I. MENSCHENBILDER IN DER ANTIKE
Die
Auseinandersetzung
mit dem mythologischen Menschenbild, so wie es vor allem durch
die Homerischen Gesänge und in Hesiods
Götterlehre
tradiert wurde, steht zu Beginn der griechischen Philosophie in der
sog.
vorsokratischen Periode. Diese Auseinandersetzung gipfelt aber eine
Synthese,
nämlich die platonische, in der zugleich ein weiterer Streit mit
einem
anderen, wie wir heute sagen würden alternativen
Menschenbild
ausgetragen wurde, nämlich mit dem sophistischen. Es war
Protagoras,
der vielleicht am deutlichsten das sophistische Menschenbild zum
Ausdruck
brachte. So berichtet Platon:
"Er
(Protagoras) behauptet nämlich, der Mensch sei das Maß aller
Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht
sind." (Theät. 152a)
Dieser
berühmte, als "Homo-mensura-Satz" bekannte Ausdruck, bezieht sich
zunächst auf die Relativität menschlichen Wissens von der
immer
wechselnden Wahrnehmung. Er drückt aber zugleich die generelle
ethische
Haltung der Sophisten aus, nämlich die in den Augen Platons opportunistische
Hinwendung zu den jeweils als "gut" zu bezeichnenden Dingen, ohne die
Frage
nach dem "Guten an sich" oder nach der "Idee des Guten" zu stellen. Der
platonische Sokrates ist stets darum bemüht, die Ausweglosigkeit
("aporia")
einer solchen Haltung aufzudecken und so zumindest indirekt (vor allem
in den frühen und teilweise auch in den mittleren Dialogen) den
eigenen
Lösungsweg anzudeuten. Dass aber Protagoras' Satz mehr als eine
relativistischen
Menschenlehre bedeuten kann, unterstrich schon Hegel, der von
ihm
als einem "großen Satz" sprach, da dort zugleich "jeder nach
seiner
besonderen Partikularität, der zufällige Mensch" oder auch
"die
selbstbewußte Vernunft im Menschen" das (absolute) Maß sein
kann (6).
Für Platon
aber stand jenes eine
Gute auf dem Spiel, dessen Wissen erst die Bedingung der
Möglichkeit
der richtigen und "guten" Ordnung sowohl der eigenen Handlungen als
auch
der Gemeinschaft ("polis") darstelle. Er beschrieb ein Muster
("paradeigma")
der Harmonie einer solchen "politischen" Gemeinschaft, von dem er aber
zugleich sagte, dass es auf der Erde nirgendwo zu finden sei (Polit.
592
b). Eine "realistischere" Annäherung an diesen Staat für
"Götter
oder Göttersöhne" (Nom. 739 d) legte Platon in den "Nomoi"
dar,
wo er sogar eine dritte, noch niedrigere Annäherung in Aussicht
stellte
(Nom. 739 e). Bekanntlich scheiterte er bei einer sozusagen vierten,
diesmal
aber "wirklichen" Annäherung im sizilianischen Reich des
Dionysios.
Wie sehr Platon an die Macht der Mathematik und Geometrie bei der
Bildung
des menschlichen Geistes glaubte, zeigt z.B. der Bericht des Plutarch:
Als Platon nämlich in das Schloß des Tyranns kam und diesen
durch Wissenschaften und Philosophie zu beeinflussen suchte, dann war
das
Tyrannenschloß "wie es heißt, voll Sand, wegen der Menge
der
Leute, die Geometrie trieben", man pflegte nämlich geometrische
Figuren
in eine Sandschicht zu zeichnen (7).
Für Platon
war nicht der Mensch, sondern "der Gott" ("ho theos") das Maß
("metron")
aller Dinge (Nom. 716 c). Dieses Wissen des Guten als des Einen stellte
Platon der ungeordneten und "maßlosen" Vielfalt des sophistischen
Wissens gegenüber. Der Mensch war demnach nicht für die
Relativität
irdischer Güter, sondern, dank seiner unsterblichen Seele,
für die ewige Schau des Einen bestimmt. Es kam also alles darauf
an,
das "ungezügelte Roß" zu bändigen, um zum
"von-sich-aus-Waltenden
Schönen" ("ten tou kallous physin") zu gelangen (Phaidr. 254 b).
Diese
Begegnung wird folgendermaßen beschrieben:
"Dieses
erblickend fürchtet er sich (der Führer des Rosses, RC), und
von Ehrfurcht durchdrungen beugt er sich zurück und kann sogleich
nicht anders, als so gewaltig die Zügel rückwärts
ziehen,
dass beide Rosse (nämlich das weiße, besonnene und das
schwarze,
ungezügelte, RC) sich auf die Hüften setzen, das eine
gutwillig,
weil es nie widerstrebt, das wilde aber höchst ungern. Indem sie
nun
weiter zurückgehen, benetzt das eine vor Scham und Bewunderung die
ganze Seele mit Schweiß, das andere aber, ist nur erst der
Schmerz
vom Gebiß und dem Falle vorüber, hat sich kaum erholt, so
bricht
es zornig in Schmähungen aus, vielfach den Führer und den
Spanngenossen
beschimpfend, dass sie aus Feigheit und Unmännlichkeit Pflicht und
Versprechen verlassen hätten. (...) Hat nun das böse
Roß
mehrmals dasselbe erlitten und die Wildheit abgelegt, so folgt es
gedemütigt
des Führers Überlegung und ist beim Anblick des Schönen
von Furcht übermannt." (Phaidr. 254 b-e)
Dementsprechend
deutet Platon den berühmten Delphischen Spruch "Erkenne Dich
selbst"
("gnothi sauton") nicht im Sinne einer sophistischen Wissenschaft, die
sich selbst zum Gegenstand hat ("heautes"), sondern als jene
Selbsterkenntnis
("heautou"), deren Maß die "Idee des Guten" ist, wie Sokrates im
"Charmides" (165d-166d) ausführt.
Es
ist vor allem Aristoteles Verdienst gewesen, einen sozusagen
mittleren
Weg zwischen der sophistischen Beliebigkeit und der platonischen
Verabsolutierung
des Guten gefunden zu haben. Im 6. Buch der "Nikomachischen Ethik"
kritisiert
er nämlich nicht nur Platons intellektualistische, auf das Wissen
basierte Ethik, sondern er stellt auch die Notwendigkeit der Idee des
Guten
vor allem im Hinblick auf die menschliche sittliche "praxis" in Frage
(NE
1096 b 25). Der Mensch ist für Aristoteles ein sittliches Wesen,
und
dieser Bereich, nämlich der "phronesis", hat eine
Eigenständigkeit
sowohl gegenüber den allgemeinen Zielen des theoretischen Wissens
("episteme") als auch gegenüber denen der "poietischen" oder
herstellenden
Wissenschaften ("technai"). Der Mensch verwirklicht sich nämlich
in
seiner Menschlichkeit nicht etwa, indem er das Eine oder das
Göttliche
erkennt, sondern indem er über das Gute für sein Leben insgesamt,
in Gemeinschaft mit anderen nachdenkt und dieses auch tut
("praxis").
Gegenüber den fachbezogenen Überlegungen geht es hier um die
Einbeziehung partieller Erkenntnisinteressen auf das "gute Leben" ("eu
zen") als ein Ganzes. Dieses Ziel liegt aber nicht a priori fest,
sondern
muß von Fall zu Fall, gemäß der menschlichen
"areté",
neu beraten werden.
Es geht also nicht darum, eine "techne" des Guten
zu
entwickeln, um dadurch gut zu sein, sondern es geht darum, das
als
für den Menschen in der jeweiligen Situation erachtete Gute auch
zu
tun. So ist also der Weise ("sophos") nicht notwendigerweise gut, und
umgekehrt,
es ist nicht erst durch die Erkenntnis der "Idee des Guten", dass wir
sittlich
handeln. Durch diese Trennung von theoretischer und praktischer
Philosophie
leugnet aber Aristoteles keineswegs den "höheren Rang" des
göttlichen
Lebens im Menschen (NE X, 1177 b 25-31). Der Mensch soll sich aber
zunächst als Mensch verwirklichen – durch die Sprache
(als "zoon
logon echon")
und in Gemeinschaft mit anderen Menschen (als "zoon politikon") – bevor
er, dank des "nous", ein "übermenschliches" oder "göttliches
Leben" ("bios theios") erreichen kann. So entspricht also diese
praxeologische
Deutung des Menschen der substantiellen Auslegung der Seelenteile in
ihrem
Bezug zur Materie ("hyle") und zum Leib ("soma") in der Schrift "Peri
Psyches"
(Über die Seele).
Ein
Hinweis möge diesen exemplarischen Umriß griechisch-antiker
Menschenbilder abschließen. Er bezieht sich auf die Frage nach
der Sklaverei, die von Aristoteles im Zusammenhang mit dem
Unterschied
zwischen Griechen und Barbaren behandelt wird. Im 1. Buch der "Politik"
schreibt er über das Verhältnis von Herren und Sklaven im
Zusammenhang
mit der Hausverwaltung ("oikonomia") Folgendes:
"so
wie etwa für den Steuermann das Steuer ein unbeseeltes und der
Steuergehilfe
ein beseeltes Werkzeug (...), so ist auch für den Hausverwalter
der
Besitz im einzelnen ein Werkzeug zum Leben und im ganzen eine Sammlung
solcher Werkzeuge und der Sklave ein beseelter Besitz; jeder Diener ist
gewissermaßen ein Werkzeug, das viele andere Werkzeuge vertritt.
Wenn nämlich jedes einzelne Werkzeug auf einen Befehl hin, oder
einen
solchen schon voraus ahnend, seine Aufgabe erfüllen könnte,
wie
man das von den Standbildern des Daidalos oder den Dreifüßen
des Hephaistos erzählt, von denen der Dichter sagt, sie seien von
selbst zur Versammlung der Götter erschienen, wenn also auch das
Weberschiffchen
so webte und das Plektron die Kithara schlüge, denn bedürften
weder die Baumeister der Gehilfen, noch die Herren der Sklaven."
(Politeia
1253 b 33 - 1254 a 1)
Diese
Stelle gewinnt heute, vor allem angesichts der sog. Künstlichen
Intelligenz,
eine besondere Aktualität. Obwohl aber Aristoteles auf die
Möglichkeit
einer sklavenfreien Arbeit hinweist, unterscheidet er zwischen "Sklaven
von Natur", nämlich den "Barbaren" (Polit. 1252 b 9-11; 1285 a 20)
und durch "Konvention". Er ist aber zugleich darum bemüht, diesen
Unterschied – sowie den zwischen
naturgemäßer und
konventioneller
Adligkeit – ethisch zu relativieren und
ihn
schließlich auf den
Unterschied
"ausschließlich nach der Tugend oder Schlechtigkeit"
zurückzuführen
(Polit. 1255 b 1). Aufheben tut er ihn aber letztlich nicht (8).
Allerdings findet er Lobesworte für die allgemeine Menschenliebe
("philanthropia"),
die ein Teil jener Freundschaft ("philia") ist, die auch zwischen "fast
allen Lebewesen" herrscht:
"Man
kann auch in der Fremde erleben, wie nahe ein jeder Mensch dem anderen
steht und wie befreundet er ihm ist." (NE VIII 1155 a 16-23)
Es
ist
aber nicht diese "philantrophia", so der spätantike Gelehrte Aulus
Gellius, welche die Römer meinen, wenn sie von "humanitas"
sprechen,
sondern die griechische "paideia", also die Erziehung des Menschen in
den
Künsten ("artes") (9),
wodurch die Jugend, wie Cicero
schreibt, "ausgebildet wird" ("ad humanitatem informari") (Pro Archia
3).
Über diese Formung des griechischen und römischen Menschen
schreibt Werner Jäger:
"Humanismus
kommt von humanitas. Dieses Wort hatte spätestens seit
Varros
und Ciceros Tagen neben den hier nicht in Betracht kommenden
älteren
und vulgären Bedeutung des Humanitären noch einen zweiten
höheren
und strengeren Sinn: es bezeichnet die Erziehung des Menschen zu seiner
wahren Form, dem eigentlichen Menschsein. Das ist die echte griechische
Paideia, so wie ein römischer Staatsmann sie als Vorbild empfand.
Sie geht nicht von dem Einzelnen aus, sondern von der Idee." (10)
Allerdings
glaube ich, dass das der römischen "humanitas" zugrundeliegende
Menschenbild,
die "forma hominis" sozusagen, weder mit der griechischen "paideia" -
am
wenigsten mit der platonischen, in der "der Gott" das Maß aller
Dinge
darstellt - noch viel weniger mit der Vergöttlichung des Menschen
in der Renaissance oder gar mit dem schweren zum Teil
intellektualisierten
und historisierenden Humanitätsbegriff der Deutschen Klassik (etwa
bei Herder, Schiller, Goethe und W. v.
Humboldt)
gleichgestellt oder nivelliert werden kann. Es geht hier nicht
bloß
um eine – etwa mit Hilfe der
Lektüre
griechischer Dichter –
Vergeistigung
des urbanen Lebens. Der Ernst des Lebens soll durch eine
feinfühlige,
humorvolle, ja freche Haltung erleichtert und umgebildet
werden.
Vorbilder einer solchen "humanitas" finden wir z.B. in Ciceros Briefen,
in den Gedichten Catulls, Tibulls oder Ovids
sowie
in Horaz' Satiren. Nicht nur das sog. Hohe, sondern auch und
gerade
das "Niedrige", vom Hetären- bis zum Schalkhaften, gehört zum
Menschen, ja macht erst, nach dem berühmten Satz des Terenz:
"Ich
bin Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd" ("homo sum, humani nil a
me allienum puto") (Hautontim. 77)
seine
Menschlichkeit aus (11).
In
diesem Sinne muß Horaz' Diktum, welches die
Aufklärung
zu ihrem Motto machte, indem sie es in ihrem Sinne umdeutete,
verstanden
werden. Dieses Diktum, nämlich "sapere aude", steht in folgendem
Zusammenhang:
Angeregt durch die Lektüre Homers, empfiehlt Horaz seinem jungen
Freund
Lollius Maximus, sich rechtzeitig dem Studium der Weisheit
("sapientia")
zu widmen mit dem Ziel der der Mäßigung und
Selbstbeherrschung
("virtus"), am Musterbeispiel des in allen "hündischen Trieben"
("canis
immundos") erfahrenen Odysseus, und er mahnt ihn:
"Frisch
begonnen, ist halb gewonnen. Entschließ dich zur Weisheit
("sapere
aude")! Wage den Anfang! Wer ein neues Leben antreten will un den
ersten
Tag vertagt, der tut wie jener Bauer: er steht und wartet, bis der
Strom
abläuft; der aber fließt und flutet und wird in Ewigkeit
fluten." (12)
An
anderer
Stelle habe ich eine andere Übersetzung dieses Spruches
vorgeschlagen:
"Habe den Mut, gemeinsam mit anderen vor- und nachzudenken." (13)
Anfang
des 16. Jahrhunderts empfiehlt Melanchton den Studenten:
"Lest
des Aristoteles Ethik, lest Platos Gesetze und lest die Dichter"
und
er
beschließt seine Vorlesung mit der Formel:
"Sapere
audete - habt Mut zum Wissen!" (14)
Aber
bevor
wir zum 16. Jahrhundert kommen, müssen wir noch auf jenen zweiten
Gedankenkreis eingehen, der zum wesentlichen Bestandteil unseres
gemischten
oder mestizenhaften Menschenbildes gehört, nämlich zur
christlich-jüdischen
Tradition.
II.
MENSCHENBILDER DES MITTELALTERS UND DER RENAISSANCE
Die
alt-
und neutestamentlichen Ursprünge der christlich-jüdischen
Tradition
und ihre wesentlichen Bestandteile (göttliche Transzendenz,
Schöpfung
des Menschen als "Ebenbild Gottes", Leiblichkeit und Geistigkeit des
Menschen,
der Mensch als Mann und Frau, Sünde und Erlösung, das Gebot
der
Menschenliebe, Offenheit der Geschichte auf ihre absolute Zukunft hin
usw.)
sollen hier vorausgesetzt werden. Für das mittelalterliche
Menschenbild
möchte ich hier die Definition des Thomas von Aquin, also
das
thomistische Menschenbild darstellen. In diesem vereinigen sich
platonische
und aristotelische Elemente mit der christlich-jüdischen Tradition
zu einer großartigen Synthese.
Die
aristotelischen Elemente kommen vor allen in der Auffassung der Seele
("anima")
als "Entelechie" des Leibes zum Vorschein (Summa Theologica I, q.
75-89,
118-119). Es ist die eine Substanz, welche die psychischen
Funktionen – "anima vegetativa",
"sensitiva"
und "rationalis" oder
"intellectualis" – in sich vereinigt und die
Formung der "materia" bewirkt. Dadurch
verlieren
die beiden ersten Funktionen ihre Selbständigkeit, so dass eben
nur
eine Formung ("informatio") stattfindet. Denn es ist, so Karl
Rahner,
"streng
genommen der Mensch in einer eindeutig thomistischen Auffassung nicht
aus
einer Seele und einem Leib zusammengesetzt, sondern aus einer Seele und
der materia prima, die aufzufassen ist als das von sich her
gänzlich
potentielle Substrat des substantiellen Selbstvollzugs der "anima"
(ihre
"Information" in einem metaphysischen Sinne), die ihre Wirklichkeit der
passiven Möglichkeit der materia prima (sich selbst erleidend)
gibt,
so daß, was in dieser Potentialität an Akt (und
Wirklichkeit)
ist, eben die Seele ist." (15)
Dieser
"informatio materiae" im Sinne als eines metaphysischen
Wirkungsprozesses
entspricht im Erkenntnisbereich die "informatio sensus" und "informatio
intellectus possibilis", wobei unsere Erkenntnis in der Einheit eines
abstrahierenden
und sich auf die Anschauung rückbeziehenden Prozesses ("conversio
ad phantasmata") vollzieht.
Es
gibt keine unmittelbare Erkenntnis der "Ideen". Das unterscheidet uns
u.a.
von den Engeln. Wenn wir geistig zu erkennen versuchen,
Vorstellungsbilder
erzeugen, so ist der Grund dafür,
"dass
das Erkenntnisvermögen ("potentia cognoscitiva") dem
Erkenntnisgegenstand
entspricht. Deshalb ist der spezifische Gegenstand ("objectum
proprium")
des Intellekts des Engels, der gänzlich vom Körper
unabhängig
ist, die vom Körper unabhängige, geistige Substanz
("substantia
intelligibilis a corpore separata"), und durch diesen
Erkenntnisgegenstand
erkennt er die stofflichen Dinge. Der spezifische Gegenstand aber des
menschlichen
Intellekts, der mit einem Körper verbunden ist ("conjunctus
corpori"),
ist das Wesen ("quidditas") oder die Natur ("natura"), sofern sie in
körperlichem
Stoff ("in materia corporali") existiert, und durch die Natur solcher
sichtbaren
Dinge ("visibilium rerum") steigt er auch zu einer gewissen Erkenntnis
("aliqualem cognitionem") der unsichtbaren Dinge ("invisibilium
rerum")."
(ST I, q. 84, a. 7 c)
Im
ethischen
Bereich haben wir es mit einer Synthese aus aristotelischer Tugendlehre
mit platonischen und christlichen Elementen zu tun. So betont Thomas
nicht
in dem Maße wie Aristoteles die Selbstständigkeit der
praktischen
von der theoretischen Vernunft, sondern ist darum bemüht, beide,
also
die "ratio practica" und die "ratio speculativa", so zu
parallelisieren,
dass die menschlichen Güter im Hinblick auf ihr Fundament in dem einen
Gut bestimmt werden, so wie eben die Sätze der theoretischen
Vernunft
auf "durch sich selbst bekannten Prinzipien beruhen (ST I, q. 94, a.
2).
Nicht mehr aber gilt der Unterschied zwischen Sklaven und freien
Menschen
oder Barbaren, sondern die für alle Menschen gültige "lex
naturalis",
das Naturrrecht also, dessen Gebote Thomas wie folgt darstellt:
"Zuerst
wohnt dem Menschen nämlich die Neigung zu einem Guten entsprechend
der Natur inne, in er er mit allen Substanzen übereinkommt; sie
besteht
darin, dass jede Substanz die Erhaltung ihres Seins begehrt, wie es
ihrer
Natur entspricht. Dieser Neigung zufolge gehört zum Naturgesetz
solches,
durch das das Leben des Menschen erhalten wird, während das
Gegenteil
verboten wird. Zweitens wohnt dem Menschen eine Neigung inne, die
speziellerer
ist und der Natur entspricht, die er mit den anderen Lebewesen
gemeinsam
hat. Demzufolge zählt das zum Naturgesetz, "was die Natur alle
Lebewesen
gelehrt hat", so die Verbindung des Männlichen und des Weiblichen,
die Aufzucht der Nachkommen und ähnliches. In einem dritten Sinn
wohnt
dem Menschen die Neigung zum Guten entsprechend der Vernunftnatur inne,
die ihm eigentümlich ist: So neigt der Mensch von Natur aus dazu,
die Wahrheit über Gott zu erkennen, und dazu, in Gesellschaft zu
leben.
Und demzufolge gehört zum Naturgesetz das, was sich auf eine
derartige
Neigung bezieht: So z.B. dass der Mensch Unwissenheit meiden soll, dass
er andere, mit denen er verkehren muß, nicht kränken soll
und
anderes dergleichen, was sich darauf bezieht." (ST I, q. 94, a. 2c) (16)
Natürlich
sollte nicht vergessen werden, dass die Sklaverei tatsächlich in
vielen
Ländern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts andauerte und dass sie
auch heute noch unter dem Deckmantel des Wirtschaftskolonialismus
praktiziert
wird.
Die
Formung der "materia" und der Erkenntnis entspricht auch eine Formung
("informatio")
im moralischen Sinne, wobei Thomas neben den natürlichen auch die
theologischen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) als Wirkungsprinzipien
mit einbezieht (17).
Der
platonische Einfluß kommt dort besonders zum Ausdruck, wo Thomas
den Menschen als ein Wesen "in confinio" definiert, an der Grenze
zwischen
den körperlichen und den "getrennten Substanzen" oder Engeln. In
Anschluß
an die Engellehre des Dionysios Areopagita sieht Thomas den
Menschen
sozusagen als niedrigste Stufe der Engel:
"Die
Natur der Seele erreicht in ihrem Höhepunkt die untere Grenze der
Natur der Engel" (I Sent. d.3, q.4, a.1 ad 4)
Wo
fängt
die Renaissance an? Vielleicht schon im 13. Jahrhundert? oder sollte
man
weniger von einer Re-naissance, also einer Wiedergeburt, sondern von
einem
Weiterleben der Antike sprechen – bis heute? Es ist
vielleicht so,
dass
die komplexe Bewegung, die man mit dem Begriff "Säkularisation"
zusammenfaßt,
die Antike deutlicher zum Vorschein kommen läßt (18).
Ein
wesentliches Kennzeichen des Menschenbildes in der Renaissance ist die Vergöttlichung
des Menschen. So schreibt Marsilio
Ficino
in seiner "Theologia platonica", dass der Mensch
"beinahe
denselben Genius besitzt wie der Schöpfer der Himmel, und auch
irgendwie
Himmel machen könnte, wenn wer nur die Werkzeuge und das
himmlische
Material erlangen könnte, da er sie sogar schon jetzt macht, wenn
auch aus anderem Material, aber doch in einer sehr ähnlichen
Ordnung." (19)
Das
bedeutet
zugleich eine starke Betonung der menschlichen Autonomie. Der Mensch,
so
erklärt Pomponatius,
"fürchtet
nichts und hofft nichts, bleibt aber in Glück und
Mißgeschick
derselbe." (20)
Der
Mensch
spürt die Macht der ihn bedingenden Natur. Er sieht sich als ein
stoischer
Mensch, dessen Handlungsmöglichkeiten nur beschränkt sind.
Darüber
schreibt Machiavelli:
"Es
ist eine unumstößliche Wahrheit, die die ganze Geschichte
bezeugt,
dass die Menschen das Schicksal zwar befördern, nicht aber
aufhalten
können. Sie können seine Fäden spinnen, nicht aber
zerreißen.
gleichwohl dürfen sie sich ihm nie überlassen. Da sie seine
Absicht
nicht kennen und es krumme und unbekannte Wege geht, müssen sie
immer
hoffen und im Hoffen sich nie ergeben, in keiner Lage und keiner Not."
(21)
Jesus
und Sokrates sind, wie Agnes Heller mit Recht betont (22),
gemeinsam das sittliche Vorbild der Renaissance: beide sind in dieser
Einheit
zwar Vorbilder, aber menschliche, d.h. sie verlieren die Aura
der Weisheit oder Göttlichkeit und werden zum
Lebensweg
für jedermann. Eine großartige Verkörperung dieses
Ideals
finden wir in Michelangelos David. Das am meisten
charakteristische
Motiv dieses Menschenbildes in der Renaissance ist wahrscheinlich die Parallelität
von Mikrokosmos und Makrokosmos, das in Nikolaus Cusanus
Begriff
der "coincidentia oppositorum" gipfelt. Der Mensch soll in Gott
eingehen:
"Die
Kindschaft (Gottes) ist also das Aufheben aller Andersheit und
Verschiedenheit
und das Aufgehen ("resolutio") von allem in einem, was zugleich Ein-
und
Übergehen ("transfusio") eines Einen in alles ist." (23)
Neben
dem spekulativen und dem ethischen Leben gehört auch die Welt der
Arbeit zum Menschenbild der Renaissance. So schreibt Pomponatius
über das Ziel der Glückseligkeit:
"Jedermann,
der dieses gemeinsame Ziel anstrebt, muß über drei Arten des
Intellekts verfügen: über den theoretischen, den praktischen
oder operativen und schließlich den produktiven. In jedem
Menschen
ist etwas von diesen drei Intellekten vorhanden, sofern er gesund und
entsprechenden
Alters ist (...) Was den produktiven Intellekt anbelangt, dieser ist
offenbar,
denn kein Mensch könnte sich am Leben halten ohne ihn; da der
Mensch
ohne mechanische und lebensnotwendige Sachen nicht beharren kann." (24)
Die
Parallelität
zur aristotelischen "techné" ist offensichtlich: Der Mensch der
Renaissance gehört zu dem seit der griechischen Antike waltenden
"zweiten
Stadium der Technik", nämlich zur "Technik des Handwerkers", wie
José
Ortega y Gasset diese Periode, die sich bis zum 19. Jahrhundert
erstreckt,
nennt (25). Allerdings sind
die Verallgemeinerung
der
Arbeit als zum Wesen des Menschen gehörig und die daraus
entstehenden
gesellschaftlichen Utopien (Thomas Morus, Tommaso Campanella)
ein Novum gegenüber Antike und Mittelalter. So schreibt
Pomponatius:
"Die
ganze menschliche Art ist wie ein einzelner Körper, bestehend aus
verschiedenen Gliedern, mit verschiedenen Funktionen, die sich in das
einheitliche
Ganze der menschlichen Art einordnen." (26)
Und
Thomas
Morus artikuliert die Hierarchie menschlicher Tätigkeiten in
ihrem
Verhältnis zu sich selbst sowie zur Natur
folgendermaßen:
"Bei
der ersten Art will man seine eigene Macht in seinem Vaterlande
vermehren;
das ist die gemeine und niedrige Art; bei der zweiten soll die Macht
und
Herrschaft des Vaterlandes über das menschliche Geschlecht
erhöht
werden; diese Art hat größeren Wert, aber auch
größere
Begierden. Will dagegen jemand die Macht und Herrschaft des
menschlichen
Geschlechts selbst über die Natur erneuern und erweitern, so ist
diese
Art des Ehrgeizes, wenn man ihn so nennen kann, gesünder und edler
als alle anderen." (27)
Die
Hierarchie
der produktiven Tätigkeiten gipfelt ihrerseits im Ideal des
Künstlers,
der wiederum die Tätigkeit des "höchsten Künstlers", wie
Pico della Mirandola schreibt, nachahmt und so seine
Gottwerdung,
wenn auch nur mit irdischem Material, vollzieht (28).
Jetzt
also, in der Renaissance, kommt der Mensch als Gattung in den
eigentlichen
Blick der philosophischen Betrachtung und schafft somit die
Möglichkeit
einer philosophischen Anthropologie (29).
Allerdings
wird die etwa im 17. Jahrhundert beginnende Moderne einen
Schritt
weiter gehen und den Menschen von der Natur lösen und die Natur desanthropomorphisieren.
Freilich sind die Übergänge diesbezüglich, wie auch im
Hinblick
auf die damit zusammenhängende Desanthropozentrierung
fließend (30).
III. MENSCHENBILDER DER MODERNE
Oft
wird
auf den französischen Denker René Descartes als den
"Vater der Moderne" und seine Fiktion der "res cogitans", der
"denkenden
Sache", hingewiesen, als die er den Menschen einstuft (31).
Dabei handelt es sich aber nicht um eine intellektualistische
Auffassung
des Menschen. Descartes stellt sich den Menschen auch nicht als einen
denkenden
Automaten vor, sondern es soll sich um ein Kompositum aus einem
Automaten,
dem Körper, und einer "denkenden Sache" ("res cogitans").
Charakteristisch
für den Menschen gegenüber einem Automaten ist die
Fähigkeit
mittels der Sprache einem anderen Menschen seine Gedanken mitzuteilen.
Er kann, dank der Universalität seiner "ratio", die jeweilige
Situation
überschreiten und seine Gedanken über die Dinge mitteilen.
Nur
der Mensch kann für seine Handlungen verantwortlich gemacht
werden.
Tiere und Maschinen sind "ethos-frei" (32).
Von
hier
aus sind sowohl die spiritualistischen als auch die materialistischen
oder
mechanistischen Menschenbilder der Moderne verständlich und erst
möglich.
So verwirft z.B. La Mettrie den Dualismus des Descartes und
entwirft
den Menschen von Grund auf als eine Maschine (33).
Vor
diesem Hintergrund wenden wir uns nun der "Anthropologie" des Immanuel
Kant zu. In der "Vorrede" unterscheidet er zwischen
"physiologischer"
und "pragmatischer" Anthropologie. Die physiologische bezieht sich auf
das,
"was
die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als
freihandelndes Wesen, aus sich selber macht oder machen kann und soll."
(34)
Da
wir
nur die Erscheinungen und nicht die wahren Absichten der Natur erkennen
können, erteilt Kant eine Absage an die physiologische
Anthropologie:
"Wer
den Naturursachen nachgrübelt, worauf z.B. das
Erinnerungsvermögen
beruhen möge, kann über die im Gehirn zurückbleibenden
Spuren
von Eindrücken, welche die erlittenen Empfindungen hinterlassen,
hin
und her (nach dem Descartes) vernünfteln; muß aber dabei
gestehen:
daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer
Zuschauer
sei, und die Natur machen lassen muß, indem er die Gehirnnerven
und
Fasern nicht kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner
Absicht
versteht: mithin alles theoretische Vernünfteln hierüber
reiner
Verlust ist." (35)
Zumindest
bezüglich der "Handhabung" müßte diese Aussage heute im
Zeitalter der Biotechnologie in Frage gestellt werden. Außerdem
hat
Kant selbst mit seiner Affektenlehre, Temperamentenlehre, Physiognomik,
Geschlechterlehre, "Rassenlehre" usw. auch zur "physiologischen"
Anthropologie
beigetragen.
Die
Anthropologie in "pragmatischer" Absicht, also das, was der Mensch "aus
sich selber macht" bezieht sich auf jene "Erkenntnis des Menschen als
Weltbürgers",
die nicht a priori noch durch naturwissenschaftliches Experimentieren,
sondern nur durch die Mittel der Erfahrung, wie etwa "das Reisen", und
"sei es auch nur das Lesen von Reisebeschreibungen" erweitert werden
kann.
Diese Erweiterung soll aber nicht im Sinne eines "fragmentarischen
Herumtappens",
oder als einer bloßen Akkumulation empirischen Wissens
mißverstanden
werden, sondern sie fängt an mit der Bildung einer
"Generalkenntnis"
und zwar "vorher zu Hause, durch Umgang mit seinen Stadt- und
Landgenossen",
oder auch durch Hilfsmittel wie "Weltgeschichte, Biographien, ja
Schauspiele
und Romane". Erst dann kann die "durch Philosophie geordnete und
geleitete
"Lokalkenntnis" eine Wissenschaft "abgeben".
Welche
Bedeutung Kant einer Philosophie oder Anthropologie in
"weltbürgerlicher"
Hinsicht beimaß, geht aus der folgenden Stelle hervor:
"Das
Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung
läßt
sich auf folgende Fragen bringen:
1)
Was kann ich wissen?
2)
Was soll ich tun?
3)
Was darf ich hoffen?
4)
Was ist der Mensch?
Die
erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die
dritte
die Religion, und die vierte die Anthroplolgie. Im Grunde könnte
man
aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten
Fragen
auf die letzte beziehen." (36)
Man
muß
nach Kant die Anthropologie im weiteren Sinne oder in ihrer
Gleichsetzung
mit Philosophie in "weltbürgerlicher" Bedeutung, von jener
Anthropologie
im engeren Sinne unterscheiden, die "aus bloßen
Erfahrungserkenntnissen"
hervorgeht. Letztere unterscheidet sich wiederum von einem "Ideal der
Menschheit
in ihrer moralischen Vollkommenheit" (37).
Für
Kant ist der Mensch ein
"Sinnenwesen,
d.i. als Mensch (zu einer der Tierarten gehörig); dann aber
auch als Vernunftwesen (nicht bloß vernünftiges Wesen, weil
die Vernunft nach ihrem theoretischen Vermögen wohl auch die
Qualität
eines lebendigen körperlichen Wesen sein könnte) welches kein
Sinn erreicht und das sich nur in moralisch-praktischen
Verhältnissen,
wo die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit sich durch den
Einfluß
der Vernunft auf den innerlich gesetzgebenden Willen offenbar macht,
erkennen
läßt." (38)
Interessant
an dieser Stelle ist, dass neben der Unterscheidung zwischen dem
Menschen
als "Sinnenwesen" und "Vernunftwesen" Kant auch von einem "vernünftigen
Wesen" oder einem "vernünftigen Naturwesen" spricht,
und
dass er die Qualität der theoretischen Vernunft als die eines
(nicht
nur menschlichen) "körperlichen Wesens" betrachtet. Es kommt, wie
er anschließend schreibt, der Mensch als "vernünftiges
Naturwesen"
noch nicht "in Betrachtung", sondern eben erst durch die Freiheit. Was
wäre sonst dieses "vernünftige Naturwesen" Mensch, der seine
Handlungen unter der Leitung der theoretischen Vernunft lediglich in
der
"Sinnenwelt" verrichten kann, ohne die Fähigkeit zu sittlichen
Handlungen,
was wäre dieses Wesen anderes als der Kantische Begriff von künstlicher
Intelligenz?!
Wie
sehr Kant den Menschen von seiner moralischen Seite her, als "Person"
auffaßt,
kommt z.B. in seiner Kritik der christlichen Vorstellungen von der
Auferstehung
des Fleisches sowie der Himmelfahrt zum Ausdruck. Diese Vorstellungen
läßt
Kant "bloß als Vernunftideen" gelten. Es sei nämlich
unmöglich,
"sich eine denkende Materie verständlich zu machen", worunter wohl
der Mensch "dem Geiste nach" oder "als Person" gemeint ist, im Sinne
also
des "Materialism der Persönlichkeit des Menschen", welche diese
nur
unter der Bedingung des Körpers gelten läßt.
Während
die Hypothese des "Spiritualismus", wonach die Körper
"vernünftiger
Weltwesen" tot in der Erde bleiben und dieselbe Person zum Sitz der
Seligen
gelangen könne, günstiger sei. Und er fügt hinzu:
"Unter
der letztern Voraussetzung (der des Spiritualismus) aber kann die
Vernunft
weder ein Interesse dabei finden, einen Körper, der, so
geläutert
er auch sein mag, doch (wenn die Persönlichkeit auf der
Identität
derselben beruht) immer aus demselben Stoffe, der die Basis
seiner
Organisation ausmacht, bestehen muß, und den er selbst im Leben
nie
recht lieb gewonnen hat, in Ewigkeit mit zu schleppen, noch kann sie
es
sich begreiflich machen, was diese Kalkerde, woraus er besteht, im
Himmel,
d.i. in einer anderen Weltgegend soll, wo vermutlich andere Materien
die
Bedingungen des Daseins und die Erhaltung lebender Wesen ausmachen
möchten." (39)
Kants
"Anthropologie" wendet sich dem, was der Mensch als "freihandelndes
Wesen
aus sich selber macht oder machen kann und soll" der menschlichen
Geschichte
zu ohne sie freilich als Geschichts- philosophie zu verstehen. Die
Romantik
hingegen, zum Beispiel bei Schelling, strebt zu einem
Menschenverständnis
von dem aus, was die Natur aus ihm macht. Die Anthropologie wird zur
Naturphilosophie.
Am Schluß seiner Abhandlung "Über das Wesen der menschlichen
Freiheit" schreibt Schelling:
"Nur
der Mensch ist in Gott, und eben durch dieses In-Gott-Sein der Freiheit
fähig. Er allein ist ein Zentralwesen und soll darum auch im
Centro
bleiben. In ihm sind alle Dinge erschaffen, so wie Gott nur durch den
Menschen
auch die Natur annimmt und mit sich verbindet. Die Natur ist das erste
oder alte Testament, da die Dinge noch außer dem Centro und daher
unter dem Gesetze sind. Der Mensch ist der Anfang des neuen Bundes,
durch
welchen als Mittler, da er selbst mit Gott verbunden wird, Gott (nach
der
letzten Scheidung) auch die Natur annimmt und zu sich macht. Der Mensch
ist also der Erlöser der Natur, auf den alle Vorbilder
derselben
zielen (...) Wir haben eine ältere Offenbarung als jede
geschriebene,
die Natur. Diese enthält Vorbilder, die noch kein Mensch gedeutet
hat, während die der geschriebenen ihre Erfüllung und
Auslegung
längst erhalten haben." (40)
Für
den Philosophen Odo Marquard bestimmt sich die philosophische
Anthropologie
in der Moderne aus de Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie
(41).
Das heißt, die Hinwendung zur Geschichte bedeutet die Abkehr von
einer Wesensdeutung des Menschen, und umgekehrt. So vollzieht Hegel
in seiner Auseinandersetzung mit der Romantik eine "Degradierung der
Anthropologie"
(Marquard). Hegel opfert sozusagen den Menschen der Geschichte des
absoluten
Geistes, die letztlich eine Betätigung der "ewigen an und für
sich seiende Idee" ist. Die "Anthropologie" hat als Gegenstand in
Hegels
"Enzyklopädie" die "natürliche, fühlende und wirkliche"
Seele. Die Seele, das Bewußtsein und der Geist bilden die drei
Sphären
der "ersten Abteilung der Philosophie des Geistes" ("Der subjektive
Geist").
Ihr folgen "Der objektive Geist" und "Der absolute Geist". Hegel
schreibt:
"Das
erste in der Anthropologie ist die qualitativ bestimmte, an ihre
Naturbestimmungen
gebundene Seele (hierher gehören z.B. die Rassenunterschiede). Aus
diesem unmittelbaren Einssein mit ihrer Natürlichkeit tritt die
Seele
in den Gegensatz und Kampf mit derselben (dahin gehören die
Zustände
der Verrücktheit und des Sonambulismus). Diesem Kampf folgt der
Sieg
der Seele über ihre Leiblichkeit, die Herabsetzung dieser
Leiblichkeit
zu einem Zeichen, zur Darstellung der Seele." (42)
Anthropologie
ist höchstens "physiologische Anthropologie" im Sinne Kants. Den
gegenteiligen
Versuch, nämlich Geschichtsphilosophie auf Anthropologie
zurückzuführen,
unternimmt Dilthey, indem er von einer unveränderlichen
Natur
des Menschen ausgeht (43). Vor
diesem Hintergrund,
so Marquard, haben "Weltanschauungen" und "Menschen- bilder " nur die
Funktion
der Explikation jener "immerbleibenden Natur" (44).
Wo
aber Menschenbilder nicht "expliziert oder proklamiert" (Marquard)
werden,
sondern, wie anfangs angedeutet, relativiert, dort öffnet sich
vielleicht
die Möglichkeit einer zumindest praktischen Vermittlung zwischen
Anthropologie
und Geschichtsphilosophie. Der Weg dazu verläuft über die
Kritik
der idealistischen Anthropologie und Geschichtsphilosophie im
Marxismus,
vorbereitet durch den anthropologischen Materialismus Ludwig
Feuerbachs,
sowie über Nietzsches und Heideggers
Metaphysik-Kritik.
Dabei nimmt die philosophische Anthropologie in ihrer
Auseinander- setzung
mit den Wissenschaften vom Menschen verschiedene Gestalten an. Es ist
nämlich
jetzt im 19. und 20. Jahrhundert, dass diese Wissenschaften zur
Blüte
kommen. Ich erinnere nur an Darwins Evolutionstheorie, an Freuds
Psychoanalyse
sowie an die Sozialwissenschaften. Wir sahen, dass Kant die
"physiologische"
Anthropologie von der "pragmatischen" trennt, wodurch sich also ein
Nebeneinander
von philosophischer und naturwissenschaftlicher Bestimmung des Menschen
ergibt. Dieses Nebeneinander hat auch seine Entsprechung in Diltheys
Trennung
zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Der Deutsche Idealismus
versucht
seinerseits, die Wissenschaften philosophisch zu vereinnahmen. Eine
dritte
alternative, nämlich die philosophische Anthropologie zu einer
naturwissenschaftlichen
zu "erheben", ist die des Marxismus. So schreibt Karl Marx in
den
"Ökonomisch-philosophischen Manuskripten":
"Der
Mensch ist der unmittelbare Gegenstand der Naturwissenschaft; denn die
unmittelbare sinnliche Natur für den Menschen ist unmittelbar die
menschliche Sinnlichkeit (ein identischer Ausdruck), unmittelbar als
der
andre sinnlich für ihn vorhandene Mensch; denn seine eigene
Sinnlichkeit
ist erst durch den anderen Menschen als menschliche Sinnlichkeit
für
ihn selbst. Aber die Natur ist der unmittelbare Gegenstand der
Wissenschaft
vom Menschen. Der erste Gegenstand des Menschen – der Mensch – ist
Natur,
Sinnlichkeit, und die besonderen menschlichen sinnlichen
Wesenskräfte,
wie sie nur in natürlichen Gegenständen ihre
gegenständliche
Verwirklichung, können nur in der Wissenschaft des Naturwesens
überhaupt
ihre Selbsterkenntnis finden. Das Element des Denkens selbst, das
Element
der Lebensäußerung des Gedankens, die Sprache ist sinnlicher
Natur. Die gesellschaftliche Naturwissenschaft oder die natürliche
Wissenschaft vom Menschen sind identische Ausdrücke." (45)
Schopenhauer
wird sich darum bemühen, seine Willensmetaphysik, deren
Ansatzpunkt
der menschliche Wille ist, mit den Ergebnissen der Naturwissenschaften
in
Einklang zu bringen. Weder gegenseitige Vereinnahmung noch bloße
Identifikation also.
Das
vielleicht großartigste Lied auf die Natürlichkeit des
Menschen,
und zwar über die naturwissenschaftlichen und metaphysischen oder
moralischen Bestimmungen hinaus ist Nietzsches Lehre vom
(Über-) Menschen.
In der "Götzen-Dämmerung" schreibt er:
"Fortschritt
in meinem Sinne. - Auch ich rede von "Rückkehr zur Natur", obwohl
es eigentlich nicht ein Zurückgehen, sondern ein Hinaufkommen ist
- hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und
Natürlichkeit,
eine solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen darf..." (46)
IV. MENSCHENBILDER DER
GEGENWART
Die
Hinwendung zum Menschen im Sinne einer philosophischen Fundierung der
Wissenschaften
vom Menschen kommt vor allem in Husserls Begriff der
"Lebenswelt"
zum Vorschein. An Husserls Frage nach einer Fundierung der
"Regionalontologien"
knüpft Heideggers "Sein und Zeit" an. Die
"Fundamentalontologie"
ist zwar eine "existenziale Analytik des Daseins", diese ist aber nur
der
"Ausgang" im Hinblick auf das eigentliche Ziel, nämlich die
"Ausarbeitung
der Seinsfrage". Indirekt leistete Heidegger damit eine Kritik der
Deutung
des Descartes und der metaphysischen Deutung des Menschen, indem er den
"Unterschied des Seins des existierenden Daseins gegenüber dem
Sein
des nichtdaseinsmäßigen Seienden" hervorhob (47).
Die Bestimmung des Menschen vom Sein her hat u.a. zur Folge, dass der
Mensch
nicht primär als Gattungswesen ("animal") mit einer spezifischen
ontischen
Differenz ("rationale") aufgefaßt werden soll. Wenn menschliches
Sein als Existenz nicht von der Seiendheit her ausgelegt wird, sondern
diese von jener aus, dann heißt das, dass
"anthropologisch-psychologische
Erkenntnis" nicht ausreicht, "ständig das Problem der Existenz des
Daseins – und das heißt seiner
Endlichkeit – im Blick zu halten,
was durch die leitende Problematik der Seinsfrage gefordert wird."
(48).
Das ist auch der Grund, warum Heidegger den Titel "Anthropologie" oder
"Humanismus" ablehnt.
Der Humanismus in den verschiedenen Varianten als
römischer, Renaissance-, christlicher, marxistischer oder
existentialistischer
Humanismus oder als Humanismus der deutschen Klassik verdeckt
buchstäblich,
so Heidegger, den Bezug des Menschen zum Sein (49).
Es ging also Heidegger nicht – wie etwa Sartre (50) – um das Primat der
menschlichen Existenz, sondern um die Dezentrierung
eben dieser Existenz. Dies gerade deshalb, weil sie keinen Grund (mehr)
findet, weder in sich selbst noch in einem anderen. Diese Erfahrung des
Abgrundes oder der Endlichkeit unseres Existierens deutet auf einen
Bereich
hin, der uns ständig "be-stimmt" und zwar bis in unsere ontischen
Möglichkeiten hin.
Es
war der Schweizer Psychiater Medard Boss, der diese Einsichten
der
Heideggerschen Auslegung des Menschseins für die Psychoanalyse
oder,
wir er sie in Anschluß an Heidegger nannte, Daseinsanalyse
fruchtbar machte (51). Auch der französische Psychoanalytiker
Jacques
Lacan schöpfte aus der Heideggerschen und Gadamerschen
Hermeneutik
in der Verknotung der symbolischen, imaginären und realen Ordnung,
meint doch die letztere genau jenen "ab-gründigen Gegenstand" oder
die nicht erfüllbare Dimension des Begehrens.
Wenn
also die philosophische Frage nach dem Menschen im 20. Jahrhundert
immer
akuter wird, dann werden zugleich jene anderen Wissenschaften vom
Menschen
("Anthropologien") zahlreich, die den Menschen zum Gegenstand
einzelwissenschaftlicher
Untersuchungen machen. Ein Zeugnis dieses Nebeneinanders
philosophischer
und einzelwissenschaftlicher Anthropologie ist das von H.-G. Gadamer
und P. Vogler herausgegebene siebenbändige Werk "Neue
Anthropologie" (52). Bei den
Einzelwissenschaften
handelt
es sich um
Beiträge zur "biologischen Anthropologie", "Sozialanthropologie",
"Kulturanthropologie" und "Psychologischen Anthropologie". Hier tritt
die
"Philosophische Anthropologie" neben den Einzelwissenschaften in einem
sich gegenseitig relativierenden und auf die Praxis orientierenden
Gespräch
auf. Gadamer schreibt:
"Ein
'richtiges' Menschenbild, das ist vor allem ein durch
Naturwissenschaft,
Verhaltensforschung, Ethnologie wie durch die Vielfalt geschichtlicher
Erfahrung entdogmatisiertes Menschenbild. Es wird der klaren normativen
Profilierung bar sein, wenn sich wissenschaftliche Anwendung desselben
auf die Praxis, etwa im Sinne des "social engineering" (soziale
Neuordnung)
stützen möchten. Aber es ist ein kritisches Maß, das
das
Handeln des Menschen von vorschnellen Wertungen und Abwertungen befreit
und seinen Zivilisationsweg an sein Ziel erinnern hilft, der – sich
selbst
überlassen – weniger und weniger ein Weg
zur
Beförderung der
Humanität zu werden droht. So dient die Wissenschaft über den
Menschen dem Wissen des Menschen von sich selbst und damit der Praxis."
(53)
Der
durch
die moderne Biologie herausgestellte strukturelle Zusammenhang von
Organismus
und Welt, etwa in der Deutung des Menschen und anderer Lebewesen als
"autopoietischer",
durch Selbstorganisation gekennzeichneter Systeme (H. Maturana, F.
Varela) (54), weist auf
neue Wege
etwa für
die Erörterung des Leib-Seele-Problems hin, aber auch auf die
Frage
nach der Entstehung des (menschlichen) Lebens. Das in diesem
Zusammenhang
sich entwickelnde Gespräch mit der Philosophie (Stichwort:
Evolutionäre
Erkenntnistheorie) (55) zeigt,
dass klassische,
Positionen
der philosophischen Anthropologie, wie etwa Dualismus oder Apriorismus,
weiterhin zum Argumentationskern bei der Erörterung dieser Fragen
gehören.
Es
genügt, an Jürgen Habermas zu erinnern, um die tiefe
Verschmelzung
von Philosophie – vor allem in ihren
emanzipatorischen,
transzendentalen,
kritisch-rationalistischen und lebensweltlichen Ansätzen – und
Sozial- wissenschaftlichen
zu dokumentieren. Die klassische Bestimmung des Menschen von der
Sprache
her bietet sozusagen den geheimen Mittelpunkt der Frage nach dem
Menschen
im 20. Jahrhundert. Davon zeugt u.a. die Zusammenkunft von Philosophie
und Sprachwissenschaft, sei es in der Logik (Russel, Whitehead),
in der Analytischen Philosophie (Wittgenstein) oder in der
Semiotik
(Eco).
Vor
diesem Hintergrund einer Relativierung des metaphysischen
Menschenbildes
durch die Philosophie und die Wissenschaften, mag es vielleicht nicht
befremden,
dass Michel Foucault das Verschwinden oder den "Tod des
Menschen"
diagnostiziert (56). Gemeint
ist jenes
überladene
Subjekt der Moderne, dem buchstäblich die Lösung aller
Aufgaben
- von der Fundierung der Wahrheit über die Erkenntnis und
Bewahrung
ewiger Werte bis hin zum Träger des Ziels weltgeschichtlicher
Prozesse
- zugemutet wurden. Es ist vielleicht so, dass durch den Tod des
Subjekts
der Mensch und mit ihm eine "frag-würdige" Anthropologie ihre
klassische
Bestimmung – die Frage nach dem Menschen
– wiederfindet. Das meint
Helmut
Plessner, wenn er schreibt:
"Philosophische
Anthropologie ist auch keine Entdeckung unserer Zeit. Eine Philosophie
des Menschen hat es immer gegeben, wenn man unter "Mensch" nicht nur
ein
besonderes Gebilde im Kosmos (und unter Anthropologie eine Theorie
dieses
Gebildes im Hinblick auf sein 'Sein', seine 'Stellung') versteht,
sondern
den uns gewiesenen Horizont von Aufgaben, die - in den verschiedenen
Kulturen
und über große historische Abstände hinweg - als dem
Menschen
eigentümlich angesehen worden sind; Aufgaben eines Wesens, das
wünscht
und hofft, denkt und will, fühlt und glaubt, um sein Leben bangt
und
in Allem den Abstand zwischen Vollkommenheit und seinen
Möglichkeiten
erfahren muß. So gesehen, läßt sich Anthropologie von
Philosophie kaum trennen." (57).
AUSBLICK
Die Frage nach dem Menschen und die
Herausforderung der
gegenwärtigen Technologie
Heute
kommt in der Frage nach dem Menschen neben dem antiken,
christlich-jüdischen
und naturwissenschaftlichen Gedankenkreis noch ein weiterer hinzu,
nämlich
der der gegenwärtigen Technologie.
Wie
wir gesehen haben, teilten sich für Kant die Fragen der
Anthropologie
in "physiologische Anthropologie" ("das, was die Natur aus dem
Menschen
macht") und "pragmatische Anthropologie" ("das, was er, als
freihandelndes
Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll"). Nun gibt es
die gegenwärtige Technologie die Möglichkeit, die Natur und
uns
selbst grundlegend zu verändern. Angesichts dieser
Möglichkeit
wäre die Aufgabe einer technologischen oder
"physio-pragmatischen"
Anthropologie das, was der Mensch sowohl aus der Natur als auch aus
seiner Natur macht (machen kann und soll) zu untersuchen. Es besteht
letztlich
die Gefahr, dass wir uns selbst vernichten oder, anders
ausgedrückt,
dass Anthropologie in Technologie übergeht. So gestellt bleibt
aber
das dritte Element dieser Gleichung, nämlich die Natur,
unbeachtet.
Unbeachtet bleibt auch das, was der Mensch aus seinen Mitmenschen
macht,
insbesondere die verschiedenen Formen von Versklavung, Ausbeutung,
Diskriminierung,
Exterminierung usw. Auf dem Spiel steht heute ebensowenig eine
abstrakte
Menschheit wie eine 'heile' Natur.
Aus
der Sicht einer technologischen Anthropologie ist der Mensch jenes
Wesen,
das sich nicht nur geistig, wie die Tradition immer erkannte, sondern
auch
leiblich und umweltlich verändern kann. De Mensch ist in einem
umfassenden
Sinne immer der künstliche Mensch, oder das, was er aus
sich,
seiner Natur, und der Natur, macht, machen kann und soll (58).
In der Sprache der philosophischen Tradition heißt das, dass der
Mensch endlichen Möglichkeiten offen, dass er also frei ist. Aber
als Hersteller seiner selbst ("homo faber sui ipsius")
schafft
sich der Mensch, so der Theologe Karl Rahner,
"nicht
mehr bloß als sittliches und theoretisches Wesen vor Gott,
sondern
als irdisches leibhaftiges, geschichtliches Wesen." (59)
Rahner
beschreibt das Eigentümliche unserer heutigen Situation mit
folgenden
Worten:
"Der
Mensch entdeckt sich als operabel. Diese radikal neue Epoche ist am
Kommen.
Und zwar in allen Dimensionen (...) Die aktive Hominisierung der Welt
ist
in sich bereits eine Selbstmanipulation des Menschen. Er macht sich die
Erde untertan und darin schon sich selbst. Da ist die Werkhalle der
Biologie,
der Biochemie und Genetik (...) Da ist die Werkhalle der Medizin, der
Pharmakologie
und vor allem der Psychopharmakologie (...) Da ist die psychologische
Werkhalle.
Aber einer Psychologie der Zukunft, wie sich versteht. Also nicht so,
wie
die alten Kirchen – weltlich gesehen – psychologische Ateliers
waren,
die
in mühsamer, dilettantischer Kleinarbeit im Anruf an das
Einzelgewissen
den Menschen als Freiheitswesen bildeten. Sondern eine Werkhalle der
künftigen
Psychologie, die "Gehirnwäsche" im Großen betreibt,
die
mit den Massenmedien umzugehen weiß, mit elektrischen
Gehirnreizen
Glückseligkeit und Wohlbehagen des ganzen Körpers hervorruft
(...) Da ist die soziologische Werkhalle. Hier wird das Wachstum der
Menschheit
vorausberechnet, werden Pläne gemacht, Gesetze entworfen, um die
Bevölkerungszahl
der Erde auf einem erwünschten Niveau zu stabilisieren (...) Und
endlich
die politische Werkhalle: hier sitzt die Weltregierung, getragen von
den
herangezüchteten Superintelligenzen, hier werden die Arbeiten der
verschiedenen Werkhallen koordiniert, die letzten Ziele entworfen und
festgelegt,
auf die sich alle Arbeit am Menschen hinbewegen soll. Diese Fabrik des
neuen Menschen steht noch nicht. Aber es ist, wie wenn auf
verschiedenen
Teilen eines großen Areals gleichzeitig gebaut wird und man den
Eindruck
hat, daß diese Einzelbauten einmal zu einem einzigen Bau
zusammenwachsen
werden, eben zur hominisierten Welt, als einer einzigen großen
Fabrik,
in der der operable Mensch haust, um sich selbst zu erfinden." (ibid.
S.
48 ff)
Überraschenderweise
nimmt der Theologe Rahner eine positive Einstellung gegenüber
dieser
scheinbar erschreckenden Perspektive. Die "Nüchternheit des
Christen"
meidet, so Rahner, Jubel oder Lamentationen. Denn der Mensch
"ist
wirklich für eine christliche Anthropologie das sich selbst
manipulierende
Wesen" (ibid. S. 54)
Das
Neue
ist aber nicht, dass wir uns kulturell als sittliches Wesen formen,
sondern
dass wir es "irdisch" und "leibhaftig" tun. Für Rahner liegt der
Ursprung
dieser heutigen Möglichkeit in der christlichen Deutung der Natur:
Diese ist als Geschaffenes nicht Numinos und Unantastbar, sondern
etwas,
"dem
der Mensch als der wahre Partner des weltjenseitigen Gottes
herrscherlich
gegenübertreten kann und soll." (ibid. S. 56)
Wenn
das
"Wesen" des Menschen gerade in der Möglichkeit der
(Selbst-)Manipulation
besteht, dann ist die Frage nach dem Woraufhin offen und
läßt
sich nicht von einem konkreten Zustand her moralisch legitimieren und
beantworten.
Gegenüber dem Moralisten ("Der Mensch darf und soll nicht alles
tun,
was er kann") und dem nüchternen Skeptiker ("Es ist nicht zu
erwarten,
dass der Mensch unterlassen wird, was er tun kann"), fügt Rahner
folgende
Überlegung hinzu, die hier in Form eines ausführlichen Zitats
wiedergegeben wird:
"Einmal:
wenn man die radikale ontologische Verschiedenheit des Guten und des
Bösen
versteht, also begreift, daß das Böse letztlich doch gerade
die Absurdität des Wollens des, weil Wesen- und Sinnlosen,
Unmöglichen
ist, dann gibt es in einem letzten Verstand eben doch nichts, was der
Mensch
wirklich kann und doch nicht darf, so daß umgekehrt gilt: was er
wirklich kann, soll er auch ruhig tun. Die Aufgabe des wirklich
lebendigen
Moralisten wäre also, dem Menschen von heute zu zeigen, daß,
wo er wirklich nicht darf, es auch im letzten - selbst heute - "nicht
geht"
(auch kategorial, innerweltlich nicht!), wenn er gegen sein Sollen
anstrebt
und solches zu können vermeint. Und dann: weil und insofern die
kreatürlich-endliche
Freiheit des Menschen mitbestimmt ist durch das ihr Vorgegebene, das
sich
gerade im kategorialen Bereich der Freiheit und so der
Selbstmanipulation
besonders auswirkt, lassen sich durchaus biologische, psychologische
und
gesellschaftliche Gesetze ahnen und annehmen, die unbeschadet der
Freiheit
der Selbstmanipulation gewissermaßen als Reglersysteme
verhindern,
daß solche Selbstmanipulation im Ganzen und auf die Dauer in das
wesenswidrig Absurde sich verirrt.
Einmal primitiv in Beispielen
formuliert:
jede Lüge führt sich selbst allmählich ad absurdum; wo
es
wenig Kinder gibt, werden sie plötzlich wieder interessant und
begehrenswert;
wer zu sehr auf Gesundheit bedacht ist, wird krank (...) Das "Wesen"
variiert
offenbar um eine innerste Mitte, und diese Mitte zusammen mit den
Wesensvariationen
samt den Aberrationen und Versuchen, das alte Wesen neu auszusagen, all
das macht erst das ganze Wesen aus. (...) Der "Sündenfall" war
eigentlich
die erste Selbstmanipulation der Menschheit (...) Es ist doch so,
daß
man unwillkürlich mit der Vorstellung der Selbstmanipulation den
Gedanken
verbindet, durch sie sei alles möglich und alles immer wieder
möglich,
jeder Fehlgriff in der Manipulation könne immer wieder revidiert
werden,
wenigstens in den folgenden Generationen (und die Ideologien der
Selbstmanipulation
kümmern sich ja wenig um den je lebenden Einzelnen, der nur als
Material
für die fernere Zukunft einkalkuliert und vernutzt wird).
Vor
dieser
Illusion aber warnt das Dogma der Erbsünde: auch in der Zukunft
bleibt
nicht nur die Geschichte einbahnig und unter dem Gesetz des schuldigen
Anfangs mit Tod, Vergeblichkeit, Widerspruch und Leid (so sehr diese
ihre
Gestalten ändern mögen), so daß das Gesetz dieses
Anfangs
durch keine Selbstmanipulation der Menschheit aufgehoben werden kann,
sosehr
sich Kirche und Theologen hüten müssen zu meinen, sie
wüßten
jetzt schon genau, wie konkret die Objektivationen dieses irreversiblen
Anfangs in der Zukunft aussehen werden, und darum zu prophezeien, die
Armen,
die Kriege, die Tb, die Klassenkämpfe usw. in ihren klassischen
Gestalten
blieben auch in aller Zukunft erhalten. (...) Das aber wiederum
bedeutet
auch nicht, daß die Menschheit auf jeden Fall ohne irreparable
Folgen
mit sich experimentieren könne. Auch die Geschichte, in der die
Menschheit
kategorial sich selbst in die Hand nimmt, bleibt, solange heilsberufene
Menschheit existiert, Geschichte als Weg, der einbahnig ist. Die
Selbstmanipulation
der Menschheit darf nicht gedacht werden nach dem Modell eines
Experimentes
in einem begrenzten Labor, in dem man meist die isolierten Prozesse
vor-
und rückwärtslaufen lassen kann." (ibid. S. 60-62)
Gegenüber
unserer gewaltigen Macht für Aufbau und Zerstörung gilt es
weiterhin zu bedenken, dass der Mensch "eines Schattens Traum" (Pindar)
ist (60). Gegenüber der
Relativität der
Menschenbilder
steht aber nicht bloß eine theoretische Anthropologie, die sich
in
der Beliebigkeit der Diskurse verliert oder nur Übersetzungsarbeit
leistet, sondern ihr gegenüber stehen die konkreten, die ganze
Menschheit
betreffenden Fragen über die Erhaltung der Natur, über die
Abschaffung
der Rüstungspotentiale sowie der vielfältigen Formen von
Ausbeutung
und Unterdrückung, über die Linderung von Hunger, Leid
und Armut ganzer Kontinente.
Auch
wenn der Tod die Grenze der Selbstmanipulation des Menschen bedeutet,
ist
das kein Freibrief, wie Karl Rahner betont,
"für
die konservative Verteidigung der Gestalten von Tod und Konflikt, die
gerade
heute die geschichtliche Situation des Menschen prägen" (ibid. S.
66)
Es
ist
eher umgekehrt. Jede Planung läßt Ungeplantes und
Unverfügtes
(und letztlich Unverfügbares) hervortreten.
"Das
absolute, absolut durchschaute System das reibungslos funktioniert,
könnte
per definitionem nur von einem gebaut werden, der selbst schlechthin
außerhalb
seiner steht; auch die lernende und sich selbst adaptierende Maschine
kann,
solange sie mit dem Universum nicht identisch ist, dies nur innerhalb
eines
endlichen Bereiches." (ibid. S. 66)
Eine
solche
auf die Selbstveränderung des Menschen offene Anthropologie ist
nicht
so sehr als humanistische (oder menschenzentriert), sondern
eher
als humanitäre (oder menschenorientiert) zu kennzeichnen.
Damit
meine ich, dass Freundschaft – zum Menschen und seiner
Mensch-werdung
sowie zur Natur – ein Kernbegriff dieser
Anthropologie ist. In
theoretischer
Hinsicht, so gering ihre Mittel auch sind, kann sie auf der einen Seite
die Vorherrschaft einzelner Menschenbilder in Frage stellen und, auf
der
anderen Seite, die Perspektiven für die ganze Menschheit in ihrer
gegenwärtigen Existenz sowie in bezug auf ihre Zukunft
thematisieren,
um sie durch die vielfältigen Medien der Informationsgesellschaft
vor die Augen und Ohren aller zu führen.
Angesichts
dieser Aufgabe brauchen wir mehr denn je ein "frohmütiges"
Denken (61). Es geht
nämlich darum, angesichts
der Maßlosigkeit
des technologischen Denkens und Handelns nicht primär nach
angeblich
festen moralischen Verboten zu greifen, sondern die Attraktivität
menschlichen technologischen Zusammenseins in der Welt in ihren
vielfältigen
rettenden und lebensbejahenden und deshalb auch anziehenden
Möglichkeiten
vor Augen zu führen. Eine technologische Anthropologie,
will
sie eine für eine freie oder sich selbst bestimmende Menschheit
sein,
muß zugleich eine ästhetische Anthropologie sein.
Sie
muß ihre spekulativen Ansprüche abschwächen, um zwar
allgemein,
aber nicht monopolistisch oder gar überhistorisch zu wirken.
Dementsprechend
ist ihr kritisches Potential kein negierendes oder verbietendes,
sondern
ein bejahendes oder "nützliches" und anziehendes
oder
"schönes". Die Griechen faßten die Einheit des
Nützlichen
("agathos") und Schönen ("kalos") für den Menschen in seiner
Ganzheit mit einem Wort: "kalokagathia". Wir sind am Anfang des
"Experiment Mensch", wie die neuere Diskussion in Zusammenhang mit
Sloterdijks
"Regeln für den Menschenpark" zeigt (62).
Zur
Kritik des Begriffs "Menschenbild" siehe neuerdings
Friedrich Wilhelm Graf:
"Misbrauchte Götter. Zum Menschenbildstreit in der Moderne" (63).
|