I. WAS IST PHILOSOPHIE?
Der
Ausdruck europäische Philosophie
ist wohl, so könnte
man meinen,
eine Tautologie. Denn Philosophie, der
griechische Ausdruck verrät
es schon, ist eine europäische oder
abendländische
Erscheinung,
eine bestimmte Ausformung menschlicher
Vernunft, eine charakteristische
(gr. charakter: Gepräge,
Haupteigenschaft) Art des
Verhältnisses
des (europäischen) Menschen zur Welt, bei
der es um das wahre Sein
dieses Verhältnisses geht. Wahrheit (gr. aletheia)
ist das
Grundwort abendländischer philosophischer
Vernunft. Philosophische
Wahrheit zielt auf die Offenlegung eines
nicht erschütterbaren
Seinsverhältnisses.
In angesichts dessen, was die Natur (gr. physis)
in ihren
wechselbaren
Hervorbringungen entstehen läßt, strebt
die philosophische
Wahrheitssuche
nach einem diesen Prozeß ermöglichenden meta-physischen
Grund. Philosophie ist die Suche nach dem
Bleibenden hinter den
Erscheinungen.
Sie nimmt die Erscheinungen als
Erscheinungen wahr indem sie
nach
dem Bleibenden (Sein) sucht, was
so viel heißt, daß
sie die scheinbaren Behauptungen des
Mythos, dies oder jenes sei
so und so (gewesen)‘, von sich aus prüft.
Woraufhin? Auf das Sein
nämlich.
Europäische Philosophie –
Europa ist eine Okeanide,
eine
griechische
Nymphe, zunächst eine Bezeichnung für das
griechische
Festland,
später auch eine blumenpflückende
Prinzessin durch Zeus in
Stiergestalt
am Strand von Syrien bzw. Kanaan entführt
– ist
genau diese so
ausgestaltete Frage nach dem
Sein.
Gibt
es eine nicht-europäische Philosophie?
Nimmt man das Gesagte
ernst,
dann muß man diese Frage wohl verneinen.
Das geht gegen den
Zeitgeist.
Gab es nicht vergleichbare Ausformungen
menschlicher Vernunft auch in
anderen
Kulturen? Ist diese Auffassung nicht durch
ein europäisches
Vorurteil
geprägt? Bietet nicht der Erfolg und die
Ausbreitung der auf der
Grundlage
philosophischen Fragens sich entwickelnden
abendländischen
Wissenschaft
und Technik der schlagende Beweis dafür,
daß Philosophie,
Wissenschaft
und Technik, auch wenn sie nur in Europa
entstanden sein sollten, doch
einen universellen Charakter haben? Die
eurozentrische Sicht zeugt
außerdem
von Ignoranz gegenüber vergleichbaren
Erscheinungen, zum Beispiel
in fernöstlichen Traditionen. Der Sicht
der, so könnte man
sie
nennen, Partikularisten, steht die
Auffassung der Universalisten
entgegen.
Diese behaupten nämlich, daß es zwar
kulturbedingte
Vernunfterscheinungen
gibt, daß es aber die menschliche
Vernunft gibt. Diese
ist
kultur- und zeitunabhängig. Die
menschliche Vernunft ist eine
philosophische – der
Ausdruck philosophische
Vernunft ist die eigentliche
Tautologie –,
wenn sie durch folgende Eigenschaften
charakterisiert ist:
sie
gehorcht
universalen logischen Gesetzen,
nämlich dem Prinzip der
Identität,
dem Prinzip des Widerspruchs und dem
Satz vom ausgeschlossenen Dritten;
sie
wendet
sich kritisch gegen die Behauptungen
von Mythos, Religion und
Theologie.
So müßte man eigentlich nicht von
europäischer
Philosophie,
sondern von Philosophie in Europa oder
in Asien usw. reden.
Ich
möchte
diesen
philosophischen Streit zwischen
Partikularisten und
Universalisten
– wobei ich mir bewußt bin, daß das
beliebte Argumentieren
mit Hilfe von -ismen dem Schubladendenken
eigen ist – an
einem Beispiel
näher erläutern. In seinem Buch Entstellung.
Die
Metaphysik
im Denken Martin Heideggers. Mit einem
Blick nach Japan
(München
1991, S. 271ff) nimmt Elmar Weinmayr Bezug
auf den Heideggerschen
Versuch
"das gewandelte europäische Denken in eine
fruchtbare
Auseinandersetzung
mit dem ostasiatischen "Denken" zu
bringen", so Heidegger selbst im
Vorwort
zur japanischen Übersetzung des Vortrages
Zur Frage nach der
Bestimmung
der Sache des Denkens (in: H.
Buchner, Hrsg. Japan und Heidegger,
Sigmaringen 1989, S.
230).
Worum
geht es? Es geht um die europäische
Moderne und um die
"Europäisierung
der Erde" (Heidegger). Gibt es aber, so
könnten wir den Titel
dieses
Aufsatzes umwandeln, eine
nicht-europäische Moderne? Ist der
Ausdruck
"europäische Moderne" nicht eine
Tautologie? Oder ist die Moderne
eine kulturunabhängige Erscheinung, so daß
wir jeweils von
der
Moderne in Europa, in Japan usw. reden
müßten? Für
Weinmayr
gibt es so etwas wie eine japanische
"nicht-europäische Moderne"
(op.cit.
S. 295) Müßte man nicht dann auch den
Ausdruck
"nicht-europäische
Philosophie"
zulassen?
Heidegger
setzt
im oben erwähnten Zitat das Wort "Denken"
in Bezug auf
"ostasiatisch"
in Anführungszeichen. Dies scheint auf den
ersten Blick eine
Demütigung,
nämlich als ob er den asiatischen Kulturen
nicht nur die
Fähigkeit
zur Philosophie, sondern sogar die des
Denkens absprechen wollte. Diese
Behauptung stellt aber ein großes
Mißverständnis dar.
Heidegger ist bemüht, den
unterschiedlichen Denktraditionen in
ihrer
Eigenart gerecht zu werden. Gegenüber der
europäischen
philosophischen
Tradition, die eine universalistische
Tendenz aufweist und in der
gegenwärtigen
Europäisierung und Technisierung der Erde
mündet, will er das
ostasiatische Denken
unterscheiden. Ziel diese
Partikularisierung
ist aber nicht die gegenseitige
Abschottung, sondern "eine fruchtbare
Auseinandersetzung".
Weinmayr bemerkt, daß Heideggers
Auffassung der Philosophie als
etwas
spezifisch Europäisches mit Hegel
übereinstimmt.
In
den Vorlesungen über die Geschichte
der Philosophie
schreibt
Hegel:
"Die
eigentliche
Philosophie beginnt im Okzident. Erst im
Abendlande geht
diese
Freiheit des Selbstbewußtseins auf, das
natürliche
Bewußtsein
in sich unter und damit der Geist in
sich nieder." (Werke 18, S.
121).
Während
aber
für Hegel Individualität und Freiheit des
Selbstbewußtseins
die Auszeichnungen abendländischer
Philosophie sind, bedeutet
für
Heidegger abendländische Philosophie die
metaphysische
Ausprägung
des Weltaufenhalts des Menschen. Die
"Leitfrage" des Bezuges
Mensch-Welt
lautet: 'was ist das Seiende'? (gr. ti
to on). Angesichts der
Seienden
fragt der abendländische Philosoph nicht
nur ‚was ist dies oder
jenes‘,
sondern ‚was bedeutet, daß dies oder jenes
sei? Oder ‚was
macht das Sein dieses bestimmten Seienden
aus?‘ Diese Frage nach dem
Sein
stellt Seiendes im Horizont eines
Maßstabes, an dem es teilhaben
soll. Wenn wir also
philosophisch-abendländisch nach einem
Berg
fragen,
dann fragen wir nicht, als wenn wir vor
hätten, diesen Berg zu
besteigen,
sondern wir wollen den Berg als ‚seiend‘
sehen.
Was
ist aber, allgemein gefragt, das Seiende
am Seienden? Genau diese Frage
steht am Anfang abendländischen Denkens,
bei Parmenides
nämlich.
So Heidegger in: Was heißt Denken?
(Tübingen 1971,
S.
137). Was uns zu denken gibt, ist nicht
das nominale, sondern das
verbale
Partizip:
"Blühendes
in
der nominalen Bedeutung nennt ein
Seiendes, das blüht.
Blühend
in der verbalen Bedeutung nennt
"blühend-sein"." (ibid. S.
134)
Die
Thematisierung
dieses
Unterschiedes nicht in bezug auf dieses
oder jenes Seiendes,
sondern
auf das Seiende als Seiendes ist
das, was die
abendländische
Denktradition, die Philosophie oder
Metaphysik, auszeichnet. Das
philosophische
Denken in einem dieser Erfahrung
entsprechenden Sinne ist ein
Sicheinlassen
auf die Erfahrung des Anwesens des
Anwesenden oder des Sein des
Seienden,
bei der aber dieses Anwesen im Sinne
des Bleibenden nicht
fragwürdig
wird. Inwiefern? Insofern nämlich als das
Hervorkommen des
Anwesenden
eines, wie wir sagen könnten, formalen
Rahmens bedarf, um
überhaupt
als an-wesend wahrgenommen zu
werden. Die moderne
europäische
Denktradition seit Kant verstand diesen
Rahmen als a priori,
d.h.
als Bedingung der Möglichkeit der
(Gegenstände der)
Erfahrung.
Für Heidegger ist die Erfahrung des
An-wesens eine Zeiterfahrung –
genauer: die Zeiterfahrung
im
Modus der Gegenwart, der gegenüber
das Vergangene und das Zukünftige als das
Nicht-mehr bzw als das
Noch-nicht-seiend
gelten –, die
aber nicht in der
Kapsel
des Bewußtseins, sondern
in
der Existenz als In-der-Welt-sein begründet
ist.
Die logische
Entsprechung des Seins des Seienden ist
Sache
der Logik
so wie sie seit der Entstehung der
Philosophie in Griechenland zum
Ausdruck
gebracht wurde. Heidegger
schreibt:
"Ohne
das
légein dieser Logik müßte der
heutige
Mensch
sein Motorrad entbehren. Es gäbe auch
keine Flugmaschinen und
keine
Turbinen und keine
Atomenergiekommissionen. Ohne dieses légein
und seinen lógos gäbe es auch
nicht die
Trinitätslehre
des christlichen Glaubens, nicht die
theologische Auslegung des
Begriffes
der zweiten Person in der Gottheit. Ohne
dieses légein
und
seinen lógos gäbe es kein
Zeitalter der
Aufklärung.
Ohne dieses légein gäbe es
keinen dialektischen
Materialismus.
Die Welt sähe ohne den lógos der
Logik anders aus.
Doch
es wäre müßig, sich ausmalen zu wollen,
wie die Welt
dann
aussähe." (ibid. S. 170).
Die
abendländische
Logik
ist also nicht partikulär indem
sie einem
beschränkten
kulturellen oder gar sprachlichen Kreis
angehören würde.
Ferner
ist damit nicht gesagt, daß andere
Kulturen sich nicht die Frage
nach dem Sein oder nach den logischen
Prinzipien gestellt hätten.
Aber die Entwicklung der abendländischen
Denktradition zeigt,
daß
diese und andere Elemente in einer
einzigartigen Konstellation
auftraten,
die den Namen Philosophie
trägt.
Das,
was diese Traditionen zu einer
"fruchtbaren Auseinandersetzung" bringen
kann, liegt nicht nur darin, daß die Welt
uns jeweils anders
anspricht,
sondern daß wir als Menschen einem offenen
gemeinsamen und
unbestimmten
Bereich ausgesetzt sind, in dem wir das
uns jeweils so oder so
Bestimmende als etwas Bestimmtes
wahrnehmen können. Sofern
die
abendländische
Denktradition diesen offenen Raum zu
thematisieren vermag, öffnet
sie die Möglichkeit eines interkulturellen
Dialogs, bei dem die
jeweiligen
Unterschiede weder eingeebnet noch zu
einem scheinbaren Minimalkonsens
zurückgeführt werden. Mit anderen Worten,
auch das
abendländische
Gepräge des Denkens ist nicht absolut.
Andere Konstellationen sind
möglich. Dies können wir Abendländer
gerade von
nicht-europäischen
Denktraditionen lernen. Wenn wir uns
verwandeln wollen, müssen wir
aber unsere eigene Geschichte verstehen.
Philosophie im
abendländischen
Sinne ist nicht bloß eine akademische
Disziplin, sondern eine
Ausprägung
aller Lebensverhältnisse. Es wäre fatal,
wir würden den
Versuch unternehmen und den Glauben
verbreiten, im Grunde wäre das
Europäische an der europäischen
Denktradition gar nicht
europäisch,
sondern allgemeinmenschlich. Diesem
verdeckten oder offenen
Eurozentrismus
läßt sich nicht einfach ein Orientalismus
entgegesetzen.
Erst
wenn wir die spezifische Konstellation
oder den jeweiligen Kontext
erkannt
haben, laufen wir nicht Gefahr aufgrund
eines allgemeinen Nenners – sagen
wir die logischen
Prinzipien oder die kritische Haltung
gegenüber
dem Mythos – seine
unterschiedliche
Funktion
und Bedeutung zu
übersehen.
Nicht durch die historische Feststellung,
daß schon im alten
Indien
‚logisch‘ gedacht wurde, ist eine
Grundlage für eine "fruchtbare
Auseinandersetzung"
mit anderen Denktraditionen gegeben,
sondern die Wahrnehmung des
spezifischen
Erfahrungsbereiches, von wo aus jeder
denkt. Zwischen Denktraditionen
gilt
nicht der Satz der Identität – der
natürlich für
den
jeweiligen
Bezug einer Tradition auf sich selbst
gilt, wie z.B.: die
europäische
Philosophie ist die europäische
Philosophie –,
sondern der, wenn
wir
ihn so nennen können, Satz der
Verwandschaft (Vgl. M.
Heidegger Unterwegs zur Sprache,
Pfullingen 1979, S. 136 sowie
die
Ansätze
des späten Wittgenstein über Sprachspiele
als Lebensformen).
Das setzt wiederum die Bereitschaft für
die Wahrnehmung und
Verwandlung
eigener Vor-Urteile sowie die
Relativierung der eigenen
Denktradition,
und somit letztlich auch die Relativierung
der Philosophie selbst,
voraus.
Der
Sinn von Kritik könnte sich auch durch
diese "fruchtbare
Auseinandersetzung"
verwandeln. Auch die logischen Gesetze
hätten sich nicht
verändert,
aber sie würden außerhalb des
metaphysischen Rahmens, oder,
um mit Nietzsche zu sprechen, ohne dem
"Ressentiment", der aus dem
"Geist
der Rache" entsteht und sich gegen das
Werden richtet, ganz anders
ausschauen.
In diesem Sinne schreibt Weinmayr, daß es
in Japan so etwas wie
eine
andere "Moderne" "als die
europäisch-amerikanische gibt" (ibid. S.
277). Von hier aus gesehen hat auch seine
Berechtigung von einer
"japanischen
Philosophie" erst in Zusammenhang mit der
Kyoto-Schule zu sprechen.
Weinmayr
schreibt:
"Mit
der Bemerkung, daß es in China oder Indien
keine Philosophie bzw.
Metaphysik gibt, behauptet Heidegger
demzufolge auch nicht, daß
in
diesen Kulturen und Traditionen nicht
gedacht würde. Er macht nur
darauf aufmerksam, daß in anderen
nicht-europäischen Welten
und Denktraditionen das Denken nicht die
typisch europäische
Gestalt
des begründenden, einigenden, wollenden
und beständigen
Vorstellens
angenommen hat und daß dieses Stellen sich
dort auch nicht als
die
maßgebliche und zuletzt alle Weltbezüge
formierende Weise
der
Wirklichkeitserfahrung und –gestaltung
herausgestellt und durchgesetzt
hat. Heideggers Interesse am
interkulturellen Dialog entspringt – in
der
Sprache dieser Arbeit gesagt – der
Vermutung bzw. Erwartung, daß
andere Herkunftswelten nicht in der Weise
von einem Stellen
geprägt
sind wie die europäische Welt und daß sich
aus dem Dialog
mit
solchen Herkunftswelten Anstöße für den
Versuch einer
Verwindung
und Verwandlung des inzwischen
universalen, europäischen Ge-Stells
ergeben können." (op.cit. S. 275)
II. PHILOSOPHIE IN...
Als
Beispiel
für die universalistische These nehme ich
das Buch von Gregor Paul Philosophie
in Japan. Von den Anfängen bis zur
Heian-Zeit. Eine
kritische Untersuchung (München
1993). Wir haben hier mit
einer
gründlichen gelehrten – ich
bin beinah in der
Versuchung
zu sagen:
deutsch-abendländischen –
Untersuchung zu tun. In den
ersten
zwanzig
Seiten dieser 454 Seiten umfassenden
Studie geht es, wie könnte es
anders sein, um "Grundlegendes". Gleich im
Titel des ersten Abschnittes
taucht das Wort "mystifizierende
Vorurteile" in bezug auf ein
"angeblich
spezifisch japanisches Denken" auf,
zusammen mit "Zweifel an der
Anwendbarkeit
des Worts "Philosophie"". Paul stellt die
Seltenheit des Ausdrucks
"japanische
Philosophie" fest und führt sie auf das
Vorurteil angeblich
fundamentaler
Differenzen zwischen Ost und West zurück.
Demnach gäbe es
Philosophie
in Japan erst seit der Meiji-Zeit
(1868-1912). Der Begründer der
japanischen
Philosophie wäre Nishida Kitaro
(1870-1945), Gründer der
Kyoto-Schule,
so die Meinung von Hartmut Buchner
(Herausgeber des erwähnten
Bandes Japan und Heidegger) und
Elmar Weinmayr. Japanisches
Denken würde
in einer besonderen Naturauffassung sowie
im Zen-Buddhismus
gründen.
Ihm läge auch eine besondere "japanische"
Logik zugrunde. Diese
wäre
ästhetischer Natur und gehorchte nicht den
oben erwähnten
logischen
Gesetzen, die der europäischen Logik eigen
wären. Das
führe
dann zu einem Mangel an Klarheit des
Ausdrucks, zu ‚Mystifizierungen‘
also.
Die
Kontroverse läßt sich syllogistisch
folgendermaßen
zusammenfassen:
Philosophie
ist A
A
kommt nur in Europa
vor
Also
ist
eine nicht-europäische Philosophie nicht
möglich.
Für
Gregor
Paul ist Philosophie eine "fundamentale
Fähigkeit und
Praxis"
des Menschen zur logischen Reflexion. Sie
ist dem Menschen "angeboren"
(S. 4). Diese These dürfte sowohl phylo-
als auch ontogenetisch
anfechtbar
sein. Es gibt für Paul keine "unlogische
Kulturen". Im Hinblick
auf
diese "fundamentale Fähigkeit" gelten, so
Paul, "keine
signifikanten
Unterschiede zwischen Kulturen und
Philosophien" (S. 4). Alle Menschen
sind, sofern sie logisch denken,
potentielle Philosophen. Um fremde
Kulturen
zu interpretieren muß man dieses
"methodologische Prinzip allen
Verstehens
überhaupt" voraussetzen. Wer die logischen
Regeln widersprechen
will,
begeht, mit anderen Worten, einen
performativen Widerspruch. Sie sind
eine
Art A-priori der universalen alle
Differenzen umspannenden
Interpretationsgemeinschaft.
Sie bestimmen, wie die abendländischen
Philosophen früher
sagten,
das Wesen des Menschen. Nun aber, so die
Widerlegung der zweiten
Prämisse,
findet man diese Regeln nicht nur im
Abendland, sondern auch in Indien,
China und Japan. Es sind dieselben
logischen Regeln wie die des
Aristoteles.
Diese logischen Gesetze sind
dementsprechend "sprachunabhängig".
Entscheidend
ist aber nicht, ob diese Gesetze
thematisiert wurden, sondern ihre
tatsächliche
Anwendung. Eine ästhetische Ausdrucksweise
bedeutet nicht an sich
logische Inkonsistenz. Die Meinung, die
japanische Logik sei
ästhetischer
und nicht logischer Natur ist also
bodenlos.
Für
Paul bestimmt sich der Begriff Philosophie
nicht inhaltlich,
sondern
methodologisch und zwar gegenüber Mythos,
Religion und Theologie.
Philosophische Sätze sind ihrem Anspruch
nach kritische Sätze
und Philosophien sind Systeme, "die
letztlich Erkenntnischarakter"
haben.
In dieser Weise wird auch, so Paul,
zwischen Philosophie und
Glaubenslehren
schon im alten Indien unterschieden. Das
für "Philosophie im
westlichen
Sinne" im Japanischen seit dem 19.
Jahrhundert gebrauchte Wort (tetsugaku)
ist nicht die einzige Bezeichnung. Seit
dem 8. Jahrhundert existiert
auch
im Buddhismus das Wort immyo, das
soviel wie "Wissenschaft von
Begründung"
bedeutet. Entmythologisierung gab es nicht
nur in Griechenland, sondern
auch in China und Indien. Übernatürliche
Naturerklärungen
verloren an Bedeutung, eine abstrakte
kulturunabhängige
Begrifflichkeit
wurde entwickelt, Kritik trat anstelle von
Tradition und Autorität.
Fazit:
von japanischer Philosophie zu
sprechen, ist so unangebracht,
wie
die Rede von einer deutschen Physik.
Sofern sich Sätze auf
Logik und Erfahrung beziehen, ist die
Sprache, in der sie verfaßt
sind, relativ unwichtig. Die
darauffolgenden 420 Seiten sollen die
These
plausibel machen, daß in Japan, schon vor
der Übernahme des
Buddhismus im 6. Jh. n.Chr.), Philosophie
im Sinne von kritischem
Denken
entwickelt wurde. Philosophie ist
logisch-kritisches Denken. Ein
solches
Denken gab es außerhalb Europas. Also gibt
es keine europäische
Philosophie, sondern Philosophie
in... Entweder ist man
Universalist
und somit Philosoph oder man schlägt sich
auf die Seite des
Glaubens
und behauptet es gäbe Bereiche oder
Erfahrungen, wo die logischen
Regeln nicht gelten, oder daß das Denken
sprachabhängig ist.
Das führt zu "mystifizierenden
Vorurteilen" usw.
Diese
Sicht von Philosophie ist m.E. nichts
anderes als die Dogmatisierung
einer
bestimmten Ausformung abendländischer
Metaphysik, die sich
objektiv,
empirisch, universal usw. geben will, in
Wahrheit aber sowohl die
Unterschiede
innerhalb der eigenen Geschichte - etwa
zwischen der Bedeutung der prima
principia bei Aristoteles und in der
Neuzeit - als auch zwischen
ganz
unterschiedlichen Denktraditionen
einebnet. Anstatt das Gemeinsame zu
suchen, glaubt man es schon (bei
sich und bei anderen) gefunden zu
haben. Mit derselben Methode könnte man
meinen, daß nicht
nur
etwa die logischen Prinzipien, sondern daß
das sie in der
europäischen
Neuzeit begründende ego cogito das
Wesen des Menschen
ausmacht
und deshalb auch schon in diesen oder
jenen Texten aus China oder Japan
zu finden sein müßte. Ähnliches könnte man
sagen
bezüglich
zum Beispiel jenem anderen von Paul nicht
erwähnten Prinzip, dem principium
grande, dem Satz vom Grunde, principium
rationis
sufficientis
(Prinzip des zureichenden Grundes), das
nach langer europäischer
Gährung
von Leibniz formuliert wurde. Man könnte
aber auch die universal
so
erfolgreiche neuzeitliche europäische
Naturwissenschaft und die
auf
ihr beruhende neuzeitliche Technik zum
gemeinsamen Boden für ein
interkulturelles
Gespräch setzen und sie, wie Joseph
Needham eindrucksvoll gezeigt
hat, in asiatischen Kulturen nachweisen,
oder, was bekanntlich
politisch
brisant ist, die Menschenrechte, oder
sogar die freie Marktwirtschaft
usw.
Die
Vorwürfe des Obskurantismus,
Mystifizierung, Irrationalität
usw.
gegenüber dem Partikularisten gehen aber
an der Sache vorbei. Sie
sind selbst blind für den eigenen
europäischen, antiken und
neuzeitlichen,
Boden auf dem sie stehen. Früher kamen die
Europäer mit dem
Kreuz
und propagierten die wahre Religion.
Jetzt kommen sie mit
Logik,
rationaler Argumentation usw. und
verkünden, diese Botschaft sei
wirklich
universal. Sie können sogar nachweisen,
daß überall, wo
der homo sapiens sich von Mythos,
Religion und Theologie
kritisch
trennt, eine philosophische Kultur
entsteht, die uns zumindest
methodologisch,
jenseits aller kultureller Unterschiede
verbindet und zum eigentlichen
(universalen) Menschen macht.
GIBT ES
EINE NICHT-EUROPÄISCHE PHILOSOPHIE?
Es
wäre
aber zu billig, Partikularismus und
Universalismus gegeneinander
auszuspielen.
Denn letztlich müßte der Partikularismus
sich auch als ein
verkappter
Universalismus zu erkennen geben.
Umgekehrt gilt, jede Behauptung, dies
oder jenes sei universal, ist wiederum
eine partikulare Behauptung,
auch
wenn sie sich rein logisch oder
methodologisch einkleidet. Mit anderen
Worten, was Menschsein heißt, ist das, was
wir – Europäer
und
Nicht-Europäer, Japaner und Nicht-Japaner,
Griechen und Barbaren,
Juden und Nicht-Juden, Christen und
Nicht-Christen, Philosophen und
Nicht-Philosophen
und wie alle dichotomische Ausschluß- und
Auserwähltheitsbezeichnungen
auch heißen mögen – suchen. Daß jeder eine
bestimmte
gemeinsame
Basis für diese Suche voraussetzt, ist
hermeneutisch notwendig und
legitim, wenn man sich sowohl über die
eigene als auch über
die
gemeinsame geschichtliche Beschränktheit
solcher
Seinsentwürfe
bewußt ist.
Das
Bewußtsein über die Offenheit menschlichen
Seins ist
wiederum
eine in der europäischen Philosophie
gewachsenen Einsicht, die zu
einer "fruchtbaren Auseinandersetzung" zum
Beispiel zwischen dem
Heideggerschen
Denken und der Kyoto-Schule geführt hat.
Ich meine aber, daß
auch die auf der Basis der abendländischen
Logik und
(neuzeitlichen)
Rationalität entstandenen Studien von
Gregor Paul einen Beitrag
dazu
liefern, auch wenn sie nicht eine Aus-einander-setzung,
sondern
eine Konvergenz in Absicht haben. Es wäre
denkbar, den umgekehrten
Weg zu gehen, indem die (europäische)
Philosophie mit fremden
Augen,
die sich aber in ihr wiederzufinden
glauben, gelesen wird.
Mißverständnisse
sind nicht selten eine Quelle von
Kreativität. Zu sagen aber:
Philosophie
ist, wenn man logisch und kritisch denkt,
und den Gottesglauben in
Frage
stellt, ist von einer beinah rührenden
Naivität. Zwischen
einem
scheinbar universalen Philosophiebegriff
und einem bloßen
Kulturrelativismus
öffnet sich der Weg der "fruchtbaren
Auseinandersetzung", der bei
Gemeinsamkeiten die Unterschiede nicht aus
den Augen verliert und bei
allem
Unterschied nach einem gemeinsamen
geschichtlich zu gründenden
Boden sucht.
Ein
Ergebnis könnte eine nicht-europäische
Philosophie sein,
vergleichbar
der von Weinmayr angesprochenen
nicht-europäischen Moderne. Gibt
es
eine europäische Philosophie? Ist sie
vielleicht am Ende? An ihrem
Ende? Aus der Sicht einer
nicht-europäischen Philosophie kann man
sie vielleicht besser verstehen, als sie
sich selbst versteht. Das
wäre
ihre Chance, um sich abermals zu
verändern. So wie die
europäische
Philosophie eine Vielfalt in der Einheit
hervorgebracht hat, so bringt
die Auseinandersetzung der Philosophie mit
anderen Denktraditionen
nicht
nur eine zusätzliche Vielfalt innerhalb
der Philosophie,
sondern
auch eine Relativierung der Philosophie
als solche zum Vorschein. Der
Blick
eines nicht-europäischen Beobachters ist
aber wiederum anders als
der Blick Kants oder Heideggers auf die
Metaphysik. Wenn diese
Blickpunkte
sich für einen Augen-Blick
berühren, dann können
sich beide im Blick des anderen sich
selbst anders sehen. Einen
privilegierten
Blick wird man dabei vergeblich suchen.
Die Suche danach zeigt gerade,
daß man sich dem Durchblick des anderen
entzogen hat.
Sind
die Partikularisten die eigentlichen
Universalisten und die
Universalisten
nur verkappte Partikularisten? Das Denken
in Schubladen hat lediglich
eine
Einleitungsfunktion, letztlich führt es
aber zu Verzerrungen und
zur
Polemik.
Mit
dem von Paul wiederholten Vorwurf des
Obskurantismus‚ Mystizismus,
Mystifizierung
usw. läßt sich dabei so wenig fruchtbar
arbeiten, wie mit
dem
umgekehrten Vorwurf des Illuminismus oder
des bornierten
(europäischen)
Rationalismus. Die Anerkennung der
universalen Logik nimmt bei Paul die
Aura eines religiösen Dogmas an. Man kann
aber über den Satz
der Identität kritisch nachdenken,
vorausgesetzt man ist bereit,
die
"Haltung des vorstellenden Denkens" in
Frage zu stellen. Heideggers
Schrift Der Satz der Identität sowie
die Vorlesungsreihe Der
Satz
vom Grund, sind Beispiele dafür,
nämlich, daß wir
mit logischen Mitteln über diesen Satz
nachdenken können.
Der
Ausdruck abendländische Logik
besagt, wie auch im Falle
der abendländischen Philosophie,
daß die
logischen Prinzipien
nicht nur nicht isoliert thematisiert
wurden, sondern daß sie
ihre
Universalität einem universalen
Seinsentwurf (einer Ontologie)
verdanken. Die Geschichte der
abendländischen Philosophie bietet
von
Anfang an zahlreiche Beispiele – von
Parmenides und Platon
über
Cusanus,
Spinoza, Kant, Hegel, Schopenhauer bis hin
zu Nietzsche, Wittgenstein,
Heidegger –
unterschiedlicher Logiken,
vom
Begriff der
Rationalität
oder vom Bezug zwischen Denken und Mythos,
oder Philosophie und
Theologie
ganz zu schweigen. Sie läßt sich
vielleicht in ihrer Einheit
als eine Auseinandersetzung mit den von
Paul vorausgesetzten
Prämissen
(Logik, Rationalität) auffassen.
Europäische
Philosophie
ist der Versuch, sind die Versuche, einer
sich auf
unterschiedlicher
Weise versichernden Vernunft. Der
Nachweis, daß andere Kulturen
auch
logisch denken konnten oder daß sie
Logik-Bücher
verfaßten,
zeigt die Existenz eines
nicht-europäischen (metaphysischen)
Denkens.
Ich würde den Ausdruck einer
nicht-europäischen Philosophie
für
die Fälle reservieren, bei denen eine
bewußte und
eigenständige
Rezeption der europäischen Philosophie im
Horizont eigener
Denktraditionen
stattgefunden hat.
Von
Philosophie zu sprechen, nur weil
bestimmte logische Prinzipien
angewandt
oder thematisiert werden, oder weil das
Denken sich kritisch mit
Tradition,
Dogmen, Mythen usw. auseinandersetzt ist
zwar legitim, aber steht immer
in der Gefahr, die Maßstäbe europäischer
Rationalität
so zu universalisieren, daß die eigenen
und fremden
kontextuellen
Unterschiede nicht mehr sichtbar sind.
Dabei gehen auch die Konturen
und
Brüche der abendländischen Metaphysik
verloren.
Es
gibt eine europäische Philosophie und es
gibt auch eine
nicht-europäische
Philosophie und eine nicht-europäische
Moderne. Es gibt
nicht-europäisches
Denken. Die Attacken Pauls gegen die
Kyoto-Schule "als
Repräsentant
eines originär japanischen Denkens" (Paul,
op.cit. S. 136)
würden
sich erübrigen, wenn man diese
Unterscheidungen
berücksichtigen
würde. Allerdings müßte Paul sein
Philosophieverständnis
ändern. Da er aber so viel Gefühl für eine
ästhetische
Sprache hat und in der Lage ist hinter den
scheinbaren, und nicht
ganz
scheinbaren, obskuren Texten östlicher
Traditionen einen
(logischen)
Sinn zu entdecken, fragt man sich, warum
dies ihm nicht zum Beispiel
beim
Gespräch zwischen dem Denken Heideggers
und der Kyoto-Schule
gelingen
sollte. Er könnte dabei die heiligen
Prinzipien der Logik
weiterhin
gelten lassen, müßte aber bereit sein, sie
nicht einfach als
gegeben hinzunehmen, sondern mit ihnen
über sie nachzudenken.
Vielleicht
ergäbe sich dann ein neues Buch mit dem
Titel: Denken in Japan,
oder ein anderes: Die Kyoto-Schule:
Eine nicht-europäische
Philosophie,
oder sogar ein weiteres: Die
ontologischen Grenzen der universalen
logischen
Prinzipien. Eine kritische Untersuchung.
Kant hat sogar eine Kritik
der reinen Vernunft geschrieben und
1927 erschien in Europa ein
Buch
mit dem Titel Sein und Zeit.
LITERATUR
Buchner,
H.
Hrsg.: Japan und Heidegger, Sigmaringen
1989.
Hegel,
G.W.F.:
Vorlesungen über die Geschichte der
Philosophie, Frankfurt
a.M. 1986. Bd. 18.
Heidegger,
M.: Was heißt Denken? Tübingen 1971.
-:
Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976.
-:
Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1979.
Ohashi,
R.
Hrsg.: Die Philosophie der Kyoto-Schule.
Texte und Einführung,
Freiburg/München 1990.
Paul,
Gregor:
Philosophie in Japan. Von den Anfängen bis
zur Heian-Zeit.
Eine kritische Untersuchung, München 1993.
Weinmayr,
E.:
Entstellung. Die Metaphysik im Denken
Martin Heideggers. Mit einem
Blick nach Japan, München 1991.
Siehe auch:
Zeitschrift polylog
Gesellschaft
für
interkulturelle Philosophie