und Eigenartigkeit gegenüber den
anderen technai sowie gegenüber einem rein theoretischen
Wissen herauszuarbeiten.
Leitfaden für die im VI. Buch der "Nikomachischen Ethik" (NE)
durchgeführte
Argumentation ist die Kritik des platonischen Techne-Begriffs.
Diese
Kritik umfasst folgende Aspekte:
a) Techne/poiesis
vs. phronesis/praxis
Aristoteles
schränkt den Techne-Begriff auf das Wissen bezüglich
der
Hervorbringung (poiesis) des Veränderlichen ein.
Demgegenüber
stellt er den Bereich menschlicher Handlungen (praxis), dessen
Wissen
die phronesis ist. Obwohl Aristoteles den praxis-Begriff
als das Wesen alles Lebendigen auffaßt, schränkt er hier
diesen
Begriff im Sinne einer spezifisch menschlichen Kategorie unter Bezug
auf
den logos ein. /35/
Die phronesis
zielt auf das "gute Leben" des
Menschen
"insgesamt" (holos
NE 1140 a 25). Die Bestimmung dieses allgemeinen Zieles erfolgt
einerseits
durch die ethische Tugend, andererseits (im Hinblick auf die Mittel)
durch
die Klugheit (NE 1144a). Der Irrtum des Sokrates, so Aristoteles
anschließend,
bestand darin, dass er die Tugenden zu besonderen Arten der Klugheit
machte – dass er sie also
intellektualisierte. Die Tugenden sind aber nicht
der
Vernunft untergeordnet, sondern mit ihr verbunden. Da es sich stets um
menschliche
Tugend handelt, bleibt das Thema der praktischen Philosophie, die
konkrete
Bestimmung des (sittlichen) Glücks also, auf das bezogen, was
für
den Menschen (individuell und politisch) jeweils erreichbar ist.
"Ein
kluger Mann", so Aristoteles, "scheint sich also darin zu zeigen, dass
er wohl zu überlegen weiß, was ihm gut und nützlich
ist,
nicht in einer einzelnen Hinsicht, z.B. in bezug auf Gesundheit und
Kraft,
sondern in bezug auf das, was das menschliche Leben insgesamt gut und
glücklich
macht." (EN 1140a 25) (meine Hervorhebungen) (ou kata meros, alla
poia pros to eu zen holos).
Mit dem
"insgesamt" unterscheidet sich Aristoteles von einem blossen
Relativismus
bzw. einer Auflösung der Sittlichkeit in den technai.
Gegenüber
Platon stellt er nicht die Kenntnis eines für den Menschen
"absoluten"
Guten, sondern das beratende Gespräch in bezug auf das, was im
Einzelfall
zur Entscheidung steht in seinem Bezug auf das "gute Leben" insgesamt,
und zwar gemäß der Tugend im Rahmen der erfassungsordnung
einer
auf Gleichheit beruhenden freien Bürgergemeinde (polis).
/36/
Mittel
und Wege zum "guten Leben" (eu zen) des Einzelnen und der Polis
stehen nicht von vornherein fest und sie können auch nicht von
einer
einzelnen techne bestimmt werden, sondern eben von der phronesis,
in Wechselwirkung mit den natürlichen Anlagen und den ethischen
Tugenden.
Diese aristotelische Lehre verbindet, wie Bien richtig
hervorhebt,
"in
genialer Weise dialektisch alle drei Momente (NE VI 13, 1144 a 6-1145 a
2). Die als Anlage vorhandene natürliche Tugend (1144 b 16) wird
allererst
durch den Hinzutritt der praktischen Vernunft in Form der Klugheit zur
eigentlichen Tugend (kyria areta). Diese Klugheit wird
ihrerseits
zu einem positiven rationalen Vermägen erst durch die ethische
Tugend". /37/
Technai
und epistemai – darunter vor allem "Politik" und
"Ökonomie" – bilden, so Aristoteles in
Anschluß an die Sophisten, die
Grundlagen
des beratenden ethisch-politischen Gesprächs. Zwischen dem
Einzelnen
und dem Staat (polis) tritt das Haus (oikos) als
Vermittlung
ein, wobei Aristoteles, gegenüber der Identifikation von Staat und
Haus bei Platon, die Unterschiede dieser Ordnungen, gerade in bezug auf
das gute Leben (eu zen), betont, ohne sie aber als
grundsätzliche
bzw. absolute Unterschiede aufzufassen. /38/
Ein
weiterer wichtiger Punkt bei dieser Unterscheidung zwischen phronesis
und techne ist, dass die technai ihr Ziel als ein
ausserhalb
ihrer liegendes Ergebnis ansehen, während das Ziel der sittlichen
Praxis (eupraxia) eben diese tugendhafte ethisch-politische
Praxis
selbst, bzw. selbstzweckhaft ist. Zur Erlangung dieses menschlichen
Zieles,
also des Praktisch-Guten (agathon prakton) dient nicht
bloß
ein erlernbares Fachwissen, sondern das beratende Gespräch und
zwar
in bezug auf den Einzelfall. Von hier aus ergeben sich die folgenden
Unterscheidungen.
b) phronesis
(sophrosyne): weder episteme
noch techne
Phronesis
oder sittliche Einsicht (sophrosyne) /39/,
kann
weder eine episteme noch eine techne sein: episteme
nicht, weil ihr Gebiet ein Veränderliches ist; techne auch
nicht, weil praxis und poiesis unterschiedliche
Gattungen
(genos) sind (NE 1140 b 4). Somit ist eine Wissenschaft des
Guten,
wie Platon sie als Maßstab für den Menschen fordert, nicht
möglich
oder sie ist eine metabasis eis allo genos.
c)
Die Vollendbarkeit der "techne" und die Unvollendbarkeit der phronesis
Eine techne
kann eine vollendete Stufe erreichen, die phronesis bleibt
immer
"relativ" auf den "Einzelfall" bezogen nämlich, d.h. sie hat
bescheidenere
Ziele. Damit setzt sich Aristoteles von einer rein formalistischen
sophistischen
Position einer Über-techne ab.
d)
Fehlerhaftigkeit bei den technai, nicht aber bei der phronesis
Bei
einer
"techne" können absichtlich oder unabsichtlich Fehler im Hinblick
auf den herzustellenden Gegenstand auftreten. Nicht aber bei der phronesis,
sowie bei den anderen Tugenden, weil es sich um eine Haltung handelt,
die
nicht in ihr Gegenteil umschlagen kann, ohne sich selbst zu leugnen (NE
1140 b 24-28) Auch hier hebt sich Aristoteles deutlich von den
Sophisten
ab.
e)
Vergessen und Erlernen von phronesis und techne
Schließlich
unterscheidet Aristoteles die phronesis von den technai dadurch,
dass sie nicht vergessen werden kann, dass sie also kein bloßes
erlernbares
Wissen, sondern eine menschliche "Anlage" ist, die sich aber erst in
der
gemeinsamen Beratung zu bewähren hat. Die natürliche Tugend
wird
erst in Verbindung mit der praktischen Vernunft zur eigentlichen
Tugend.
Und umgekehrt: erst durch die ethische Tugend wird die phronesis
zu einem unauflösbaren Moment der Tugend. Gegenüber der
einseitigen
sophistischen und platonischen Auffassung betont Aristoteles
"dass
es unmöglich ist, im eigentlichen Sinne tugendhaft zu sein, ohne
Klugheit,
noch klug ohne sittliche Tugend." (NE 1144 b 30-32).
2.
Schlußfolgerung: Die Begründung der praktischen
Philosophie
Aus
dieser
Argumentation ergibt sich, dass Aristoteles die phronesis
sowohl
von episteme und sophia – in Form des philosophischen
Weisen
- als auch von techne – in der Gestalt des Baumeisters
Phidias –
unterscheidet. Somit trennt er einerseits den Bereich der praktischen
von
dem der theoretischen Philosophie. Andererseits und darüber hinaus
trennt er das auf die Herstellung von Gegenständen bezogene Wissen
der technai von dem des sich in der Praxis selbst
verwirklichenden
sittlichen Wissen. Sofern die techne etwas bewirkt, ist sie
auch praxis, aber im Gegensatz zur sittlichen Bestimmung von praxis,
bleibt hier der Gegenstand losgelöst vom Handelnden. Die theoria
ist dann praxis im eigentlichen Sinne, d.h. Vollzug des
menschlichen
Daseins. Aristoteles bestimmt aber den Praxisbegriff im Sinne von
Lebensvollzug
auch in einem umfassenderen Sinne von Lebensvollzug aller Lebewesen
sowie
letztlich im Sinne von Bewegung überhaupt. Demnach handelt
lediglich
(der) Gott nicht. /40/
Sollte
der Mensch die Gegenstände der sophia verwirklichen
müssen,
dann müßte er "das höchstwertige Wesen im Weltall"
sein,
was er aber nicht ist (NE 1141 a 21-22). So beschränkt sich also
die phronesis auf die Suche dessen, was für den
Menschen gut ist
(NE 1141 b 8), und zwar, indem der Mensch die ethische Erfüllung,
das Glück also /41/, nicht in der
theoretischen
Kenntnis, sondern in der selbstzweckhaften Verwirklichung des für
ihn machbaren Guten (prakton agathon) findet. Demnach ist das
ethische
Wissen nicht mit einer techne oder mit einer episteme,
sondern
höchstens mit dem Wissen vergleichbar, das Leute mit "praktischer
Erfahrung" (oi empeiroi NE 1141 b 18) haben. Ethisch zu handeln
lernt man also, auf der Basis einer allgemeinen Anlage, aus Erfahrung
und
nicht aus einer übergeordneten Theorie. Und umgekehrt: das
höchste
Wissen ist ethisch neutral.
Ausblick
Zusammenfassend
läßt sich also sagen, dass für Platon das Ethische sich
in der intuitiven Erkenntnis des höchsten Gegenstandes,
metaphysisch
bzw. techno-theo-logisch verwirklicht, während es für
Aristoteles
im praktischen auf den Menschen bezogenen Handeln besteht. Somit ist
also
Aristoteles' Kritik der platonischen Ethikbegründung in ihrem Kern
nicht nur eine Kritik der Hypostasierung der Idee des Guten, sondern
zugleich
die Kritik einer intellektualistischen Position auf der Basis eines
letztlich
nur der Intuition zugänglichen, weil absolut aufgefaßten,
Gegenstandes.
Die begriffliche Grundlage der platonischen Ethik liegt in der
entsprechenden
Verabsolutierung des Techne-Begriffs, so dass genau an diesem Punkt die
aristotelische Kritik auch ansetzt und am schärfsten ist. Wenn
Aristoteles
die Handwerker (cheirotechnai) mit ausführenden
Verwaltungsbeamten
vergleicht (NE 1141 b 27-29), dann weil sie auf niedrigster Ebene ein
Wissen
vom Allgemeinen haben, das nicht mit der ethischen Praxis, etwa der
Beratung
und Entscheidung im Einzelfall in der Staatsführung (politike)
gleichgestellt werden kann.
Die
von Aristoteles vollzogene Trennung von theoretischer und praktischer
Philosophie
bedeutet nicht, dass der sittliche logos und der logos
der sophia völlig disparat wären, sondern
umgekehrt: die platonische
Identifikation beider Bereiche beruht auf einem intellektualistischen
die
menschliche Selbständigkeit aufhebenden Vorurteil. /42/
Was
das Gute ist, läßt sich aber nicht im voraus feststellen
bzw.
erkennen, sondern muß je in gemeinsamer Verabredung, wo also
jeder
das gleiche Recht hat, sich dazu zu äußern, gefunden werden.
Außerdem kann das "gute Leben" nicht beim Individuum, beim oikos
und bei der polis gleichmäßig verwirklicht werden.
Die
Theorie dieser Praxis ist weder mit der Schau des Guten, noch ist diese
Schau mit der sittlichen Praxis selbst zu verwechseln. In diesem Sinne
bemerkt Gadamer:
"Die
Frage nach dem Guten im Tun und Sein des Menschen findet das
menschliche
Dasein jeweils schon vor konkrete Aufgaben gestellt vor, innerhalb
deren
das, was jeweils das Gute ist, zu wählen ist. Nicht aus einer
allgemeinen
Idee des Guten (selbst wenn es sie gäbe) ist diese konkrete Frage
zu beantworten. Sofern das Handeln des Menschen immer im konkreten
Jetzt
einer Situation steht, ist freilich die Wahl des jeweils Guten
überhaupt
nicht durch eine (notwendig auf allgemeine und sich gleichbleibende
Seinsverhältnisse
beschränkte) Wissenschaft dem Handelnden abzunehmen." /43/
Die Frage
nach dem Guten stellt sich also immer vor konkreten Aufgaben bzw.
Wahlmöglichkeiten
und sie ist nicht aus einer allgemeinen Idee des Guten (selbst wenn es
sie gäbe) zu beantworten. Sofern das Handeln des Menschen immer in
einer Situation steht, ist diese Frage nicht durch eine theoretische
Wissenschaft
im Sinne eines notwendig auf ein allgemeines und sich gleichbleibendes
Seinsverhältnis bezogenen Wissens, zu beantworten; sie würde
nur dem Handelnden die Verantwortung für sein konkretes Tun
abnehmen. /44/ Pointiert formuliert läßt
sich also
die aristotelische Kritik so zusammenfassen: Weder müssen wir alle
weise sein um gut zu handeln, noch handeln alle Weisen, weil sie weise
sind, gut. Damit wird nicht der bios politikos gegen den bios
theoretikos ausgespielt, sondern dieses letztere, für Platon
und
Aristoteles ranghöchste Leben, stellt sich für Aristoteles
nicht
als Negation, sondern als Überbietung des dem sterblichen Menschen
Möglichen dar.
Angesichts
einer weder metaphysisch-hierarchisch noch modern-systematisch zu
überschauenden
Vielfalt von Fachdisziplinen in unserer wissenschaftlich-technisch
geprägten
Welt und angesichts der Notwendigkeit diese Vielfalt nicht einfach in
ihrer
bloßen Relativität walten zu lassen, da die Auswirkungen
eines
solchen sophistischen Weges bereits tödlich geworden sind, stellt
sich die ethische Frage immer dringender, wie man nämlich diese
Vielfalt
auf die offenen Ziele menschlichen Zusammenlebens insgesamt beziehen
kann.
Im Vordergrund steht dabei zum einen die (sophistische) Frage nach der
Wissensmitteilung - nach dem also, was wir heute Information nennen -
und
zum anderen der Zusammenhang dieses technischen und sozialen
Vermittlungsprozesses
mit der ethisch-politischen Verwirklichung einer weltumspannenden
Gemeinschaft.
Dass diese Frage wiederum weder losgelöst vom Menschen noch von
der physis, d.h. also, dass sie nicht bloß
anthropozentrisch, sondern
zugleich ökologisch gestellt und beantwortet werden
muß,
das macht unsere Nähe und unsere Ferne zu den Sophisten, zu Platon
und zu Aristoteles zugleich aus. Denn, wer würde heute dem Spruch
des Sophisten Antiphon nicht zustimmen, dass nämlich alle Menschen
gleich sind:
"Atmen
wir doch alle insgesamt durch Mund und Nase in die Luft aus und essen
wir
doch alle mit Hilfe der Hände?" (Diels, Fr. 44 B).
Vorausgesetzt,
wir haben alle etwas zu essen und wir können durch Mund und Nase
die
noch unverseuchte Luft atmen /45/. Die
Erörterung
dieser Fragen in der Antike ist heute aktueller denn je.