"Informationsreichtum" = "Informationsarmut

von Wolfgang Hofkirchner

TU Wien



 

Die Debatte um "Informationsarmut und -reichtum" nährt sich aus den Befürchtungen auf der einen Seite, daß die Verbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologien und mit ihr der Zugang zu Information dem Muster bestehender sozialer Ungleichheiten in und zwischen den Gesellschaften folgen würden, was durch empirische Untersuchungen belegbar scheint, und so diese Ungleichheiten befestigen, wenn nicht verschärfen würden, und den Hoffnungen auf der anderen Seite, daß Information ein Gut sei, das sich den Gesetzmäßigkeiten des Warenverkehrs entziehe und deshalb die Potenz in sich berge, für alle Gesellschaftsmitglieder in gleicher Weise verfügbar zu sein und deshalb gesellschaftspolitisch egalitär-sprengenden Charakter trage.

Solange es Gesellschaften gibt, die kapitalistisch verfaßt sind, mehr noch: die von der Entgrenzung der Ökonomie gezeichnet sind, welche sich die übrigen gesellschaftlichen Teilbereiche wie Politik und Kultur unterwirft, ja letztendlich in irgendeiner Weise herrschaftlich geordnet sind und sich als Ganzes nach dem Prinzip entwickeln, daß Teile der Gesellschaft sich auf kosten anderer Teile entwickeln können, solange wird auch Information eine Ressource bleiben, die umkämpft wird, und wird versucht werden, die Verfügung über sie zu beschränken, trotz aller ihr inhärenten Eigenschaften, Demokratie zu befördern. Und solange dieser Widerspruch zwischen dem abstrakten Potential der Technologie und ihrer aktuellen Verwirklichung unter bestimmten gesellschaftlichen Randbedingungen existiert, solange dürfte auch die Debatte über die Ungleichheit in der gesellschaftlich bedingten individuellen Befähigung des Umgangs mit Information kein Ende finden.
 

Das ist aber nicht der Punkt, den ich hier machen will.

Meine These ist, daß die angeblich "informationsreichen" Klassen oder Schichten und Nationen tatsächlich "informationsarm" sind.

Das will ich begründen. Dazu möchte ich zwei Unterscheidungen einführen: die nach der Qualität der Information und die nach dem Subjekt der Information. Sodann möchte ich beide aufeinander beziehen.

Zur ersten Unterscheidung.

Information kann in unterschiedlicher Qualität vorliegen. Zumindest drei Grundqualitäten sollten hier auseinandergehalten werden: Information kann die Form von Daten, die Form von Wissen oder die Form von Weisheit annehmen. Alle drei Formen sind Formen der Information, aber sie unterscheiden sich nach ihrem Stellenwert bei der Begründung von Handlungen. Das soll das Kriterium sein, an dem die Qualität von Information gemessen werden kann.

* Weisheit - das ist das Treffen möglichst richtiger Entscheidungen - ist Information, die unmittelbar handlungsrelevant ist. Sie leitet Handlungen an, sie gibt Handlungsanweisungen. Wissen und Daten tun das nur mehr vermittelt.

* Wissen - das ist möglichst wahre Erkenntnis -, auf dessen Grundlage Entscheidungen getroffen werden können, die mehr oder weniger richtig sind, ist unmittelbar entscheidungsrelevante Information, aber nur mehr mittelbar handlungsrelevant. Zwischen Wissen und Handeln klafft eine Kluft, die mit Entscheidungen überbrückt wird.

* Daten - das sind möglichst vielseitig gesammelte Signale -, auf deren Basis Wissen hervorgebracht werden kann, sind unmittelbar erkenntnisrelevante Information, aber nicht unmittelbar entscheidungsrelevant (und noch weniger unmittelbar handlungsrelevant). Aufgrund der Daten müssen repräsentative Erkenntnisse erarbeitet werden, bevor weise entschieden werden kann.

Es gibt aber auch Daten, die irrelevant für die Erzeugung von Wissen sind, wie es Wissen gibt, das irrelevant für gültiges Entscheiden ist. Daten, Wissen, Weisheit - die jeweils vorhergehende Information ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die nachfolgende Information. Information macht eine Transformation von der niedrigsten Stufe bis zur höchsten Stufe durch, wobei die Transformation nicht vollständig determiniert ist, von Stufe zu Stufe ein Qualitätsumschlag auftritt und der Prozeß auf jeder Stufe zum Abbruch kommen kann.

Wenn also von Armut oder Reichtum an Information die Rede ist, dann muß gefragt werden:
1. Arm oder reich an Daten, arm oder reich an Wissen oder arm oder reich an Weisheit? Und
2. Daten, Wissen und Weisheit in welchem Sinn? - Daten im Sinn von möglichst wesentlichen "Eindrücken", die helfen, Wissen zu generieren, oder Daten im Sinn einer "Reizüberflutung", die nicht dazu befähigt, ein Bild der Umwelt zu erarbeiten, an dem orientiert werden kann? - Wissen im Sinn von möglichst wirklichkeitsgetreuen Erkenntnissen, die dadurch ausgezeichnet sind, daß sie Entschlüsse zulassen, die sich als richtig herausstellen, oder Wissen im Sinn beliebiger Vermutungen, von denen die eine so gut wie die andere ist, weil deren Wahrheitsnähe nie erfahrbar ist, und die keine Hilfestellung in lebenspraktischen Entscheidungssituationen geben können? - Weisheit im Sinn von möglichst wertvollen Handlungsanweisungen, die auf das Gute und Schöne zielen, oder Weisheit im Sinn einer Fülle gleich gültiger Haltungen und Urteile? Also: Liegt Reichtum an Daten vor, aber Armut an Wissen? Reichtum an Wissen bei Armut an Weisheit? Kurz: In welcher Qualität liegt Information vor, wenn nach der Quantität gefragt wird?

Zur zweiten Unterscheidung.

Information ist systemrelativ, das heißt immer auf ein bestimmtes System bezogen, im Bereich der Gesellschaft auf ein bestimmtes Subjekt. Dieses Subjekt wird meist als Individuum unterstellt, das letzte unteilbare Element sozialer Systeme. Neben dem Individuum und über es hinaus kann aber eine Unzahl von kollektiven Subjekten, die sich aus mehreren Individuen konjugieren, nach sozialen, ökonomischen, politischen oder kulturellen Gesichtspunkten, von Kleingruppen über Schichten, Klassen und Nationen bis zur Weltgesellschaft insgesamt, identifiziert werden. Alle diese Subjekte sind soziale Systeme, denen folgendes eigen ist: Sie werden letztlich durch die gemeinsame Aktivität individueller Subjekte konstituiert, die infolgedessen, daß sie zu Kognition und Kommunikation fähig sind, auch das kollektive Subjekt mit der Fähigkeit ausstatten, Information zu erzeugen und damit umzugehen - Information, die auf das jeweilige kollektive Subjekt bezogen ist, dessen Eigenleben betrifft und nicht im Raum der individuellen Subjekte angesiedelt ist.

D.h. soziale Systeme sind Systeme, denen ein je spezifisches Informationsgeschehen eignet. Und dieses Informationsgeschehen begleitet, wenn es dies nicht gar steuert und regelt, das nichtinformationelle Geschehen der sozialen Systeme vom Input über den Throughput bis zum Output. Analog zur Qualitätsstufung der Information kann nämlich im Aufbau eines sozialen Systems ebenfalls eine dreistufige Hierarchie ineinandergeschachtelter Teil-Ganzes-Beziehungen ausgemacht werden, wobei das jeweils niedrigere System als Subsystem des jeweils höheren Systems gelten mag:

* Die oberste Ebene hängt mit den Zielen zusammen, die das Gesamtsystem verfolgt, mit den Aktivitäten, in denen irgendwelche kulturellen Werte, um deretwillen dieses System existiert, als Output verwirklicht werden. Die Ziele geben dem Gesamtsystem das Gepräge, sie formen es.

* Die mittlere Ebene hängt mit den Zwecken zusammen, an deren Erfüllung die Zielerreichung gebunden ist, mit den Aktivitäten, die zur Aufrechterhaltung des sozialen Systems dienen und sich dem Throughput widmen.

* Die unterste Ebene hängt mit den Mitteln zusammen, die gebraucht werden, um die Zwecke zu erfüllen, mit den Aktivitäten rund um den Input. Information haben diese Systeme nötig, um die Aktionen zur Verfolgung ihrer Ziele, Ausführung ihrer Zwecke und Handhabung ihrer Mittel entsprechend ausrichten und abstimmen zu können.

Wenn also wieder nach Informationsarmut oder -reichtum gefragt wird, muß näher bestimmt werden: Information im Maßstab welchen Subjekts? Im Maßstab von Individuen oder im Maßstab eines sozialen Systems?

Beide Unterscheidungen zusammengefaßt, läßt sich die Fragestellung nun wie folgt akzentuieren: Welches gesellschaftliche Subjekt ist an Daten, Wissen oder Weisheit arm oder reich?

Mit dieser Akzentuierung kann der eher formale Blickwinkel, inwieweit den Gesellschaftsmitgliedern Informationsgewinnungsmöglichkeiten offenstehen, aufgeweitet werden zugunsten einer eher inhaltlichen Perspektive, in der danach beurteilt werden kann, ob Bedingungen vorliegen oder fehlen, die ermöglichen, daß ein bestimmtes gesellschaftliches Subjekt, ob Individuum oder Kollektiv, jene Information gewinnt, die es braucht, um seinem Interesse gemäß Aktionen setzen zu können.

Ich gehe davon aus, daß alle sozialen Systeme gegenwärtig eine Krise durchmachen. Das umfassendste soziale System, in das alle anderen eingebettet sind, die Weltgesellschaft, befindet sich in der Krise, weil Probleme im Bereich der Nutzung der humanen, der technischen und der natürlichen Ressourcen seine materielle Reproduktion global infrage stellen, und damit hat es auch die übrigen sozialen Systeme in die Krise gestürzt, insoweit diese ihre je eigenen Ziele, Zwecke und Mittel unter der Bedingung neu aufeinander abstimmen müssen, daß es gilt, ein allem vorgeordnetes Ziel mit einzubeziehen - das Ziel des Überlebens der Menschheit. Können sich die sozialen Systeme nicht auf diese Bedingung einstellen, laufen sie Gefahr, ihre speziellen Interessen nicht mehr durchsetzen zu können, weil sie ihre eigene Aufrechterhaltung nicht mehr gewährleisten.

Zur Einstellung auf das allgemeinmenschliche Interesse braucht es Information. Es braucht weise Direktiven zum Umbau der gesellschaftlichen Organisation, es braucht wissende Einsicht in deren Zusammenhänge, es braucht datengebundene Erfahrung mit ihnen.

Gibt es sie? Das ist die Frage, auf die ich Wert legen möchte.

Die Schichten, Klassen, Nationen, denen im undifferenzierten Sinn gerne Informationsreichtum attestiert wird, erweisen sich bisher in großem Maße als unfähig, Maßnahmen einzuleiten, die geeignet sind, auf lange Sicht das Funktionieren ihrer sozialen Systeme sicherzustellen. In dieser Hinsicht sind sie informationsarm. Es fehlt ihnen nicht so sehr an Daten, es fehlt ihnen schon mehr an Wissen, es fehlt ihnen gänzlich an Weisheit. Es fehlt ihnen das kleine Bißchen, das sie für die Informationsgesellschaft qualifizieren würde.



Letztes update: Juni 1999


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