Zweifellos bildet die Technik
die Signatur unseres Zeitalters. Daher auch die entscheidende
Bedeutung, die diesem Phänomen im Rahmen einer zeit-kritischen
Betrachtung heute gebührt. Dabei könnte aber der Eindruck
entstehen, als ob es sich bei "Zeitkritik" bloß um eine
Kritik gesellschaftlicher Zustände, um "Kulturkritik" also handeln
könnte. Technik wird aber erst in ihrer ganzen Dimension
gefaßt, wenn sie ontologisch, d.h. als eine Weise, wie sich
alles, was ist, zeigt und zugleich verbirgt, verstanden wird. So
gesehen, gewinnt der Ausdruck "Zeitkritik" eine doppelte Bedeutung,
nämlich Einblick in das, was (heute)ist und Kritik der
herrschenden Zeitvorstellung. Beides geht Hand in Hand, weil die
Technik, nach Heidegger, den Gipfel der abendländischen Metaphysik
also der Herrschaft der Seinsvorstellung unter der zeitlichen Dimension
der Anwesenheit bzw. Gegenwart darstellt. Daher auch, daß eine
Zeitkritik gerade in der Frage nach der Zeit "nach Heidegger", d.h.
sowohl "secundum" als auch "post" Heidegger, ihren Ansatz finden
muß. So schreibt Wolfgang Schirmacher, dessen Denken "Schauplatz"
dieser Erörterungen bilden soll, in der Einleitung seines Werkes
Technik und Gelassenheit folgendes:
Zeitkritik nach Heidegger trifft die Gegenwart in ihrem temporalen
Grundzug und läßt ihr keine Ausweichmöglichkeit.
Gegenwärtigkeit selbst, die Zeit als Seinsordnung ist am Ende.
Nichts hält der Radikalität der "Kehre", wie sie sich im
Weiterdenken Heideggers ereignet, stand, und diese Radikalität
auszudenken, ist die vielleicht einzige Aufgabe heutiger Denker (39).
(1)
Es scheint also so, als ob wir, um jene Techniker zu werden, die wir
noch nicht sind, gerade einer "Zeitkritik" bedürfen, die erst jene
Bedingung, die den "Sinn" unseres "Seins", nämlich die
Zeitlichkeitsstruktur (cf. 52) ausmacht, freilegt. Wie stellt sich aber
die Zeitfrage vor, nämlich bei Schopenhauer, und nach ("secundum"
bzw. "post") Heidegger?
II
Der Widerstreit zwischen Heidegger und Schopenhauer
Die Frage, die ich hier zur Diskussion stellen möchte, ist die
eines, wie ich glaube, Widerstreits zwischen Schopenhauer und Heidegger
in bezug auf die Zeit, woraus sich auch die zeitkritische Einstellung
ergibt.
Diese Frage läßt sich folgendermaßen stellen: Wie
verhält sich Heideggers Kritik der metaphysischen Zeitvorstellung
zu Schopenhauers Verneinung von Raum und Zeit (als "principium
individuationis") bzw. des "Willens zum Leben"? Oder, anders
ausgedrückt, steht nicht der radikale Denker der Zeitlichkeit, der
jede Auslegung des Seins am Leitfaden des "nunc stans" kritisiert, im
Widerstreit zum metaphysischen Denken Schopenhauers, der den Weg zu
einem außerzeitlichen "nunc stans" sucht? Handelt es sich hier um
einen Widerspruch, als um unvereinbare "Positionen", oder um einen
"Widerstreit" also um ein streitendes Ringen um das Selbe? Wie steht es
dann mit der Beurteilung der Technik?
Bevor wir aber diese Frage bei Schirmacher erörtern, sollen die
"Standpunkte" Heideggers und Schopenhauers näher dargestellt
werden.
Heidegger ist der "radikale" Denker der Zeit. Diese ist der Grundzug
nicht nur unseres Daseins, sondern auch, wie der "späte" Heidegger
in Begriffen wie "Seinsgeschichte" und "Ereignis" dachte, des Seins
selbst. Gegenüber jeder Metaphysik, die das Sein im Horizont der
Gegenwart auslegt, gilt es, die Struktur der Zeitlichkeit bzw.
Endlichkeit des Daseins hervorzuheben. Die moderne Technik stellt
für Heidegger den Gipfel der Metaphysik, also der Herrschaft der
Seinsauslegung am Leitfaden der Gegenwart, dar.
Heideggers Denken zielt vor allem dahin, die durch die Metaphysik
verschüttete Zeitlichkeit in ihrem vollen Umfang, d.h. als den
Horizont des Seins, walten zu lassen. Das gilt m.E. sowohl für die
Erörterung der "uneigentlichen" und "eigentlichen" Zeitmodi in
Sein und Zeit als auch, wie gesagt,
für das Denken des "Ereignisses". Zeitlichkeit bildet nicht nur
(!) die "Seinsweise" des Daseins, sondern, wie bereits in
Sein und Zeit antizipiert, den
Horizont des Seins bzw. unseres Seinsverständnisses. Die Herrschaft
einer Weise des Sich-zeigens der
Welt, die, wie im Falle der modernen Technik, alles vor dem Horizont
der Verfügbarkeit, also der Gegenwart stellt, läßt
grade jenes ereignishafte bzw. nicht-fixierbare Geschehen des
Sichzeigens und sich zugleich Sich-verbergens als die Weise, wie alles
ist bzw. "west", nicht mehr erscheinen. Mit der modernen Technik sind
wir tiefer denn je im Boden der Metaphysik der Präsenz verwurzelt.
Das Eigentümliche des Ereignisses Technik ist also, daß das
Ereignishafte nicht wahrgenommen werden kann. Die Technik als die Weise
des Seins, als "Ereignis", zeigt alles, was ist, als Setzung und
Bestand, d.h. als dauerhaft (!) verfügbar, was
ausschließlich
dem Modus der Gegenwart entspricht. Die ereignishafte Weise, wie alles
ist, widerspricht sich sozusagen selbst. Es gilt nicht, sie zu
"überwinden" (da wir dann wieder in den Schein unserer Macht
über die Zeit verfallen würden), sondern sie zu "verwinden",
also sie in ihrer eigenen Begrenztheit zu erfahren, indem wir uns
mitten im Ereignis Technik als die "Sterblichen" bzw. "Zeitlichen", die
wir sind, erfahren.
Nichts konnte man sich dieser "Verwindung" der Technik von "innen" also
von der Zeit her entgegengesetzt vorstellen, als der Weg Schopenhauers,
d.h. der Weg von der "Welt als Vorstellung", unterworfen dem Satz vom
Grunde, zu ihrer metaphysischen Überwindung. So schreibt
Schopenhauer, Kant folgend, zu Beginn seines Hauptwerkes:
Wer die Gestaltung des Satzes
vom Grunde, welche in der reinen Zeit als solcher erscheint und auf der
alles Zählen und Rechnen beruht, erkannt hat, der hat eben damit
auch das ganze Wesen der Zeit erkannt. Sie ist weiter nichts als eben
jene Gestaltung des Satzes vom Grunde und hat keine andere Eigenschaft.
Sukzession ist die Gestalt des Satzes vom Grunde in der Zeit;
Sukzession ist das ganze Wesen der Zeit (WWV I, 37).
Das Subjekt, der "Träger der Welt", liegt "außerhalb" von
Raum und Zeit. Zugleich bilden aber jene (sowie andere) Formen des
Subjekts, also der "Welt als Vorstellung" auch seine Grenzen "a
priori" für die Erkennbarkeit der Objekte, bzw. sie sind eine
Leistung im Hinblick auf ihre theoretische Konstitution (
WWV I, 34). Kernpunkt der
epistemologischen Lehre Schopenhauers ist aber, daß es eine
Möglichkeit gibt ("eine Erkenntnis ganz eigener Art",
WWV I, 161), wodurch das
Individuum, vermittelt durch seinen Leib, das "innere Wesen" eines
Objektes, also seines Leibes, nicht auf dem Weg der Vorstellung
erkennt. Das dabei Erkannte, nämlich der Wille, teilt also nicht
die Formen aller Objekte der Vorstellung, dabei vor allem Raum und
Zeit, mit. Es ist nicht dem "principium individuationis" unterworfen,
sondern, so schließt Schopenhauer mit einer "gewaltigen" bzw.
"metaphysischen" Analogie, alle Erscheinungen sind seine
raum-zeitlichen Objektivationen. Nun gilt es aber für
Schopenhauer, daß der Wille, in der obersten Stufe seiner
Objektivatio, im Menschen nämlich, sich verneinen und somit, nach
Münchhausener Art, selbst überwinden kann.
Raum, Zeit und Kausalität, so Schopenhauer Kant folgend,
gehören nicht dem Ding an sich, sondern der Erscheinung (
WWV I, 201. Der Blick auf
Vergangenheit und Zukunft, die dem Menschen ein überlegenes
Entscheiden ermöglicht, basiert auf der Vernunft als dem
Vermögen abstrakter Begriffe (
WWV
I, 224). Die Vernunft aber isst ein Werkzeug des blinden
Willens, also dessen, was sich dem Strom der Zeit (sowie der anderen
Formen der Vorstellung bzw. des Gegenstandes) entzieht. Aus dieser
Dienstbarkeit kann sich die Vernunft befreien, indem sie sie
kündigt bzw. indem sie den Willen zum Leben, der in ihr zu
Bewußtsein kommt, in seinem Wesen "durchschaut" und verneint.
Damit sind alle inadäquaten Objektivationen des Willens, d.h. alle
dem Satz vom Grunde unterstellten Erscheinungen (wozu auch unsere
moderne Technik gehört) negiert. Schopenhauer nennt die Zeit den
"Urtypus" der Formen der Erkenntnis, wodurch die Welt als Vorstellung
entsteht (
WWV I, 256).
Wären wir nur (!) reines Subjekt des Erkennens und nicht zugleich
Individuen, dann würden wir nicht die Erscheinungen, sondern die
Ideen (oder "adäquate Objektität des Willens")
"ungetrübt" erkennen und die Welt wäre ein "Nunc stans"
(WWV I, 253). Die Zeit ist also der
eigentliche "Schleier der Maja", die etwas Neues hervorzubringen
scheint und die törichte Hoffnung in uns weckt. Es gilt aber dem
zeitlichen Zustand (zumindest "zeitweilig"!) zu entgehen etwa in der
Kontemplation des Kunstwerkes (
WWV I,
280). Mit dem "metaphysischen Blick"
(WWV I, 385), der nicht auf die
Zukunft oder die Vergangenheit, sondern allein auf die Gegenwart
gerichtet ist, erkennen wir so der Wille zum Leben sich eigentlich
festmacht, nämlich in der Gegenwart: "Denn dem Willen ist da
Leben, dem Leben die Gegenwart sicher und gewiß."
(WWV I, 384). Die Zeitausdehnung
ist nur Schein, der von der ausdehnungslosen Gegenwart "berührt"
wird (
WWV I, 386). Diese
ausdehnungslose Gegenwart ist also der Punkt, an dem sich das
Individuum sich in seinem Erscheinen gesondert von der übrigen
Welt festhält (
WWV I; 482).
Die Gegenwart ist als "Nunc stans" Abbild der Ewigkeit, sie ist aber
als Form der Erscheinungen der Punkt, an dem diese an ihrer
Individualität festhalten und wo der Wille sein Wesen am klarsten
zeigt. So gilt für Schopenhauer die Verneinung des Willens, d.h.
die gnadenvolle Entrückung aus dem Joch der Zeit in metaphysischer
Vereinigung mit dem, was von den Erscheinungen aus gesehen Nichts ist,
das aber zugleich ihre einzige wahre Erlösung bedeutet (
WWV I, 557). Schopenhauer denkt
also die Zeit als die "endlose" "dahinschwindende" Gegenwart. In der
Verehrung einer bestimmten Gegenwart, was man, so Schopenhauer, mit
einem "so prätentiösen wie kakophonischen Worte 'Jetztzeit'
bezeichnet" (Parerga und Paralipomena, V, 338), sieht er genau
jene fatale Verwechselung zwischen diesem "Jetzt" und dem "Jetzt 'kat
exochen' (schlechthin), das Jetzt, welches heranzubringen alle andern
Jetzt allein dagewesen" (ibid.). Was ist, ist immer und "unendlich",
immer sich gleichbleibend, ohne Wechsel, ohne Zeit, wie es im
Anschluß an Platon heißt (Parerga und Paralipomena, V,
336). Die Verneinung des "entlosen" Augenblicks ist der Schlüssel
zu jener "dauerlosen Gegenwart als der alleinigen Daseinsweise der
Wirklichkeit" (Parerga und Paralipomena, V, 334).
Wir sehen also, daß während Heidegger das menschliche Dasein
in seiner nicht aufzuhebenden Zeitlichkeit bzw. Endlichkeit begreift
und es dabei aus der metaphysischen Position der Gegenwart in die des
Zeitlichseins "ver-rückt", Schopenhauer den Menschen aus eben
dieser Zeitlichkeit "ent-rücken" will. Wie verhält sich die
Heideggersche "Verwindung" des metaphysischen Willens zur Macht als
Technik zur Schopenhauerschen Veneinung des Willens zum Leben? Oder,
anders gefragt, wie verhält sich die Heideggersche Kritik an die
metaphysische Verabsolutierung der Präsenz (Gegenwart) zur
Schopenhauerschen Verneinung der "dahinschwindenden Gegenwart"? Stehen
sie in Widerstreit oder in Widerspruch? Oder "scheint" es nur so? Und
welche zeitkritische Konsequenzen ergeben sich in bezug auf die Technik
als zeitliche Ausformung dessen, was ist? Wir gehen diesen Fragen bei
Schirmacher nach.
III
Zeitkritik nach Heidegger
"Gegenwärtigkeit selbst", so Schirmacher, "die Zeit als
Seinsordnung ist am Ende" (30). Diese programatische Aussage
enthält schon, m.E., die Grundlage der Zeitkritik "nach"
("secundum" und "post") Heidegger, indem nämlich die
Täuschung der Identifikation von Zeit und "Gegenwärtigkeit"
als Grundlage der Ontologie ("Seinsordnung") bzw. Metaphysik (im
Heideggerschen Sinne) entlarvt wird. Unser Heute, das "Ereignis
Technik" nämlich, entsteht nicht etwa mit der Moderne, sondern
"durchzieht auch die Metaphysik" (37). Nun gilt für Schirmacher,
daß, weil der Mensch als Mitspieler im Kosmos lebt und er diesen
ontologischen Status nicht willkürlich ändern kann, er auch
für das Leben im Kosmos mitverantwortlich ist. Damit ist nicht der
von Schopenhauer kritisierte "Wille zum Leben" gemeint, da dieses
gerade auf der Absonderung des Individuums gründete. So wenig wie
Schopenhauer mit der Verneinung des Willens zum Leben etwa den
Selbstmord rechtfertigte, so wenig geht es hier um eine pessimistische
Untergangsideologie. Ganz im Gegenteil! Es geht Schirmacher um eine
"ontologische Ethik", die dem Anthropozentrismus den Garaus macht.
Kosmos aber, ist, nach Heidegger, von der Zeitlichkeit her zu
begreifen, die wir sowohl als "Innerzeitigkeit" (unsere gewohnte
"Weltzeit") als auch als "eigentliche" Zeit, wodurch wir etwa den Tod
vermögen und den Kosmos nach seinen (!) Strukturmöglichkeiten
(etwa in den Wissenschaften) entwerfen, vollziehen: "Dies entspricht
der Konkretion kosmischer Bewegung" (52). Damit wird nicht einfach
für eine "Kosmozentrik" plädiert, sondern für das
Sicheinfügen in ein "reicheres Weltbegreifen" (79), wobei die
"technische Art unserer Zutat sich nicht in ihrem Erfolg festlegen
läßt, sich aber in ihrem Mißerfolg (etwa als
"Todestechnik") zeigt. Wir müssen uns in das Weltgeschehen
einlassen, statt in den Wahn zu verfallen, wir könnten es
beherrschen:
Die Metaphysik mit ihrer Sicherheits- und Bestandtechnik brachte den
Tod mitten ins Leben. Nicht-metaphysisch denken heißt daher Leben
lernen (92)
Dieser Lebensweg ist ein "hermeneutischer", d.h. ein Weg der dauernden
(!) Weltkonstitution. Hier treffen wir den Nerv der Schirmacherschen
Deutung des Widerstreits zwischen Heidegger und Schopenhauer in bezug
auf die Zeit. Die Metaphysik hat nämlich, nach Heidegger, die Zeit
auf Anwesenheit bzw. Beständigkeit reduziert. Erst im "Schritt
zurück", d.h. in der Erfahrung der Grundlosigkeit bzw. des
Gegebenseins des Seienden, verlieren wir den halt, auch den
metaphysischen. Die so (!) erfahrene Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit
gibt keinen Halt. Schirmacher bedient sich der Begriffe "Ganzes" und
"Leben", um den nicht-metaphysischen Zustand unserer Haltlosigkeit zu
kennzeichnen:
Der Begriff Ganzes gibt uns den
Sinn für die Proportion zurück, entlastet von
anthropozentrischer Anmaßung. Im Begriff Leben bestimm sich
unsere Rolle im Kosmos (124).
Beide Begriffe sind zwar metaphysischen Ursprungs, sie werden aber
nicht auf eine bestimmte "Bedeutung" (bzw. auf einen bestimmten
"Grund") hin festgeschrieben: Was "gelingen" (des Ganzen und des
Lebens) heißt, wird jedesmal mit einer "Probe aufs Exempel",
nämlich der des Lebens, ausgewiesen. Nun kann, nach Schirmacher,
dieses Heideggersche Kritik dese metaphysischen als an der Gegenwart
Halt suchenden Zeitbegriffs mit der von Schopenhauer kritisierten Sicht
von der "Welt als Vorstellung" unter der Herrschaft des "principium
individuationis" parallelisiert werden:
Die von Schopenhauer konsequent aufgewiesene "Welt als Vorstellung"
vernichtete da "Ding an sich". Anwesenheit wird so zur Schuld, die wir
auf uns laden, weil wir nur vorstellend leben zu können glauben
(130-131).
Heidegger und Schopenhauer wären sich also in ihrer Kritik der
Verabsolutierung des Zeitmodus der Anwesenheit zwar einig aber aus
unterschiedlichen Gründen: Für den einen, weil dadurch die
anderen Zeitmodi mit ihrer Unverfügbarkeit "vergessen" wären,
für den anderen, weil dabei die Welt lediglich als Vorstellung und
nicht die "zerrissene" Welt als Wille (Schopenhauer), das
Unbewußte" (131) zu Bewußtsein käme. Wie steht es aber
mit diesem "Unbewußten" bzw. mit der "Verborgenheit" selbst?
Heideggers Auffassung der Wahrheit als "Unverborgenheit" basiert auf
der Einsicht in "das Zugleichsein von An- und Abwesenheit" (132). Die
Abwesenheit als einen geheimen Ort, an dem verborgene Schätze
liegen, hält Schirmacher angesichts der von Schopenhauer betonten
Härte bzw. Sinnlosigkeit des Daseins für eine Illusion.
Sowenig also wie die "Abwesenheit" ein Versteck
neben der Anwesenheit ist, so wenig
ist die "Welt als Wille" etwas hinter der "Welt als Vorstellung".
Entscheidend ist für Heidegger und Schopenhauer das
"zugleich". Das läßt
sich am Beispiel der Schrift, so Schirmacher im Anschluß an
Derrida, erläutern: Die Interpretierbarkeit eines Textes zeigt das
Zugleich der Anwesenheit des Zeichens und der Abwesenheit dessen,
wofür das Zeichen (möglicherweise) steht. Daraus lassen sich
wichtige Schlußfolgerungen in bezug auf den Zeitbegriff ziehen:
Denkbar wird nun, daß
Abwesenheit konstitutiv für Anwesenheit ist, und zwar so,
daß Anwesen als Beziehung zur Abwesenheit erst voll zum Vorschein
kommt. Doch jede Dichotomie sollte ferngehalten werden, nicht An- oder
Abwesenheit ist einzubringen, sondern ihr Zugleich. Damit kommt die
Zeit ins Welt-Spiel, aber sie lehrt uns nicht Fortschritt, sondern
Vergänglichkeit (134-135).
Gerade wegen dieses "Zugleich" gibt es nicht die Wahl für das eine
oder das andere. Es ermöglicht uns aber die Verstellung,die
scheinbare Zeitaufhebung, als auch das Offenhalten eines Geschehens,
das wir nicht abschließen und auch nicht mit einem Anfang
versehen können.: "Das Zugleich ist keine Antwort, sondern unsere
Frage." (135). Unsere Art in diesem offenen "Zeit-Spiel-Raum"
(Heidegger) mitzuspielen ist die Sprache, wenn es uns je gelingt, sie
Sinndifferenz in der Zeichenidentität offen zu legen. Es ist diese
Sprach- und Wahrheitstechnik, die Schirmacher anspricht, wenn er von
"Lebenstechnik" der auf der Zeit als Anwesenheit basierenden und sie
verstellenden "Todestechnik" entgegenhält. Da "Spiel" von An- und
Abwesenheit weist uns über eine falsche Alternative hinaus. Wohin?
zu jenem "Ganzen" (oder "Geviert", wir Schirmacher in Anschluß an
Heidegger sagt), dem wir immer schon angehören und es auch deshalb
vermögen, obwohl uns, seltsamerweise, eine Entsprechung selten
gelingt. Voraussetzung dafür ist, daß wir ein Wohnen
verwirklichen, das auf die Identität von Sein und Anwesenheit bzw.
Zeit und Gegenwärtigkeit verzichtet. Wir müssen, mit anderen
Worten, auf das Festhalten am gegenwärtigen (!) Seinwollen
verzichten, d.h. also "zeitkritisch" sein. Wenn Schirmacher in diesem
Zusammenhang von "Verzicht" spricht, dann scheint mir dies genau die
Stelle zu sein, wo Heidegger und Schopenhauer mit ihrer Zeitkritik auf
das Selbe hinweisen, nämlich auf die metaphysische Täuschung
der Gegenwart bzw. auf die egoistisch um ihre Individualität
pochenden Einzelerscheinungen, denen das Gemeinsame über ihre
"dahinschwindende" Gegenwart Hinausgehende verborgen bleibt.
Während aber Schopenhauer in der Verneinung des Willens auf jenes
"Nichts" hinweist, das nicht mehr mit den metaphysischen Kategorien der
Identität und Differenz (oder An- und Abwesenheit) gedacht und
mitgeteilt werden kann, geht es bei Schirmacher, im Anschluß an
Heidegger, um die Differenz selbst, so wie sie sich uns als "Geviert"
also im "Zeit-Spiel-Raum" zeigt. Unser "Wohnen" besteht gerade darin,
daß wir uns "technisch" im Gefüge von "Erde", "Himmel" und
"Göttlichen" als die "Sterblichen" einspielen. So wenig wie bei
Schopenhauer geht es dabei, um einen Aufruf zum Selbstmord, sondern um
ein bewußtes Hinnehmen unserer zeitlichen bzw. endlichen
Seinsweise und um ein Verneinen der Gegenwart als
die Zeit bzw. des Anwesenden als
das Sein. So können wir, sowohl bei Heidegger als auch bei
Schopenhauer, in Schirmachers Interpretation, unsere Endlichkeit zwar
durchschauen sie aber nicht, zumindest philosophisch, in eine
"höhere Einheit" (142) aufheben. Die von Schopenhauer verneinte
Zeit ist, wie bei Heidegger, die der Gegenwärtigkeit. Im Hinblick
auf diese Kritik der Anwesenheit scheint mir also, im Einklang mit
Schirmachers Deutung, kein Widerspruch zwischen Heideggers und
Schopenhauers Zeitkritik zu bestehen. Allerdings würde ich doch
einen Widerstreit darin sehen, daß während Schopenhauer die
zeit "phänomenal" auffaßt und von einem metaphysischen
Unzeitlichen (oder Ewigen) her denkt, Heidegger diese Dimension
"phänomenologsich" und sie dabei in bezug auf das Dasein als
Zeitlichkeit bestimmt. Gerade im
"ver-rücken" des Subjekts in den unverfügbaren
"Zeit-Spiel-Raum" und nicht in einem metaphysischen "Ent-rücken",
gilt es, für uns jene Lebenstechnik zu entwickeln, dessen
"Stimmung" Schirmacher treffend mit "Gelassenheit" bezeichnet. Wer kann
nicht dabei zugleich an Heidegger und an das letzte Kapitel von
Schopenhauers Hauptwerk denken?
Dabei entgeht es Schirmacher nicht, daß "fundamentale
Unterschiede" zwischen Schopenhauer und Heidegger bestehen, die nicht
verwischt werden sollten: Während Schopenhauer aus der Einsicht in
die Endlichkeit des Menschen zu Quietismus und "Entrückung", also
Zeit- und Weltverneinung übergeht, stellt sich für den
Nicht-metaphysiker Heidegger, unter dem Einfluß Nietsches, die
Frage nach der gelassenen Bejahung eben dieser Endlichkeit:
Anders als Schopenhauer sieht
Heidegger in der Gelassenheit keine "Verneinung des Willens zum Leben"
(2) Das "verhaltene Ausdauern" der Heideggerschen Gelassenheit, ihr
sachgemäßes "Verweilen" und "Beruhenlassen" läßt
leben, nicht sterben. (3)
Unsere Technik, so könnten wir im doppelten Sinne de Wortes
"zeitkritisch" sagen, muß also verzichten sich, vom "Schleier der
Maja" geblendet, am Maßstab der Gegenwärtigkeit zu
orientieren. Technisch gelingen soll, wie könnte es anders sein,
was ist, d.h. jenes "Zugleich", das unser Sein selbst ausmacht, und
dessen Vernehmen uns nicht nur vor egoistischen Illusionen, sondern
auch vor scheinbaren "Entrückungen" zu retten vermag.
Wir sind, so Schirmacher, die "Künstlichen", d.h. wir sind
für unsere Taten verantwortlich. Welche sind aber "unsere Taten"?
Sie lassen sich am Leitfaden der "Zeitkritik" unterscheiden. Es sind
auf der einen Seite die, wodurch wir das "Überleben" suchen, und
dabei die Zeit unseres Leidens verlängern. Die Zeit ist hier die
metaphysisch verstandene
Jetzt-Zeit,
also das Leben im Schein des "und so weiter". Wir produzieren weiteres
"unnötiges Leiden":
Was bleibt aber, ist das
notwendige Leid. Den Schicksalschlag, das Unglück, den Abschied,
den Verlust, die Krankheit, das Sterben kann uns niemand abnehmen. Wir
sind auch als die Künstlichen unwiderruflich die Sterblichen. (4)
Die Zeit ist somit, auf der anderen Seite, der Ausdruck unserer
Sterblichkeit. Wir leben im "Zugleich" einer Ganzheit, die wir in
unserer Lebenszeit zu verantworten haben. Die Kunst, mit unseren Taten
so zu leben, d.h. die Kunst, Jetzt-Zeit in Lebenszeit "umzuwandeln",
das ist das menschliche Charakteristikum. Schopenhauer lehrt uns die
Jetzt-Zeit bzw. die Zeit des "Überlebens" zu verneinen, indem wir
die Lebenszeit, so Schirmacher (Heidegger folgend), bejahen. In dieser
Bejahung, so glaube ich bei Schirmacher herauszuhören, ist
zugleich (!) jene Schopenhauersche "Verrückung" "enthalten".
Dieser "zeitkritische" Zusammenhang zwischen Zeitverneinung und
-bejahung bei Schopenhauer und Heidegger hergestellt zu haben, ist
eines der wesentlichen Verdienste Schirmachers.
IV
Zeitkritik nach ("post") Heidegger
Eine Würdigung von Schirmachers Ansatz muß, so glaube ich,
seine Zeitkritik als der Versuch eines Weiterdenkens "nach" d.h. auch
über Heidegger hinaus, verstehen. Daß dieses Denken "nach
Heidegger nicht zugleich ein Denken "mit" Schopenhauer ist, sondern
seine
eigene Bewandtnis hat,
läßt sich an einigen Kernpunkten seines Ansatzes zeigen,
worauf ich jetzt kurz hinweisen möchte.
- Schirmacher öffnet die Möglichkeit einer
Bejahung des Willens zum Leben bzw. einer Lebenstechnik, die weder auf
der Illusion eines "wohlgeordneten" Kosmos (5) noch auf der
bloßen (!) Kritik der modernen Technik basiert, sondern die aus
der vernünftigen Erkenntnis menschlicher Endlichkeit die
Verantwortung für eine konkrete Zuwendung und Gestaltung einer
"humaneren" also "künstlicheren" Welt schöpft. Unsere
wohlverstandene "Künstlichkeit" besteht gerade im Gelingen einer
"Lebenstechnik, deren Maßstäbe die einer offenen Ganzheit
sind, an der wir "mit 'dem Anderen' (Lévinas), bei den Dingen"
teilhaben (6). Eine solche Vernunft nennt Schirmacher "asketisch", weil
sie auf den stets gegenwartsbezogenen Egozentrismus der Gattung
verzichtet, um gelassen ihre eigene Arbeit in der Linderung des Leidens
in der Welt zu vollbringen.
- Damit sind wir beim zweiten Punkt, nämlich die
aktive Verantwortung für das leben. Fern von Ästhetizismus,
Lebensfeindlichkeit oder Resignation fordert Schirmacher den Mut, nicht
auf Sein (im Sinne von Anwesenheit) und Zeit (im Sinne von Gegenwart)
zu bauen, sondern auf die Illusion des metaphysischen Herrscherwillens
zu verzichten. Was ist damit gewonnen? Nichts mehr und nicht weniger
als "eine größere Toleranz, mehr Mut, ohne Lebenslügen
auszukommen, eine Liebe, die offener wird, einbezieht und nicht
ausschließt" (7) Schirmachers Ethik bekennt sich
ausdrücklich als eine solche und bejaht zugleich das Leben. In
diesem Sinne geht es mit Heidegger und Schopenhauer aber auch
konsequenterweise über sie hinaus.
- Schließlich verbindet Schirmacher seine
zeitkritischen Überlegungen zur gegenwärtigen Zerstörung
unserer Welt mit der ethischen Forderung nach einer "Lebenstechnik",
die nur dann zur "Kunst des Humanen" werden kann, wenn das "Negativ"
der "Todestechnik" und somit auch die Herrschaft des Gegenwärtigen
als des "Sicheren" durchschaut wird. (8) Dann erst wird menschliche
Praxis, unsere "vita activa", wie Schirmacher im Anschluß
an Hannah Arendt sagt, (9) als eine "sanfte" Antwort auf die
Natur, "wesentliche Praxis":
Ökosophisch betrachtet,
ohne Rücksicht auf die egoistischen Zwecke der Gattung, zeigt
unser in Maschinen verkörpertes Wesen deutlicher als je zuvor,
daß wir Beginnende sind. Sofern sie nicht Instrument, sondern
Lebensweise ist, erlaubt die modernste Technologie ein Handeln, das
bisher den Göttern vorbehalten war. In einigen paradoxen
Bestimmungen können wir uns diesem Handeln nähern: Technisch
sind wir fähig zum Webwerfen ohne Einbuße, zur
Veränderlichkeit ohne Verlust des Bodens, zur Anerkennung der
Sterblichkeit ohne Angst vor dem Tode, zum Ersatz ohne Beraubung, zum
Gelingen ohne Gewalt. Basistechnologien halten uns leicht und
unmerklich am Leben, einem Leben, dessen Inhalte niemals festgehalten
werden. Auch nach der Abschaffung des so immensen wie unnötigen
Leidens, das sich die Menschen gegenseitig zufügen, bleibt
genügend unvermeidbares Leid übrign, an dem sich – im
Widerstand – unser Geist entwickeln wird. Der Künstler, der in
Hannah Arendts Sinn ein Handelnder sein würde, und nicht der
Arbeiter ist das Paradigma des kommenden Menschen. (10)
Wir sind also hier über die Vorstellung, über die Kunst als
"Quietiv" des Lebens aber auch über die Gegenüberstellung von
"rechnenden" und "besinnlichen" Denken hinaus. Schirmacher will den
Menschen als Technik der "aktiv" sehen, d.h. dem Leiden Widerstand
leistend. Er will aber zugleich, daß Technik nicht instrumentell,
sondern künstlerisch verstanden wird. Beides hängt m.E. mit
dem Verzicht auf die Vorstellung zusammen, wir wären Herren
über die Zeit, d.h. wir könnten dem Ganzen beliebig, d.h. von
unserer beliebigen Gegenwart her, einen Anfang und ein Ende Setzen,
während wir uns in Wahrheit als die Sterblichen, also "Anfang und
End-losen" im "Geviert" zu begreifen haben.
Der Sinn der Zeitkritik, so könnten wir als Fazit ziehen, ist
"daß die Zeit für alle Zeiten definitiv zu Ende ist". (11)
Gemeint ist dabei die lineare Zeitvorstellung mit der Herrschaft der
Gegenwärtigkeit, worauf Vergangenheit und Zukunft (in Form von
Utopien vom Anfang und Ende) bezogen werden. Weder die ausgedehnte Zeit
als Jetzt-Folge noch die absolute Herrschaft des Gegenwärtigen,
sondern jenes "Zugleich" ist der Kern einer philosophischen Zeitkritik
"nach" ("secundum" und "post") Heidegger und Schopenhauer. Für uns
Sterbliche hat dieses "Zugleich" die Gestalt des Ereignishaften, d.h.
wir können uns je und jäh als die einem offenen Ganzen
übereignet erfahren, ohne dieses aber je von der metaphysischen
Zeitvorstellung her begreifen zu können. (12) So kann Schirmacher
das Erbe Schopenhauers in der Existenzphilosophie (von Kierkegaard
über Jaspers bis Sartre und Heidegger) an jenen anthropologischen
Kernbegriffen zeigen, die den "Über-gang" des Menschen in jenes
"Ganze", das sich im "Zugleich" zeigt und verbirgt, kennzeichnen: 1)
"Grenze", die wir nicht aufheben, sondern, im Gegenteil, wirksam lassen
müssen; 2) "Angst", als unsere Grundstimmung, wodurch wir den Halt
in uns selbst verlieren; 3) "Freiheit", die nicht Attribut unserer
Herrschaft, sondern Ausdruck unseres Angewiesenseins ist, und 4)
"Verantwortung" für die von uns mit Gelassenheit zu vollbringenden
lebensspedenden bzw. leiden-lindernden Taten. (13)
Schirmacher sieht in der Gestalt des "Heiligen" bzw. des "Asketen"
genau jene "zeitkritische" Praxis, die darin besteht, unsere "begrenzte
Lebenszeit" eben als begrenzte zu bejahen, d.h. ohne sie durch das
"Überlebensprinzip" überwinden zu wollen. Daß dies von
unserer "Eingliederung in das Geschehen des Ganzen" bzw. in "eine uns
unendlich übersteigende Ordnung" abhängt, zeigt, daß
Schirmacher durch Heidegger und Schopenhauer hindurch auf eine
Neubestimmung der "Natur des Menschen" im Sinne einer "Lebenstechnik"
hinzielt. Diese besteht aber wesentlich darin, unser "technisches" bzw.
"künstliches" Tun stets vor dem Horizont unserer "begrenzten
Lebenszeit" erscheinen zu lassen. (14) Genauer ausgedrückt: unsere
"Lebenstechnik besteht darin, uns ausdrücklich (!) als die
"Sterblichen", die wir sind, zu "vollziehen".
Dann und nur dann wird die
maßlose Technik der Moderne zu der "daseinsgemäßen"
Technik werden, die sie als "überwunden" glaubte. Wir brauchen
nicht mehr nur ein "schwaches Denken" (Vattimo), (15) sondern auch eine
schwache Technologie.
(16) Schirmachers postmoderner Ansatz lehrt uns, das eine mit dem
anderen zu verbinden.
V
Zeitkritik nach Heidegger und Schopenhauer: Widerstreit oder
Widerspruch? In Schirmachers Deutung vermögen wir die gemeinsame
Dimension zu erblicken, in die sie sich denkerisch einlassen. An jenem
gemeinsamen "Punkt", nämlich an der Sterblichkeit des Daseins
scheidet sich aber, in Widerstreit, wie ich glaube, der metaphysische
Weg Schopenhauers vom phänomenologischen Weg Heideggers. Wie aber,
wenn Zeit-"verrückungen" immer schon von einer sozusagen
"schwachen" "Entrückung" durchzogen wären? Oder, umgekehrt,
wenn das "echte" Gelingen einer "Entrückung" im
"verrückenden" Einsatz für das Leben ihren Prüfstein
hätte? Dann wäre vielleicht die Zeit nicht bloß eine
Bestimmung des Subjekts bei der Konstitution der Gegenstände bzw.
der "Welt als Vorstellung", sondern die Art und Weise, wie wir dem
Spiel des Ganzen angehören. Sie wäre nicht eine bewegliche
Abbildung des gegenwärtig Bleibenden ("Nunc stans"), sondern das
stets Sichtentziehende, kein "Schleier", sondern das
unergründliche Gewebe unseres Seins.
Ich glaube, daß wir Heutigen, postmoderne Erben der Metaphysik,
Schopenhauers "Quietiv" des Willens als Alternative oder höchstens
als ein Nebeneinander zu den "praktischen Lebensaufgaben" sehen. Wie
aber das Reich der Freiheit im Reich der Notwendigkeit zu vollziehen
sei, unsere "Lebenstechnik" also, erlernen wir nicht etwa durch
modische "Meditationsübungen" (zur Stärkung der
"Persönlichkeit"!) oder durch Aufstellung "rationaler" Ziele zur
"stückweisen" Verbesserung unserer Gesellschaft. Es geht vielmehr
darum, ein ethisches Handeln zu erlernen, das stets auf seine Grenzen
hin stößt und so das Heitere, Unverfügbare,
Lebensspendende, als das, was die Philosophie nur in der negativen Form
der Verneinung des Seienden als "Nichts" nennen kann, in Worten und
Taten zum menschlichen Ausdruck verhilft. Da das Leiden durch unsere
egoistische bzw. ausschließlich auf Gegenwärtigkeit bezogene
Ausübung von macht entsteht, ist gerade in der gesellschaftlichen
Praxis, wo wir auf die Unmöglichkeit einer Letztbegründung
der Macht (parallel zur Unmöglichkeit einer Letztbegründung
unseres Wissens) stets acht geben müssen, um die wahnsinnigen
Gedanken und Taten politischer und technischer
Herrschaftsansprüche schonungslos zu kritisieren. Als
Intellektuelle haben wir dafür eine wunderbare "Waffe": Wir
können in Wort und Schrift einen solchen Wahnsinn der
Lächerlichkeit preisgeben. (17) Marx zu Ende denken heißt,
mit anderen Worten, ihn aus der Perspektive der Endlichkeit neu denken.
Anmerkungen
1. Seitenangaben ohne Sigle beziehen sich auf W. Schirmacher,
Technik und Gelassenheit: Zeitkritik nach Heidegger.
Freiburg/München 1983; Schopenhauer wird nach A. Schopenhauer:
Sämtliche Werke, hrsg.
W.v.Löhneysen, Frankfurt am Main 1986, 5 Bde. zitiert.
2. W. Schirmacher zitiert hier WWV II, 629 nach der
Hübscher-Ausgabe.
3. W. Schirmacher,
Gelassenheit bei
Schopenhauer und bei Heidegger, in 63. Schopenhauer-Jahrbuch 1982
4. W. Schirmacher,
Schopenhauers
Ethik im 21. Jahrhundert, in V. Spierling (Hrsg.):
Schopenhauer im Denken der Gegenwart: 23
Beiträge zu seiner Aktualität,
München/Zürich 1987, 273.
5. W. Schirmacher,
Asketische
Vernunft - Schopenhauer im Deutschen Idealismus, in 65.
Schopenhauer-Jahrbuch, 1984, 197-208.
6. W. Schirmacher,
Asketische
Vernunft,
a.a.O. 206.
7. W. Schirmacher,
Schopenhauer bei
neueren Philosophen, in: 64. Schopenhauer-Jahrbuch, 35.
8. W. Schirmacher,
Vom
Phänomen zum Ereignis Technik: Ein dialektischer Zugang zu
Heideggers Phänomenologie, in F. Rapp & P.T. Durbin
(ed.),
Technikphilosophie in der
Diskussion, Braunschweig/Wiesbaden 1981, 245-257.
9. W. Schirmacher,
Zum Weltbild
einer ita activa, in M. Grauer, G. Heinemann & W.
Schmied-Kowarzik (ed.),
Die Praxis
und das Begreifen der Praxis, Kassel 1985, 349-356.
10. W. Schirmacher,
Vita activa,
a.a.O. 353.
11. W. Schirmacher, N
atur,
Geschichte, Utopie: Philosophie als Zeitkritik im 19. und 20. Jahrhundert,
in: J.H. Knoll & J.H. Schoeps (ed.),
Vom kommenden Zeiten: Geschichtsprophetien
im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart/Bonn 1984, 24.
12. Cf. W. Schirmacher,
The
End of Metaphysics - What does this Mean? in
Social Science Information 23,
(3/1984), 603-9.
13. W. Schirmacher,
Menschheit in
der Grenzsituation: Schopenhauer und die Existenzphilosophie, in
Mensch - Natur - Gesellschaft 3/1984.
14. Cf. W. Schirmacher,
Der Heilige
als Lebensform, in W. Schirmacher (ed.),
Schopenhauers Aktualität
(Schopenhauer-Studien 1/2) Wien 1988, 181-198.
15 Cf. G. Vattimo,
La fine della
modernità, Milano 1985. Ich bereite gegenwärtig eine
Übersetzung
ins Deutsche vor; cf. R. Capurro,
Das
Ende der Moderne, in
Philos.
Jahrbuch 94 (1987) 1, 205-209. Zur Diskussion um
die sog. "Postmoderne" ist die beste Übersicht W. Welsch,
Unsere Postmoderne Moderne,
Weinheim 1987.
16. Cf. R. Capurro,
Hermeneutics and the Phenomenon of
Informaation, in: W. Schirmacher & C. Mitcham (ed.),
Phenomenology and Technology,
Washington 1989. sowie R. Capurro,
Hermeneutik der Fachinformation,
Freiburg/München 1986 und
R. Capurro,
Die Informatik und das
hermeneutische Forschungsprogramm, in
Informatik. (1987) 10, 329-333.
17 Cf. P. Sloterdijk,
Kritik der
zynischen Vernunft. Frankfurt am Main 1983, 2 Bde.