EINLEITUNG
War
Heidegger
ein Feind der Aufklärung? Das ist öfter und aus den
verschiedensten
philosophischen Lagern behauptet worden: nämlich seitens der
Analytischen
Philosophie (R. Carnap, W. Stegmüller) (Carnap 1931;
Stegmüller
1969) (1), des
Kritischen Rationalismus
(Albert
1968), der Kritischen Theorie (Adorno 1964) (2), der
Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1985, 1987) (3)
und des Marxismus (Oisermann 1980) (4).
Wie
kontrovers
Heideggers Vernunftkritik ausgelegt werden kann, zeigen neuerdings zum
einen die Versuche Heideggers Leben und Werk vom Standpunkt des Jahres
1933 vor- und rückwärts zu deuten (5) und
zum
anderen die vielfältigen zum Teil durchaus kritischen Bezüge
der Postmoderne (Lyotard 1988; Derrida 1988; Vattimo 1990; Sloterdijk
1983) (6) bis hin zur
Technikphilosophie
(Schirmacher 1983)
sowie zum ökologischen Denken (Schönherr 1989). Angesichts
dieser
Möglichkeiten von Viel- und Mißdeutungen kann es deshalb
kaum
wundern, wenn Schnädelbach Heideggers Vernunftkritik in einem
Atemzug
mit der der "älteren Kritischen Theorie" sowie des "modernen
Poststrukturalismus"
nennt (Schnädelbach 1988).
Ziel
dieser Ausführungen
ist, einige der wenigen Texte, in denen sich Heidegger
ausdrücklich
mit der Aufklärung befaßt, sowohl im Kontext seines Denkens
als auch im Hinblick auf die Suche nach einem "Aus-Weg" aus der
Moderne,
zu erörtern. Es erübrigt sich zu sagen, daß Auswahl und
Strukturierung bzw. Deutung dieser Texte sowohl eine Gesamtauslegung
des
Heideggerschen Denkweges als auch insbesondere eine Auslegung des
Wandels
seiner Kantauffassungen voraussetzt, die aber hier nur angedeutet
werden
kann (7).
I.
AUFKLÄRUNG UND HISTORISCHES BEWUSSTSEIN
Zu
Beginn seiner
Nachkriegsvorlesungen des Sommersemesters 1919 in Freiburg widmet sich
Heidegger einer phänomenologischen Kritik der transzendentalen
Wertphilosophie,
wobei er unter "Kritik" kein "Ausspielen einer 'Richtung' gegen eine
andere",
sondern einer Klärung der "immanenten geistesgeschichtlichen
Motivierungen"
versteht (Heidegger 1987: 127-128). Dazu gehört,
gewissermaßen
als Bindeglied zwischen den "großen unverlierbaren Traditionen
Kants
und des Deutschen Idealismus" (ebd.), die Philosophie des 19.
Jahrhunderts,
in deren Mittelpunkt, so Heidegger, der Kulturbegriff steht. Die
wesentlichen
Bedeutungsmomente dieses Begriffs sind das "Historische", d.h.
"die
Idee der Geschichtlichkeit", und die "Errungenschaft", darunter
insbesondere die der Technik bzw. der sie ermöglichenden
Naturwissenschaft.
So kommt das 19. Jahrhundert in der Form der Philosophie als "Kulturphilosophie"
zu seinem "eigenen Selbstbewußtsein" – so
"(sagt man)", fügt
Heidegger spitzfindig hinzu (ebd. S. 131).
Der
Kulturbegriff
wurde aber nicht im 19. Jh. erfunden. Heidegger ist bei dieser
historischen
Einleitung darum bemüht, sie eben nicht bloß "historisch",
sondern
als wesentlicher Bestandteil der "systematischen" Betrachtung zu
bewerten.
Wir stehen gewissermaßen bei einer Vorstufe der späteren
Methode
der "Destruktion". So gilt es hier zu zeigen, daß der
Kulturbegriff
weiter zurückreicht, "wenn auch nur", so Heidegger, "bis in die
Zeit
der Aufklärung (des 18. Jahrhunderts)":
"Die
Bedeutung des Wortes "Aufklärung" selbst ist anfangs keine
historische
Kategorie; es bedeutet soviel wie Zivilisation. Kultur - les nations
les
plus éclairées - sind für P. Bayle, Bossuet,
Montesquieu
die Kulturnationen, im Gegensatz zu den Naturvölkern.
Aufklärung
bedeutet aber schließlich die typische Kultur des 18.
Jahrhunderts,
und der Begriff Aufklärung wird zu einer methodologischen
Kategorie
zu Zwecken geschichts-chronologischer Charakteristik." (ebd. S. 132).
"Aufklärung"
im Sinne einer "historischen Kategorie" ist also eine spätere
Entwicklung
gegenüber dem Gebrauch bzw. der Bestimmung dieses Begriffs im 18.
Jh. Zu dieser Bestimmung gehört, so Heidegger, daß "die
Aufklärung
sich zum ersten Mal in prinzipieller Klarheit die Idee der
Universalgeschichte"
erarbeitete (ebd.). Allerdings hatte die Aufklärung "ein
eigentümliches
Verhältnis zur Geschichte":
"Das
lag gegründet in der damaligen absoluten Herrschaft der
mathematischen
Naturwissenschaft und des rationalen Denkens überhaupt. Die
Triumphe
des reinen Denkens ließen in ihnen das Ideal des Geistes
überhaupt
suchen, dem alle Erfahrung der Menschheit zuzustreben habe. Die
Aufklärung
sah sich selbst als die Vollendung der Geschichte auf ihrem Wege aus
Barbarei,
Aberglauben, Betrug und Ordnungslosigkeit." (ebd.)
Die
Aufklärung
verstand also Geschichte im Sinne eines Fortschritts der Menschheit zur
Aufklärung. Heidegger spannt den Bogen dieses
Geschichtsverständnisses
über Turgot und Comte, Kant und Herder, Schlegel und
Schleiermacher,
bis hin zum Deutschen Idealismus und zum "Absterben der philosophischen
Spekulation" (ebd. S. 136). Das zweite Moment des Kulturbegriffs,
nämlich
die "Errungenschaft", geht mit dem ersten Hand in Hand bzw. führt
zu diesem "Absterben":
"Ein
Zeitalter, das von diesem [historischen, RC] Bewußtsein ergriffen
ist, sieht sein eigenes Lebensziel in der vorwärtstreibenden
Arbeit
am Wirklichen selbst, am realen Sein. Seine Bewältigung in der
Erkenntnis
jeder Art und Praxis jeder Gestalt macht zeitweise bedürfnislos
für
transzendente philosophische 'Hirngespinste'." (ebd.)
So
hängen also
"historisches Bewußtsein" und "Errungenschaft und Leistung" mit
dem
Selbstverständnis der Aufklärung zusammen. Dabei betont aber
Heidegger den Unterschied zwischen der universalistischen
Geschichtsvorstellungen
Kants - nämlich Geschichte als die "Ausbildung und Vollendung der
rationalen Bestimmtheiten, Regeln und Ziele der Menschheit" – und jene
"entscheidende Erhellung", die der Geschichtsbegriff durch Herder
gewann.
Anstelle einer "schematisch-regelhaften, rationalistisch-linearen
Fortschrittsrichtung"
am Maßstab Rationalität vs. Barbarei – man denke an
die
Rationalismus-Irrationalismus
Kontroverse vor nicht allzu langer Zeit! – öffnet
Herder den Blick
für die Kategorie der "Eigenheit", d.h. für die "einzelnen
qualitativ
originalen Wirkungszentren und Wirkungszusammenhänge" und legt
somit
die Grundlage für die Kritik eines überspannten Rationalismus
und nivellierenden Universalismus mit dem maßlosen Anspruch auf
ein
Wissen über die Totalität der Geschichte sowie der
Menschheit. An diese Kritik wird Heidegger, von der Phänomenologie
ausgehend, anknüpfen und das je Eigene der Phänomene (bis hin
zum "Ereignis") zu "entdecken" versuchen. Während also Herder das
historische Bewußtsein "erhellt", steht Kant, so Heidegger, "an
der
Grenzscheide von Aufklärung und Deutschem Idealismus, der
konsequenteste
und tiefste Vollender der Aufklärung und damit auch schon bis zu
einem
gewissen Grade ihr Überwinder." (ebd. S. 134).
Das
bedeutet,
daß Kants Geschichtsauffassung die "Vollendung" der
Aufklärung
darstellt, zugleich aber hängt diese "Vollendung" mit einer
"Verlegung
des Schwerpunktes aller philosophischen Problematik", nämlich "in
das Bewußtsein, die Subjektivität" zusammen, wodurch Kant
den
"Anstoß" für die "Ichmetaphysik" Fichtes und Schellings
gibt.
Nach dem "Absterben" der philosophischen Spekulation und dem Aufkommen
von Materialismus und Naturalismus, beginnt die Rückkehr zu Kant
unter
der "Idee des Sollens und Wertes" (Lotze), wobei Heidegger Windelbands
"Betonung des Wertcharakters auch der theoretischen Wahrheit"
gegenüber
der Marburger Schule, mit ihrem ausschließlichen Verweilen bei
der
"Arbeit der theoretischen Grundlegung der Wissenschaften" (ebd. S.
145-146)
hervorhebt. So gründet also Windelbands "Wertphilosophie" als
"Kulturphilosophie"
in Kants kritischer Philosophie. Zugleich nimmt von hier aus (erneut)
die
Frage nach der Einteilung der Wissenschaften bzw. der Gebiete der
Wirklichkeit
und ihrer methodischen Erforschung ihren Gang.
Bevor
ich aber
auf weitere Kerntexte zum Aufklärungsbegriff eingehe, möchte
ich auf einen beinah unscheinbaren Gebrauch dieses Begriffs in Sein
und Zeit hinweisen. Es handelt sich um eine Verwendung, wodurch
"Aufklärung"
als synonym der phänomenologischen "Ausweisung" und somit also als
Gegenbegriff zu "Erklärung" gebraucht wird. Zum semantischen Feld
gehören, neben "Ausweisung", auch "Erörterung", "in den Blick
bringen", "phänomenal ausdrücklich", "sichtbar werden". Der
Text
lautet:
"Hat
der Psychologismus darin nicht recht, daß er sich gegen diese
Trennung
[des Realen und Idealen, RC] sperrt, wenngleich er selbst die Seinsart
des Denkens des Gedachten ontologisch weder aufklärt
[meine
Hervorhebung], noch auch nur das Problem kennt? In
der Frage nach der Seinsart der adaequatio bringt der Rückgang auf
die Scheidung von Urteilsvollzug und Urteilsgehalt die Erörterung
nicht vorwärts, sondern macht nur deutlich, daß die
Aufklärung
[meine Hervorhebung] der Seinsart des Erkennens selbst
unumgänglich
wird. Die hierzu notwendige Analyse muß versuchen, zugleich das
Phänomen
der Wahrheit, das die Erkenntnis charakterisiert, in den Blick zu
bringen.
Wann wird im Erkennen selbst die Wahrheit phänomenal
ausdrücklich?
Dann, wenn sich das Erkennen als wahres ausweist. Die
Selbstausweisung
sichert ihm seine Wahrheit. Im phänomenalen Zusammenhang der
Ausweisung
muß demnach die
Übereinstimmungsbeziehung
sichtbar werden." (Heidegger 1976: 217)
Der
Text steht in
Zusammenhang mit der Frage nach der "Beweisbarkeit" der
"Außenwelt"
bzw. mit dem Versuch Sein durch Seiendes zu "erklären". (ebd. S.
207-208).
Ein anderer etwas "versteckter" Text zum Aufklärungsbegriff in Sein
und Zeit zeigt diesen in zugleich systematischer und
geistesgeschichtlicher
Perspektive, nämlich in Zusammenhang mit dem Gegensatz
Rationalismus/Irrationalismus.
Heideggers These über die "existenziale Konstitution des Da"
lautet,
daß das Dasein immer schon, d.h. "vor allem Erkennen und
Wollen
und über deren Erschließungstragweite hinaus"
"gestimmt" ist. (ebd. S. 136)
Was leistet die "Stimmung" gegenüber
dem Wissen der Aufklärung?
"Auch
wenn Dasein im Glauben seines "Wohin" "sicher" ist oder um das Woher zu
wissen meint in rationaler Aufklärung [meine
Hervorhebung],
so verschlägt das alles nichts gegen den phänomenalen
Tatbestand,
daß die Stimmung das Dasein vor das Daß seines Da bringt,
als
welches es ihm in unerbittlicher
Rätselhaftigkeit
entgegenstarrt." (ebd.)
Gegenüber
dieser
"Rätselhaftigkeit" stehen sowohl der Anspruch des "theoretischen
Erkennens"
als auch "das Refugium des Irrationalen" auf derselben Ebene: Der
"Irrationalismus",
so Heidegger, redet nur "schielend" von dem, wogegen der
"Rationalismus"
"blind" ist. Die anschließende Analyse zeigt, daß auch die
"reinste 'theoría'" – so Heidegger
in bezug auf Aristoteles –
durch
ein "ruhiges Verweilen" gestimmt ist, was wiederum nicht
heißt,
daß Wissenschaft "ontisch dem Gefühl" ausgeliefert wird.
II.
DER KATEGORISCHE IMPERATIV UND DAS ZEITALTER DER AUFKLÄRUNG
Der
zweite Text
in dem sich Heidegger ausdrücklich auf die Aufklärung im
Sinne
eines Geschichtsbegriffs bezieht, knüpft an die Epochenbezeichnung
und stellt überraschenderweise die relative Bedingtheit des
Denkens – in diesem
Fall von Kants "Kategorischem Imperativ" – von den
"wirkenden
Mächten" dar. Unausgeführt bleibt dabei, wie weit eine solche
"soziologische Erklärung" zur "philosophischen Problematik"
beiträgt.
Der Text gibt aber auch Auskunft über das, was drei Jahre
später
geschah, nämlich beim Zusammenwirken Heideggers mit dem
"Mächten"
seiner Zeit. Heideggers Ausführungen aus der Freiburger Vorlesung Vom
Wesen der menschlichen Freiheit vom Sommersemester
1930 (Heidegger
1982), stehen in Zusammenhang mit der Kritik an der Deutung des
"Kategorischen
Imperativs" als etwas, was wir faktisch nicht "vorfinden". Was wir
stattdessen
vorfinden, ist der innerhalb eines philosophischen Systems formulierte
Grundsatz. Auf die Frage, warum Kant dem "Kategorischen Imperativ"
"verfallen"
ist, gibt es zunächst eine Erklärung. Sie lautet:
"Man
hat diese geistesgeschichtliche Erklärung ja auch schon
längst
gefunden, und man pflegt mit ihrer Hilfe die Sache selbst
verständlich
zu machen. Kategorischer Imperativ der reinen praktischen Vernunft -
das
gehört in das Zeitalter der Aufklärung [meine
Hervorhebung],
in die Zeit des Preußischen Staates Friedrichs des Großen.
Mit den Mitteln heutiger Denkweise ausgedrückt: Der Kategorische
Imperativ
ist eine bestimmte soziologisch eigentümlich bedingte
philosophisch-ethische
Ideologie, aber beileibe nicht das allgemeinste Gesetz menschlichen
Handelns
überhaupt oder gar des Handelns eines jeden endlichen
Vernunftwesens,
als was Kant dieses Grundgesetz aufgefaßt haben möchte. Wir
verzichten darauf, zu erörtern, wie weit eine geistesgeschichtlich
soziologische Erklärung etwas zum Sachverständnis einer
philosophischen
Problematik beitragen kann. Wir wollen ruhig zugeben, daß Aufklärung
[meine Hervorhebung], preußischer Staat und dergleichen wirkende
Mächte waren für das konkrete Dasein Kants und auch für
seine philosophische Arbeit. Wir müssen sogar betonen, daß
es
unnatürlich wäre, wenn dergleichen fehlte." (Heidegger 1982:
217)
Wie
man an der Betonung
des letzten Satzes merken kann, unterschätzt Heidegger keineswegs
die historische Bedingtheit des Denkens, ja man könnte sogar
sagen,
daß es die Aufklärung war, die diese Bedingtheit
vernachlässigt
hatte, indem sie überhistorische "absolute" Prinzipien aufstellte.
Diese Bemerkung wirft auch Licht im Hinblick auf manche Argumentation
in
Zusammenhang mit der "Heidegger-Kontroverse". Der Begriff der
"Entschlossenheit",
so könnte man Heidegger paraphrasieren, das gehört in das
Zeitalter
des Totalitarismus, in die Zeit des NS-Staates usw. Der Punkt ist aber,
wie Heidegger anschließend darlegt, daß eine solche
"geistesgeschichtliche"
bzw. "soziologische" Infragestellung des "Kategorischen Imperativs" im
Sinne von etwas, was wir nicht "vorfinden", insofern ein "Gerede" sein
kann, als sie auf naiver Weise voraussetzt, ein solcher Imperativ
ließe
sich irgendwo "als eine Tatsache" – wie
"Nervenstränge und
Blutgefäße",
aber als ein "Geistiges" nämlich – "vorfinden".
Das
Eigentümliche
des "Kategorischen Imperativs" und, wie Heidegger hinzufügt,
dessen,
was "wir" "das Gewissen" nennen, ist, daß das Wissen um seine
Tatsächlichkeit
nicht sozusagen von außen, sondern aus dem Wollen selbst
"erwächst".
Was aber wie ein extremer Solipsismus erscheinen könnte, setzt in
Wahrheit das "Einverständnis mit den anderen" ("die Menschheit in
der Person" in Kants Worten) voraus. Die Tatsächlichkeit des
Wollens
bzw. das "Faktum" des Sittengesetzes in ihrer Unableitbarkeit und somit
in ihrem Unterschied zu anderen "Tatsachen" zu thematisieren, das ist,
was Kant, so Heidegger, zwar gesehen aber nicht, oder nicht
ausreichend,
problematisiert hat. In diesem Fall gerät man aber in die Gefahr,
die eigentümliche "Tatsächlichkeit" der Freiheit mit ihrem
angeblichen
"Vorhandensein" zu verwechseln. Geht man davon aus, daß sie
nirgendwo
zu finden ist, dann erklärt man ihr Vorkommen bei Kant mit dem
historischen
Rückgriff auf die Aufklärung. Es wäre aber auf der
anderen
Seite "unnatürlich", wenn die "wirkenden Mächte" keinen
Einfluß auf die Aufstellung des "Kategorischen Imperativs" gehabt
hätten. Am Ende der Schelling-Abhandlung weist Heidegger auf die
"eigene
Tatsächlichkeit" der "Tatsache der menschlichen Freiheit" hin. Er
schreibt:
"Der
Mensch ist nicht ein vorhandener Beobachtungsgegenstand, den wir dann
noch
mit kleinen Gefühlen des Alltags behängen, sondern der Mensch
wird erfahren da im Hinblick in die Abgründe und Höhen des
Seyns,
im Hinblick auf das Schreckliche der Gottheit, die Lebensangst alles
Geschaffenen,
die Traurigkeit alles geschaffenen Schaffens, die Bosheit des
Bösen
und den Willen der Liebe." (Heidegger 1988: 284)
Die
Freiheit, so
Heidegger zu Beginn dieser Abhandlung im Jahr 1936, ist "das Wesen des
Geistes". "Die Politik ist das Schicksal", hatte Napoleon an Goethe
gesagt.
"Nein", schreibt Heidegger, "der Geist ist das Schicksal und Schicksal
ist Geist. Das Wesen des Geistes aber ist die Freiheit." (Heidegger
1988:
3). Derrida hat in der Tat Recht, wenn er auf die Bedeutung des
Gebrauchs
des Begriffs "Geist" ohne Anführungszeichen hinweist, als den
"Preis"
nämlich, den Heidegger bezahlen muß, wenn er sich von
Biologismus,
Naturalismus und Rassismus abheben will. Dieser "Preis" ist die Gefahr
der Verwechselung mit dem "Doppelgänger", nämlich mit dem
"Gespenst
der Subjektivität" (Derrida 1988: 49). Vielleicht ist der Wegfall
der Anführungszeichen ein Anzeichen dafür, daß
Heideggers
Sprache sich allmählich von selbstauferlegten "Verboten"
löste.
Vielleicht half ihm dazu der freie aber zugleich strenge Umgang, den
die
Dichter mit der Sprache üben. Streichungen, Verbote und
Anführungszeichen
sind Krücken bzw. hilfslose Versuche der Gefahr zu entkommen.
Worauf
kommt es also an? Ein Beispiel. Im von Rudolf Fahrner
(1903-1988) übertragenen
Dialog des Dionysios Solomos (griech. Dichter, gest. 1857) heißt
es:
"WORTGELEHRTER:
Gib mir ein Beispiel damit ich verstehe wie die Worte die niedrig
scheinen
Adel gewinnen können.
DICHTER:
Gleich.
Niemals durch Veränderung der Form. Aber sage mir zuerst: sollevo,
peccator, capo, pasto, forbendo, capelli - diese Worte, scheinen sie
dir
edel?
WORTGELEHRTER:
Die drei letzten scheinen mir sehr niedrig.
DICHTER:
La
bocca sollevo
dal fiero pasto
Quel
peccator,
forbendola a'capelli
Del
capo ch'egli
avea diretro guasto.
("Den
Mund erhob
vom wilden Frass
der
Sünder,
ihn abwischend an den Haaren
des
Kopfes den
er benagt hatte."
Dante,
Hölle
XXXIII. Gesang, 1-3)
Und
jetzt? jenes
forbendo, jenes pasto, bringen sie dir Schauder oder nicht?
WORTGELEHRTER:
(Schweigt)" (Dionysios Solomos 1943)
Auf
die "Fügung"
also und nicht auf die "Wortform" kommt es letztlich beim Denken und
Dichten
darauf an. Als Heidegger dieser Einsicht sich allmählich
öffnete,
wurde ihm zugleich die Frage nach der unterschiedlichen Fügung von
Denken und Dichten immer "frag-würdiger". Wenn Kant die Form
"aller
Philosophie" für "prosaisch" erklärt (Kant 1975, A 425) dann
im Namen eines entmystifizierenden bzw. "apokalyptischen" (Derrida)
Programms
(Derrida 1985), daß sich nach der "harten" Fügung von
"Form",
"Ordnung" und "Gesetz", nach "reiner" Philosophie also sehnt. Es ist,
mit
anderen Worten, die Sehnsucht nach einer endgültigen
Trennung
poetischer und prosaischer Texturen. Philosophen sind aber weder
Propheten
noch Polizisten, sondern vielleicht Schmuggler. D.h. sie sind sich
(zunehmend)
bewußt, daß bei jedem Grenz(über)gang stets
etwas
vom anderen Land hinübergetragen ("meta-pherein") wird, und sei es
nur den eigenen Leib.
III.
AUFKLÄRUNG UND NEUZEIT
Nach
der "Kehre"
und Hand in Hand sozusagen mit einer Änderung der Kant-Deutung -
nämlich
vom Versuch einer "gewaltsamen" Deutung des Zusammenhangs von "Zeit"
und
"Ich" in der "transzendentalen Ästhetik" (Kant und das Problem
der Metaphysik, 1929) zur "seinsgeschichtlichen" Deutung am
Leitfaden
der Frage nach dem Ding (Die Frage nach dem Ding, 1935/36) -
kommt
auch eine, im doppelten Sinne des Wortes, verschärfte Auffassung
der
Aufklärung zum Vorschein. Diese wird nämlich in Zusammenhang
mit der "Neuzeit", also in einem größeren geschichtlichen
Zusammenhang,
gesehen. Zwei Texte zeigen diese "Verschärfung", d.h. einen
tieferen
Einblick in das Wesen der Aufklärung auf der einen, sowie eine
nicht
mehr sozialgeschichtliche sondern eben "seinsgeschichtliche" Deutung
auf
der anderen Seite. Am Schluß der Zusammenfassung der "Geschichte
der Dingfrage" und im Mittelpunkt der Abhandlung Die Frage nach dem
Ding schreibt Heidegger:
"Diese
vorgängige und durchgängige Durchleuchtung aller Dinge
hinsichtlich
ihrer Dingheit aus der reinen Vernunft des vernünftigen Denkens
überhaupt,
die Aufhellung all dieses vorgängige Klarmachen aller Dinge ist Aufklärung,
ist der Geist des 18. Jahrhunderts. In diesem Jahrhundert erlangt erst
die neuzeitliche Philosophie ihre eigentliche Gestalt, in die Kants
Denken
hineinwächst und die auch sein eigenstes neuartiges Fragen
trägt
und bestimmt, die Gestalt der Metaphysik, ohne die auch die des 19.
Jahrhunderts
undenkbar wäre." (Heidegger 1975: 86)
Es ist
Heidegger,
der jetzt den Begriff "Aufklärung" unterstreicht. Diese
Unterstreichung
deutet, wie gesagt, auf eine "Verschärfung" der bisherigen Sicht
hin.
Außer dem Hinweis auf Kants "Abhängigkeit" vom "Geist" –
Heidegger
schreibt diesen Begriff ohne Anführungszeichen! – des 18. Jh.,
kommt
etwas Neues zur Sprache, nämlich, die Einbettung der
Aufklärung
in der Neuzeit bzw. in der Geschichte der Metaphysik. Als Kennzeichen
der
Aufklärung gelten jetzt nicht mehr das "historische
Bewußtsein"
und die "Errungenschaft", sondern die "Aufhellung" als das
"vorgängige
Klarmachen aller Dinge" und, wie im nächsten Text aus Die Zeit
des Weltbildes (1938) (Heidegger 1972) zum Ausdruck kommt, die
Bestimmung
des Menschen als "Subjektivität". Beide Kennzeichen gehören
zusammen:
das "Klarmachen aller Dinge" (meine Hervorhebung), bedeutet,
daß
"das Zwischen" bzw. "die Offenheit", in der wir uns "Mensch und Ding"
bewegen,
sowohl die "Gegenständlichkeit" der "Dinge" als auch, so
könnten
wir hinzufügen, die "Tatsächlichkeit" des Menschen
umfaßt,
ja diese erst in ihrem jeweiligen "Daß" sehen läßt.
Die
Einengung des Blickes auf "Gegenstand" und "Subjekt", der Geist der
Aufklärung
also, macht dafür blind. Heidegger sieht diese Blindheit durchaus
eine sowohl damals (1938) als auch später, d.h. in der Vorlesung Was
heißt Denken? (Heidegger 1951), andauernde. Allerdings ist
der
deutlich kritische Ton des Textes von 1938 nicht derselbe wie die
Auseinandersetzung
mit dem Geist von Wissenschaft und Technik und der sie bestimmenden
Philosophie
1951. Der erste Text lautet:
"Die
Meditationes de prima philosophia geben die Vorzeichnung für die
Ontologie
des Subjectum aus dem Hinblick auf die als conscientia bestimmte
Subjektivität.
Der Mensch ist das Subjectum geworden. Deshalb kann er, je nach dem er
sich selbst begreift und will, das Wesen der Subjektivität
bestimmen
und erfüllen. Der Mensch als Vernunftwesen der Aufklärungszeit
[meine Hervorhebung] ist nicht weniger Subjekt als der Mensch, der sich
als Nation begreift, als Volk will, als Rasse sich züchtet und
schließlich
zum Herrn des Erdkreises sich ermächtigt. In all diesen
Grundstellungen
der Subjektivität ist nun auch, weil der Mensch stets als ich und
du, als wir und ihr bestimmt bleibt, eine verschiedene Art der
Ichheit
und des Egoismus möglich [meine Hervorhebung].[...] Im
planetarischen
Imperialismus des technisch organisierten Menschen erreicht der
Subjektivismus
des Menschen seine höchste Spitze, von der er sich in die Ebene
der
organisierten Gleichförmigkeit niederlassen und dort sich
einrichten
wird." (Heidegger 1972: 102)
Daß
Heidegger
keine Gleichmacherei betreibt, kommt im von mir hervorgehobenen Satz
hervor.
Dieser "Zusatz" wurde zwar damals geschrieben aber nicht vorgetragen.
Im
Haupttext kommt aber dieselbe - man muß wohl sagen - mutige
Kritik,
deutlich zum Ausdruck (8).
Der
zweite Text, aus Was heißt Denken?, gehört zu
Heideggers
spätem
Werk. Die Aufklärung wird jetzt im Horizont der Entsprechung des
Denkens
zum geschichtlich-geschicklich Sichgeben des Seins bestimmt. Das
"Anwesen"
begleitet das "Anwesende" wie ein Schatten und bleibt somit meistens
dunkel.
Indem die Aufklärung das Seiende erhellt, bringt sie diesen
Schatten
zum verschwinden. Sie verdunkelt damit zugleich ihre eigene Herkunft.
Diese
Verfinsterung ist jetzt ein Kennzeichen der Aufklärung,
daß
sie allerdings, so Heidegger, mit der mittelalterlichen ratio teilt.
Beide kehren "alle Verhältnisse" um, d.h. statt das "Vorliegende"
vorliegen zu lassen (legein),
um es dadurch erst "In-die-Acht-nehmen"
zu können (noein),
stellen Logik und Vernunft den Maßstab
des Seins. Diese Umkehrung beginnt schon im griechischen Denken. Die
mittelalterliche ratio und
die neuzeitliche Vernunft bedeuten aber insofern, so
Heidegger,
eine "Verdoppelung" bzw. Steigerung, als logos und Denken jetzt als
Aussage
und Vernunft das Seiende von sich aus bestimmen, indem sie sich
zunächst
als solche selbst bestimmen:
"In
der ratio verschwindet jedoch das ursprüngliche Wesen von
"légein"
und "noein". Mit dem Aufkommen der Herrschaft der ratio kehren sich
alle
Verhältnisse um. Denn jetzt erklären die mittelalterliche und
die neuzeitliche Philosophie das griechische Wesen von legein
und noein, von logos und nous aus ihrem Begriff
der
ratio her. Diese Erklärung klärt jedoch nicht mehr auf,
sondern
sie verdunkelt. Die Aufklärung [meine Hervorhebung]
verfinstert
die Wesensherkunft des Denkens. Sie sperrt überhaupt jeden Weg in
das Denken der Griechen ab. Allein dies besagt nicht, die
nachgriechische
Philosophie sei falsch und sei ein Irrweg. [meine Hervorhebung] Es
sagt höchstens, daß die Philosophie trotz aller Logik und
Dialektik
nicht in die Erörterung der Frage: "Was heißt Denken?"
gelangt."
(Heidegger 1971: 127)
Somit
argumentiert
Heidegger gegen den Anspruch der neuzeitlichen Aufklärung und
ihrer
"Erklärung" im Namen einer "Aufklärung" der dabei
stattfindenden
"Umkehrung" und "Verdoppelung". Nicht diese Möglichkeit der
Selbstbestimmung
der Vernunft ist für Heidegger m.E. fragwürdig, sondern,
daß
sie sich gewissermaßen absolut setzt, indem sie eben über
ihre
eigene Herkunft keine Rechenschaft mehr zu geben vermag. Diese Herkunft
ist griechisch, wie Heidegger im "Stundenübergang" betont:
"Ohne dieses legein und
seinen logos gäbe es
kein
Zeitalter der Aufklärung." (Heidegger 1971: 170). Im griechischen
Denken blieb aber die Möglichkeit eines anderen legein offen.
Nietzsche und Hölderlin sind bekanntlich für Heidegger Zeugen
eines Denkens bzw. Dichtens, daß sie dem, was es übersteigt
bzw. es in Frage stellt und dabei zu Denken gibt, nicht aus dem Weg
gehen.
Ein
solches Denken
beginnt bei Nietzsche mit einem "Schrei" "de profundis". Die "seit
Jahrhunderten
verherrlichte Vernunft" ist die "hartnäckigste Widersacherin"
dieses
"Schreies", sie ist dafür auf beide Ohren taub (Heidegger 1972:
246).
Ihre Angriffsparole hieß damals "Nihilismus", heute
"Irrationalismus"
bzw. "irrationalistischen Großangriff gegen die Vernunft"
(Schnädelbach).
Dieser "Angriff" ist aber eher ein "Begriff" der europäischen
Vernunft. Es ist nämlich diese Form der Vernunft, die sich, so
Heidegger
im Gespräch "mit einem Japaner", über die ganze Erde
ausbreitet.
Sie "wurde doch am Ende des 18. Jahrhunderts während der
Französischen
Revolution als Göttin ausgerufen" (Heidegger 1975: 193-104). Wenn
aber die aufklärerische Vernunft eine europäische
Erscheinung
ist, dann geht es nicht darum sie zu "überwinden", sondern zu
"ver-winden",
d.h. sie selbst über ihr mestizenhaftes Wesen
aufzuklären
und, wie Vattimo betont (Vattimo 1990), sie vielfältig zu
"kontaminieren".
Anstelle des angeblich "reinen" philosophischen Textes, mit seinen
festen
spekulativen und/oder praktisch-geschichtlichen "Verknotungen",
öffnet
sich vor hier aus die Möglichkeit eines nicht "verknotenden"
"ver-windenden"
d.h. auflösbar bleibenden, zugleich engagierten und gelösten
Denkens (9).
Heideggers
Kritik
der Aufklärung ist vor allem eine Kritik des "totalitären"
(sozialgeschichtlich
und heute vor allem "technisch" vielfach "erprobten") Wesens der
Lichtmetaphysik.
Der von der Aufklärung nicht bedachte "Ort" ihres Erscheinens, die
Sprache nämlich, bleibt stets das, was das Spiel von "Dunkel" und
"Licht" ermöglicht. Heideggers Denken der "Lichtung" als "lucus a
non lucendo" gilt nicht der "Aufklärung", sondern der
"Er-örterung"
dieses "Ortes" und somit auch der Aufklärung selbst (Amoroso
1983).
Wenn Heidegger heute als Feind der Aufklärung bzw. als
Obskurantist
apostrophiert wird, dann im Namen eines "Kampfes" zwischen "Licht"
(oder
"Rationalismus") und "Schatten" (oder "Irrationalismus"), dessen
eigentliche
Grundlosigkeit aber stets unbefragt bleibt. Es gilt aber nicht die
Aufklärung
(oder die "Moderne") zu "überwinden", sondern sie vielfältig
mit
anderen Denktraditionen zu "ver-winden" .