1.
AUSGANGSBEOBACHTUNGEN
Internet =
Kinderpornographie
+ Rechtsradikalismus. So lautet eine übliche Gleichung in den
Skandalberichterstattungen
der Massenmedien. Zugleich setzt sich der Siegeszug der
globalen
Vernetzung in allen Lebens- bereichen fort. Das wird in den
Massenmedien
auch nicht verschwiegen. Dennoch, die Warnrufe überwiegen -
zumindest
bis vor kurzem.
Die
Journalisten nehmen,
so scheint es, ihre Wächterrolle ernst. Aber der Schein
trügt.
Da ist zum Beispiel die zunehmende Verflechtung der Massenmedien mit
dem
Internet, wie die angestrebte Fusion von AOL und Time Warner zeigt. Wie
soll jemand vom anderen Lager kritisch berichten, wenn beide im selben
Boot sitzen? Der Generalsekretär der International Federation
of
Journalists (IJF), Aidan White, befürchtet sogar durch diese
Fusion
eine "Bedrohung demokratischer Werte und der freien
Meinungsäußerung" (White
2000). Regiert wird der neue Koloss vom AOL-Chef Steve Case
und dem chief operating officer Robert Pittman.
CNN-Gründer
Ted Turner, der ein Medienimperium besitzt und mit zehn Prozent der
größte
Anteilseigner von Time Warner ist, soll angeblich 'nur'
Vizevorstandsvorsitzender
des fusionierten Unternehmens sein. AOL hält 55 Prozent des neuen
Konzerns, Time Warner nur 45 Prozent. Ob die amerikanische
Kartellbehörde
sich gegen den Deal stellt, ist noch offen (Hell 2000). AOL vertreibt
seit
Juni 2000 einen TV-Dienst (AOLTV) gegen eine monatliche Gebühr von
umgerechnet 30 Mark für Mitglieder und 44 Mark für alle
Übrigen.
AOLTV kann zunächst in Phoenix, Sacramento und Baltimore empfangen
werden.
War bis vor gut
einem Jahr
die Haltung der Massenmedien in Deutschland gegenüber dem
Internet,
nach meiner Beobachtung, kritisch bis feindlich, so ist in letzter Zeit
eine Wende festzustellen. Kaum eine Fernsehsendung, die nicht den
Hinweis
enthält: "Weitere Informationen sowie chat-
Möglichkeit
finden Sie in unserer Website". Der bisher vorwiegend passive
Fernsehzuschauer
wird dazu animiert, sich an den Sendungen aktiv zu beteiligen,
zum
Beispiel in Form eines Anrufs oder sogar, wie bei Big Brother,
einer
Beeinflussung des Geschehens mittels seiner/ihrer Wahlstimme. Sind also
die Massenmedien lernfähig? Mutieren sie sogar, unter dem
Einfluß
der digitalen Vernetzung, zu Internet-Portalen? Mein Eindruck
ist,
dass sie nach einer Defensivphase jetzt in die Offensive gehen, nach
dem
Motto: 'Wir werden mit dem Internet auch fertig', oder auch: "Umarme
deinen
Feind, wenn du ihn nicht besiegen kannst". Wie eine solche Umarmung
aussehen kann, zeigt zuletzt die Nachricht, dass "der Medienkonzern
Bertelsmann
nach dem Netz-Guerillero Napster greift" (Kegel 2000). (Napster
ist eine Software, die den Musikfans erlaubt, Musikdateien
auszutauschen
und dadurch das Urheberrecht zu umgehen.) Mit diesem großen Coup
steht aber Bertelsmann, wie die FAZ ebenfalls berichtet, "einen Schritt
vor dem Abgrund", denn wer soll den Musikanten verbieten, ihre
Eigentumsrechte
unter Umgehung des Hauses Bertelsmann auszuüben und so die fetten
Gewinne nicht dem Vermittler, sondern sich selbst zuzubilligen? (Kaube
2000)
Was dem
Musikproduzenten
recht ist, soll dem Wissensproduzenten auch billig sein. Die Verlage
können
inzwischen auch ein Lied davon singen. Stephen King machte mit "Riding
the Bullet" und "The Plant" einen Anfang. Der Verlag Simon &
Schuster
war verständlicherweise nicht begeistert. Die spanische
Prisa-Gruppe
bietet seit kurzem den 280 Seiten umfassenden Roman "El oro del rey"
(Das
Gold des Königs) des Schriftstellers Arturo Pérez-Reverte
ausschließlich
im Internet und zwar zum Preis von 500 Peseten (sechs Mark), ein
Fünftel
der Druckausgabe. Der Autor hatte dem Verlag folgende Bedingungen
gestellt:
Keine Werbung in den Internet-Seiten,
niedriger Preis und eine baldige Printversion. "Im übrigen", so
der
Autor bei der Präsentation des Projekts, "freue er sich, wenn
möglichst
viele Leute seine Bücher läsen. Und hätten sie kein
Geld,
so empfehle er Raubkopien. Die Konzernspitze am Tisch bewahrte auch bei
diesen Worten Haltung." (Ingenday 2000)
In diesen Tagen
startet der
französische Internet-Sender CanalWeb seinen Ableger in
Deutschland.
Michael Kläsgen berichtet in DIE ZEIT unter dem Titel "Fernsehen
à
la Carte" über diese Konvergenz von Fernsehen und Internet, die
nach
Ansicht von Jacques Rosselin, der Chef und Gründer des 1998
gestarteten
Senders, nur noch eine Frage von zwei bis drei Jahren ist. Technische
Voraussetzung
für das Abspielen der Programme ist der RealPlayer, aber
erst
mit der Breitbandtechnik werden die Bilder denen des "alten Fernsehens"
qualitativ gleichwertig sein. Internet-TV stellt vor allem eine
Konkurrenz
für die Videotheken dar. "Deutsche Internet-Kanäle wie TV 1,
Cyber Radio TV, Cyberchannel oder Intellivision/IneTV sehen die
Konkurrenz
aus dem Nachbarland dagegen gelassen. Sie beschränken sich", so
Kläsgen,
"zum größten Teil auf abrufbare Videos von
Pressekonferenzen,
Misswahlen und Konzerten. Der Unterschied zum herkömmlichen
Fernsehen
bleibt gering." Rosselin setzt wiederum auf special interest-Programme
sowie auf Interaktivität. Eine solche Individualisierung
eröffnet
wiederum neue Marketingchancen als business-to-consumer-Plattform,
was aber für Juliane Schulze, Programmleiterin von CanalWeb
Deutschland
"moralische Bedenken" hervorruft: "Web-TV ist nämlich auch das
Einfallstor
für Product-Placement und für pseudoredaktionelle
Aufbereitung
positiver Unternehmens- nachrichten." (Kläsgen 2000)
Giga,
eine fünfstündige
tägliche Live Show der NBC-Europe-Sendung, gilt als "die erste
gelungene
Verbindung von Fernsehen und Internet", bei der, so war es in DIE ZEIT
zu lesen, "die Prophezeiung der Medientheoretiker" sich erfüllen
soll,
"dass das TV dabei ist, zum Nebenmedium zu werden." Das Rezept? "Die
Zuschauer
- oder User -" (man achte auf die Änderung des Ausdrucks!), werden
übers Internet "in die Sendung eingebunden und bestreiten einen
Großteil
des Programms." (Drösser 2000) Aus der Verbindung von Fernsehen
und
Internet entsteht eine interaktive Show.
Entscheidend
ist aber, dass
der Internet-Besucher nicht zum Konkurrenz-Sender mutiert. Allein, die Möglichkeit
einer solchen Mutation ist für die
herkömmliche
Struktur der Massenmedien sowie für ihre interaktiven Varianten
letztlich tödlich. Eine solche Möglichkeit ist aber
mit
dem Internet
gegeben. Mit anderen Worten, der Kampf um die Aufmerksamkeit der
Besucher
ist voll entfacht und die Zeit der bequemen oder unbequemen Oligopole,
sei es die der öffentlich-rechtlichen oder der privaten Sender,
ist
wohl endgültig vorbei, man möge sie noch mit
Interaktivitätsgadgets
kaschieren wie man will.
Der nahende Tod
des massenmedialen
Zuschauers herkömmlicher Art bedeutet aber nicht zugleich das
unmittelbare
Aussterben des Interesses an einer passiven Aufnahme - das Wort
passiv will in diesem Zusammenhang lediglich die Rolle
des Empfängers
ausdrücken - sagen wir einer Nachrichtensendung, eines Films,
eines
Konzerts oder einer Sportübertragung. Aber das Umfeld, in dem
solche
Massensendungen und ihr massenhafter Empfang in Zukunft stattfinden
werden,
wird auch das Sein des bisherigen Zuschauers verändern.
Aus
einer Kultur der Massenmedien wird allmählich eine Individual- und
Gruppenkultur, aus dem broadcasting ein narrowcasting,
aus
Zuschauern werden Besucher, die sich ebenfalls ein Zuhause
einrichten
können, um selber Gastgeber zu sein. Eine vollständige
Symmetrie
ist aber allein schon wegen der Professionalität nicht
möglich.
Dennoch übertrifft die Vielfalt von professionellen und
halb-professionellen
Auftritten im Internet exponentiell das heutige Angebot der
Massenmedien.
Entscheidend ist, dass jeder Empfänger im Prinzip zum
Sender
werden kann, und zwar ohne unüberwindbare technische und
ökonomische
Hürden. Das ist die große Medienrevolution
gegenüber
der Massenmediengesellschaft des 20. Jahrhunderts. Somit besteht die
Herausforderung
der kommenden Gesellschaft nicht darin, wie oft gesagt wird, dass wir
in
einem unentwirrbaren Labyrinth von Informationsangeboten oder, noch
despektierlicher
ausgedrückt, mitten im Informationsmüll versunken
sind.
Das waren wir schon in den Labyrinthen unserer Bibliotheken und im
pausenlosen
Angebot der Massenmedien. Die große Herausforderung besteht in
der
Möglichkeit des bisherigen Empfängers, als Sender aufzutreten.
Was kommt nach
der Massenmediengesellschaft?
Antwort: Eine message society, eine Mitteilungsgesellschaft,
in der die Wissens- und Informationsmonopolisten des 20. Jahrhunderts
zwar
nicht verschwinden, aber eine bescheidenere Rolle spielen. Wenn sie
sich
etwas Aufmerksamkeit erhalten wollen, müssen sie sich auf einen mündigen
Besucher einlassen, der sich wesentlich vom bisherigen bloßen
mündigen Zuschauer unterscheidet. Man kann mit
Recht sagen,
dass schwächere Oligopole zwar nicht notwendigerweise
mündigere
Besucher erzeugen, aber sie eröffnen die Chance der Lockerung der
Abhängigkeit und somit einer höheren Selbständigkeit.
Paradoxerweise
müßten eigentlich die auf Mündigkeit hin orientierten
Massenmedien
froh darüber sein, dass sie einen Teil ihrer Macht verlieren, denn
das ist ihre eigentliche Chance, sich und dem Besucher zu
zeigen,
dass, trotz der zahllosen Konkurrenz, Qualität zählt, und
diese
sogar mit freiwilliger Interaktion belohnt wird, auch mit dem Ergebnis,
dass aufgrund solcher Interaktionen zwischen den Besuchern neue
Synergien entstehen, bei denen der ursprüngliche Gastgeber nur
eine
Nebenrolle spielt. Der Widerstand gegen die Verwandlung von Information
in Infotainment und von Wissensvermittlung in Edutainment,
wozu die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten einen Beitrag
leisten
sollten, ist damit nicht obsolet, sondern er steht in einem breiteren
Kontext,
bei dem neue Allianzen möglich sind und die privaten Konkurrenten
weniger arrogant und selbstsicher auftreten können.
Das
gesellschaftliche Leben
außerhalb der Medien bietet für eine Vielfalt möglicher
sozialer Interaktionen im Netz unterschiedliche Musterbeispiele - so
wie
das Kaffeehaus zum Internetcafé mutiert -, die sich jetzt,
zumindest
teilweise und, wie bei jedem Medium, mit spezifischen Gewinnen und
Verlusten
in die digitale Weltvernetzung übertragen lassen. Der dabei so oft
beklagte Mangel an körperlicher Sinnlichkeit einer face-to-face
Begegnung ist nicht nur dem Internet eigen. Sie trat schon in
verschiedenen
Formen bei der technischen Zerstückelung menschlicher
Mitteilungsmodi
hervor: Sprache ohne Bild, Bild und Sprache ohne Tastsinn und Geruch
usw.
Auch das face-to-face leidet bekanntlich unter den Begrenzungen
von Raum und Zeit. Was uns die Kommunikations- technik lehrt, ist unter
anderem,
dass unser Sein-bei-den-anderen sich in einer Vielfalt von Modi
ereignen
kann und dass dabei der existentielle Mangel am Mit-sein auf
die
eine oder andere Weise zum Vorschein kommt. Deshalb
kommunizieren
wir ja, nämlich da wir mitteilungsbedürftig sind.
Wird durch das
Internet das
journalistische Medien-Ethos ausgehöhlt? Oder ist es vielleicht
so,
dass die Monopolstellungen des Journalismus als unabhängige vierte
Gewalt ins Wanken gerät? Wenn dem so ist, dann bedeutet diese
Entwicklung
zugleich eine Chance für einen Strukturwandel der medialen
Öffentlichkeit. Zur Diskussion steht, wie in einem Medium wie dem
Internet mit einer dezentralen und interaktiven Struktur, die
herkömmliche
hierarchische Struktur der Massenmedien und die von ihnen hergestellte
Öffentlichkeit grundlegend verändert werden (Capurro 2000 und
2000b).
Auf einer vom
Nachrichtenmagazin DER
SPIEGEL
und der Universität Leipzig organisierten Podiumsdiskussion
versuchten
Redakteure von Spiegel Online, n-tv
online und des MDR am
19. April 2000 eine Standortbestimmung ihrer Angebote. Der Vorschlag,
einen
Verhaltens- codex zur Berufsethik von Netzjournalisten zu entwerfen,
stieß
dabei allerdings auf Skepsis. Leo Krause beschreibt in seinem Bericht
über
diese Podiumsdiskussion die Verquickung von Massenmedien und dem
Internet
bei den privaten Anbietern folgendermaßen: "Ein Problem, das ein
werbefreies öffentlich-rechtliches Online-Angebot nicht hat,
beschäftigte
dagegen die privaten Anbieter: Die Verquickung von redaktionellem Teil,
Werbung und E-Commerce." Für eine "strikte Trennung zwischen
Geschäft
und Redaktion" sei es bereits "zu spät", sagte der
stellvertretende
SPIEGEL-Chefredakteur Martin Doerry. Einen Verhaltenscodex für
Netzjournalisten
hält er für nicht mehr durchsetzbar. Er könne sich
maximal
vorstellen, dass Wirtschaftsjournalisten bestimmte Aktien nie handeln
dürften,
so Doerry. Moderator Michael Haller hatte in der von ihm
herausgegebenen
Zeitschrift Message
das Thema Verhaltenscodex wieder in die Diskussion gebracht. Sabine
Müller
von n-tv online
sagte, es sei ein Qualitätsmerkmal für guten
Online-Journalismus,
selbst für eine klare Trennung zwischen Information und Handel zu
sorgen. Sie kritisierte, dass sich Informationsanbieter mit auf
E-Commerce
ausgerichteten Unternehmen zusammentun. Die Spiegel-Redakteure
ließen
es sich in diesem Zusammenhang nicht nehmen, auf das
breitgefächerte
Angebot von Focus-Online
hinzuweisen." (Krause
2000) Der Online-Journalismus ist auf dem Vormarsch. So
berichtet
DER SPIEGEL: "Im Netz vereinigt sich, was Medien zu Medien macht: Ton,
Bild und das geschriebene Wort. Es verzweigt sich immer feiner,
erreicht
täglich mehr und mehr Menschen." (Bredow 1999) Und dennoch sind
die News-Seiten (noch) nicht profitabel.
Unter dem
Titel: "Die Republik
und ihre Journalisten" veröffentlichte DIE ZEIT die Diskussion
zwischen
jungen und altgedienten Journalisten über das eigene Wirken sowie
über die Zukunft der Medien aus Anlaß einer Einladung des
WDR
und der ZEIT. Gastgeber war Bundespräsident Johannes Rau. Zu der
Bemerkung
von Löwenthal, dass "zu viele Journalisten sich der
Gesinnungsethik
verschrieben haben und nicht mehr der Verantwortungsethik", antwortet
Holger
Brandenbusch: "Hier wird ein journalistisches Ethos hochgehalten, das
heute
so nicht mehr anzutreffen ist. Es gibt Zeitdruck, es gibt neue
Techniken,
wir müssen unter ganz anderen Bedingungen arbeiten. Das Internet
wird
die Medien weiter revolutionieren, immer mehr Informationen werden
immer
schneller zugänglich sein, wir Journalisten als Vermittler werden
zum Teil überflüssig." Und Roger de Weck bemerkt: "Die Medien
befassen sich mehr mit sich selber und üben so eine gegenseitige
Kontrolle
aus. Das Internet wird einer breiteren Öffentlichkeit den Zugang
zu
den Originalquellen eröffnen und dadurch vor allem die
Qualitätsmedien
fordern und fördern. Und die Medien sind beinahe die einzige
Kraft,
die sich in diesem Land des Reformstaus für Reformen einsetzt."
(Hrycyk
2000) Vielleicht bringen die Massenmedien sogar das Kunststück
hervor,
sich selbst zu reformieren. Das wäre eine wichtige Reform, zumal
von
Seiten der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten.
Schließlich
möchte
ich auf eine interessante Symbiose zwischen Zeitung und Internet
hinweisen.
Die Website Perlentaucher
stellt
täglich ab 9 Uhr morgens eine Übersicht über die
Kulturteile
der überregionalen deutschsprachigen Zeitungen ins Netz (Frankfurter
Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, tageszeitung, Frankfurter
Rundschau,
Neue Zürcher Zeitung, DIE ZEIT). Grundlage sind
Buchrezensionen,
aber die Tendenz geht in Richtung Feuilletonkritik. Der Perlentaucher
fungiert
dabei als eine Art Moderator in einem dem Netz eigenen, an die
gesprochene
Rede anmutenden freien Stil. "Was folgt daraus?" fragt sich Gustav
Seibt
in DIE ZEIT, und er antwortet: "Mindestens ein erfreulicher
medientheoretischer
Befund: Das Buch und das Netz als Schriftmedien tragen für einmal
den Sieg davon über das Bildmedium Fernsehen. Wenn die Leute mehr
klicken als zappen, werden sie auch mehr lesen als gucken." (Seibt 2000)
2.
STRUKTURWANDEL DER MEDIALEN ÖFFENTLICHKEIT
War die
Gesellschaft des
20. Jahrhunderts wesentlich durch die Massenmedien geprägt und
konnten
diese - dank ihrer Bändigung durch demokratische Rechtsnormen von
der Gefahr der totalitären Inbesitznahme befreit - in den Dienst
der
Demokratie eintreten, stellt sich im 21. Jahrhundert die Frage, ob wir
in den unterschiedlichen Gesellschaften mit wechselnden Interessen,
Geschichten
und Bedürfnissen, die Chancen der Weltvernetzung wahrnehmen und
die
Gefahren des Totalitären meiden. Unter den veränderten
Bedingungen
verlieren die Massenmedien Teile ihrer Monopole und werden selbst zum
Objekt
öffentlicher Beobachtung. Das Internet wird zur Umwelt des Systems
Massenmedien und umgekehrt.
Das ist für die verwöhnten
Monopolisten
eine ungewöhnliche Situation. Sie reagieren mit Warnungen und
Skandalberichterstattungen.
Ein verändertes Medienethos tut not, das den Entwicklungen zu
Beginn
des neuen Jahrhunderts Rechnung trägt. Aufgabe der Medienethik ist
nicht, ein solches Medienethos aus der Schublade zu ziehen, sondern
diejenigen Fragen auszuarbeiten, die durch die Praxis
selbst eine bestimmte
Ausformung bekommen und zur lebendigen Wirklichkeit werden. Dem
moralischen
Fundamentalismus, der nur die Kraft des Faktischen kennt, steht der
ethische
Rigorismus entgegen, der ein überzogenes Vertrauen in die Kraft
theoretischer
Diskurse setzt, alle Differenzen und Präferenzen als rational
lösbar
einschätzt und sogar deren Einebnung ethisch fordert. Diese
Spielart
des Rationalismus - wie wir sie zum Beispiel in der lange Zeit
populären Diskursethik vorfinden - ist aber letztlich
nicht nur
höchst
inhuman, sondern ihre Homogenisierungstendenz entlarvt sich abermals
als
eine zwar in vielen Situationen legitim anzustrebende Haltung, die aber
die Praxis dem Diktat der Theorie und ihrer Ideale opfert (Lay 2000:
272ff).
Die antike
orale Kultur beruhte
auf dem Vorrang der Freiheit der Rede (parrhesia) (freedom of
speech). Die europäische Neuzeit entwickelte auf der Basis der
Drucktechnik und der Aufklärung das Prinzip der Pressefreiheit (freedom
of the press) oder, weiter gefaßt, wie bei Immanuel Kant, das
Prinzip der Zensurfreiheit des gedruckten Wortes im Rahmen einer
relativ
autonomen "Gelehrtenrepublik", welche aber die Menschheit in ihrem
vorurteilsfreien
Wissensdrang repräsentieren sollte. In Zukunft steht die Frage
nach
der Freiheit des Zugangs (freedom of access) zum digitalen
weltumspannenden
Netz im Vordergrund. Für Jeremy Rifkin ist access das
beinah
magische Wort, das die herkömmliche Ökonomie des Marktes
umwälzt
(Rifkin 2000).
Die potentielle
universelle
Verbreitung des gedruckten Wortes sowie seine Fixierung, die eine
kontrollierte
Kritik ermöglicht, entsprach den aufklärerischen Idealen
einer
sich universal wähnenden Vernunft. Dieses Ideal setzte sich vom
Medium
der Oralität ab. Mit dieser Absetzung kehrte die Neuzeit den
antiken
Begriff der Öffentlichkeit um. In seiner Schrift Beantwortung
der
Frage: Was heißt Aufklärung?, in der Immanuel Kant das
Medium
Buch aufklärerisch verklärt, faßt er die Antwort auf
die
gestellte Frage in die bekannten Sokratisch anmutende Worte: "Aufklärung
ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne
Leitung eines anderen zu bedienen." (Kant, Beantwortung, AA VIII, A
481).
Einige Zeilen weiter sagt er noch ausdrücklicher, wie dieses "sich
seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen" zu verstehen
ist, nämlich: "Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat,
einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der
für
mich Diät beurteilt u.s.w." (Kant, Beantwortung, a.a.O. A 482).
In
der Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? (Kant
1923,
AA VIII) betont Kant, dass die Gedankenfreiheit unlösbar mit der
Freiheit
"seine Gedanken öffentlich mitzutheilen" verbunden ist. Die
geistige
Unabhängigkeit besteht für Kant nicht darin, dass
Gedanken, wie nächtliche Schatten vorbeifliegen und "frei sind",
so dass kein
Jäger sie erschießen kann, wie es bei Joseph von
Eichendorff
heißt. Wenn die geistige Unabhängigkeit durch
äußere
Zwänge eingeschränkt oder sogar bedroht ist, dann sucht Kant
keineswegs einen Trost im stillen Kämmerlein der eigenen
Subjektivität
oder hofft, dass der Geist auf wundersame Weise vorbeifliegt, sondern
er
fordert die relative Unabhängigkeit eines äußeren
Mediums,
der "Schriften". Diese Forderung hat einen tieferen Sinn, nämlich
den, dass der Ursprung der "Gedanken" nicht im isolierten Denken,
sondern
im Gespräch zu suchen ist. Will dieses Gespräch sich
prinzipiell
an jedermann richten, also universal sein, so muß es sich
mitteilen
lassen können, denn, was wir denken, ist immer das, was wir mit
anderen
denken und dies läßt sich nur in einem gemeinsamen Medium
vollziehen.
Im Licht der
Geschichte der
letzten zweihundert Jahre zieht aber Jürgen Habermas eine
kritische
Bilanz des Kantischen Programms. Kant rechnete nämlich mit der
Möglichkeit
einer öffentlichen freien Diskussion über das Verhältnis
zwischen den Verfassungsprinzipien und den "lichtscheuen" Absichten der
Regierungen. Dabei rechnete er, so Habermas, "natürlich noch mit
der
Transparenz einer überschaubaren, literarisch geprägten,
Argumenten
zugänglichen Öffentlichkeit, die vom Publikum einer
vergleichsweise
kleinen Schicht gebildeter Bürger getragen wird." (Habermas 1995:
11) Kant dachte an die Öffentlichkeit der "Gelehrten". Was er
nicht
voraussehen konnte, war "der Strukturwandel dieser bürgerlichen
Öffentlichkeit
zu einer von elektronischen Massenmedien beherrschten, semantisch
degenierten
(sic), von Bildern und virtuellen Realitäten besetzten
Öffentlichkeit."
(Habermas a.a.O) Kant konnte also nicht mit den Massenmedien rechnen.
Das
Internet ist aber weder Kants "Leserwelt" der Gelehrten noch Habermas'
transparente Gesellschaft der rational face-to-face
Argumentierenden
(Capurro 2000a, 1996a)
Das 20.
Jahrhundert kannte
bis in die 90er Jahre nur Medien für die Individual- und die
Massenkommunikation.
Diese Trennung kommt deutlich in Vilém Flussers "Kommunikologie"
zum Vorschein (Flusser 1996). Flusser unterscheidet zwischen
"diskursiven
Medien", wie zum Beispiel das Fernsehen, die der Verteilung von
Information
dienen und im wesentlichen eine hierarchische one-to-many-Struktur
besitzen, und den "dialogischen Medien", wie zum Beispiel das Telefon,
wodurch neue Information geschaffen wird, obgleich es natürlich
auch
vortechnische Medien, wie zum Beispiel Kaffeehäuser und politische
Parteien gab und noch gibt, in denen neue Information entsteht. Flusser
befürchtete, dass die Massenmedien die verschiedenen dialogischen
Medien unter ihre Herrschaft nehmen würden. Er rechnete nicht mit
der Möglichkeit eines technischen Mediums wie dem Internet, das
zugleich
dialogische und diskursive "Dispositive" (M. Foucault) vereint.
Ironischerweise
sind es jetzt die Massenmedien, die den Verlust ihrer Monopolstellung
bei
der Verbreitung von Information befürchten. Denn nach der
Internet-Revolution
sind die Medien, wie Manfred Faßler mit Recht betont, und allem
voran
die Massenmedien, nicht mehr was sie waren, und sie werden es nie mehr
sein (Faßler 2000).
3.
DIE DEBATTE UM DIE ECKWERTE EINES KÜNFTIGEN
WELTINFORMATIONSETHOS
In der
Vorbemerkung zu seinem
Buch Mündigkeit im Mediensystem schreibt Peter Voß:
"Denn
was immer uns das Multimedia-Zeitalter beschert - bei dieser
Dualität
von Machern und ihrem Publikum wird es bleiben." (Voß 1998: 10).
Dem ist entschieden zu widersprechen. Das Internet sprengt gerade diese
Dualität von Machern und Publikum und mit ihr die moderne
Asymmetrie
von Sendern und Empfängern. Dementsprechend ändern sich nicht
nur die Koordinaten für das Medien- ethos, etwa im Sinne der
Verantwortung
der Macher gegenüber dem Publikum, sondern auch die der ethischen
Reflexion über dieses Ethos. Die Frage nach "der" Verantwortung
"des"
Senders gegenüber "den" Empfängern wird zur Frage nach "den"
Verantwortungen der Sender/Empfänger gegenüber einer
komplexen
Weltöffentlichkeit. Der Rahmen dieser Verantwortungen ist dann
nicht
mehr allein durch ein journalistisches Ethos gegeben, sondern er
betrifft
verschiedene Sender-Moralen in einem Medium. Ein Weltinformationsethos
kann sich dabei auf die Menschenrechte als das gemeinsame Dach einer
minimalistischen
Moral berufen, aber dies ist nur der Ausgangspunkt für das
Aushandeln
der Differenzen, d.h. der unterschiedlichen Rücksichtnahmen und
Interpretationen.
Voß fragt
sich, ob
es eine besondere Medienethik und Medienmoral gibt und ob sie
primär
ein Problem der "Macher" ist. Dazu ist aber zu sagen, dass der
Unterschied
zwischen Ethik und Moral, also zwischen der Aufgabe der Reflexion
(Ethik)
über gelebte Normen (Moral), ein sehr entscheidender,
zunächst
von Aristoteles pointiert ausgearbeiteter Unterschied ist. Bei
Voß
werden aber beide Begriffe undifferenziert - "die Frage nach Ethik und
Moral der Medien" (Voß 1998: 10) - nebeneinander gestellt und als
Synonyme gebraucht. Gleichwohl ist Voß' Buch ein Beitrag zur
Medienethik,
sofern nämlich der Verfasser über verschiedene theoretische
Begründungen
einer Medienmoral fragt, anstatt einfach von einer gegebenen
Moral
auszugehen. Natürlich ist die Aufgabe der Reflexion über
gelebte
Normen nicht primär Sache der Medienmacher als solche, auch wenn
diese
über ihr Tun moralisch, d.h.mit Blick auf vorgegebene gesellschaftliche
Normen, argumentieren und reflektieren sollten, ohne diese aber
notwendigerweise
selbst in Frage zu stellen. Eine solche Infragestellung ist in der
Praxis
meistens weder nötig noch möglich. Dies ist Aufgabe der Ethik
als wissenschaftliche Disziplin.
Voß fragt
sich, ferner,
welche Rolle der Begriff der "vierten Gewalt" spielt. Diese Frage ist
jetzt
in Zusammenhang mit der Weltvernetzung neu und anders zu stellen, als
dies
in der Mediengesellschaft des 20. Jahrhunderts der Fall war.
Legislative,
Judikative und Exekutive sind im Weltmaßstab anders möglich,
als dies bei Nationalstaaten oder bei Staatenbündnissen der Fall
ist.
Insofern ist der Begriff einer "vierten Gewalt" teilweise obsolet.
Nicht
obsolet ist aber der Gedanke, dass die neue mediale Öffentlichkeit
eine dem internationalen Kapital vergleichbare Weltgewalt ist. Wenn wir
außerdem Politik und Recht als internationale oder transnationale
Gewalten verstehen, hätten wir das Weltgeviert:
Information
- Kapital - Politik - Recht als Grundstruktur der Weltgesellschaft des
21. Jahrhunderts, wobei das globale und digitale Verhältnis von
Kapital
und Information den Leitfaden für das Verständnis der lokalen
Veränderungen und Entscheidungen in Politik und Recht geben.
Diese
relative Abhängigkeit von Politik und Recht - auch und gerade wenn
sie sich als Weltpolitik und internationales Recht präsentieren -
von Weltinformation und -kapital ist zwar nicht neu, aber die neuen
digitalen
Strukturen stellen diese Mächte vor andere Herausforderungen, als
dies z.B. bei den Massenmediengesellschaften des 20. Jahrhunderts der
Fall
war. Während im lokalen Maßstab Recht und Politik die
bestimmenden
Mächte bleiben, müssen sie zugleich auf die
Einschränkung
ihrer Macht durch globale und dezentrale Informationsnetze
Rücksicht
nehmen.
Hier liegt auch
m.E. die
Stärke der Argumentation eines Hans Küng, wenn er ein
"Weltethos
für Weltpolitik und Weltwirtschaft" fordert (Küng 1998). Wir
brauchen so etwas wie eine soziale Informationswirtschaft, die
auf
die Bedürfnisse der Schwächeren in der kommenden
Weltvernetzung
aktiv Rücksicht nimmt. Die Moral befindet sich
gegenüber
dem Recht im Kontext einer vernetzten Weltgesellschaft in einer
paradoxerweise
stärkeren Position, sofern diese nicht durch eine Weltregierung
eingenommen
wird und auch nicht eingenommen werden sollte. Zum letzteren raten uns
alle mißlungenen Versuche der Weltreiche mit ihren katastrophalen
Auswirkungen. Eine solche universal-moralische Sichtweise
läßt
sich zumindest teilweise an einer Institution, wie etwa den
Vereinten
Nationen, und dabei wiederum bei unterschiedlichen Organisationen (wie
z.B. UNESCO, WTO, WIPO, ITU) binden, so dass sie einen möglichen
politischen
Rahmen für das Aushandeln der Differenzen (Meinungen, Interessen,
Traditionen) darstellen kann. Zugleich spielen gerade im Medium der
Weltvernetzung
die Nicht-Regierungs- Organisationen (NGOs) eine immer wichtigere Rolle
für den dynamischen Prozeß der Bildung eines Weltinformationsethos.
Von der
Netiquette über
die Wahlen für die ICANN (Internet Corporation for Assigned
Names
and Numbers) bis hin zu Organisationen wie The Internet Society und
dem W3-Consortium bilden sich Internet-governance-Strukturen,
die
sich gegenseitig ein- und verschränken. Die globalen Differenzen
im
Weltgeviert von Kapital, Information, Recht und Politik spiegeln sich
darin
wider. Das Netz ist eine Öffentlichkeit, die sie nur teilweise
auszufüllen
und zu bestimmen vermögen. Dies bietet die Garantie dafür,
dass
sie die Spannungen ihrer jeweiligen Gewaltansprüche nicht
überziehen.
In diesem Sinne stellt das Netz eine Art kategorischen Imperativ dar: Handle
so, dass die Maxime Deines Handelns sich mit einer vernetzten
Weltöffentlichkeit
verträgt. Allerdings ist eine Ethik des Imperativs in
Zusammenhang
mit einer Ethik des Angebots zu sehen, worauf ich später
zu
sprechen komme.
Während
die Wirtschaft
naturgemäß so wenig staatliche oder politische Regulierung
wie
möglich haben will, richtet sich das politische Augenmerk auf die
unterschiedlichen Differenzen, von denen der oft beschworene digital
divide, also die Kluft zwischen denen, die einen Zugang zum
Internet
haben, und denen, die ihn noch nicht haben, die offenkundigste ist.
Andere
strittige Differenzen betreffen die gesendeten Inhalte und
schließlich
auch die unterschiedliche kulturelle Wahrnehmung von dem, was
schutzbedürftig
ist und was nicht. Die Weltinformationsgesellschaft des 21.
Jahrhunderts
befindet sich dabei in einem Spagat, wovon z.B. die Enthüllungen
der
Privatsphäre oder die der politischen und ökonomischen
Skandale
durch die Massenmedien des 20. Jahrhunderts uns einen Vorgeschmack
gaben.
Sie entfaltet sich in einem Medium, wo im Prinzip nicht nur jeder, wie
bei den bisherigen Massenmedien, alles erfahren kann, sondern wo jeder
zugleich allen etwas mitteilen kann.
Die Kehrseite
dieses medialen Sendungsuniversalismus ist die Angst des
Senders vor dem
Mißbrauch
seines digitalisierten Auftritts. Wer Information enthüllt und
sich
dabei nicht in der Position eines starken quasi-monopolistischen
Senders
befindet, muß befürchten, dass der Empfänger seine
Daten
für die Zwecke seiner Sendung wiederum manipuliert,
verformt
und für Zwecke ge- oder mißbraucht, die dem Sender nicht
genehm
sind. Da aber diese Situation nur teilweise regulierbar ist, da es
nicht
möglich ist, a priori alle Möglichkeiten des
Datenmißbrauchs
vorauszusagen und die Sendungen in einem prinzipiell offenen und
dezentralen
Netz zu kontrollieren, stellt sich folgendes Informations- paradoxon
heraus:
Wer in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts als Sender
auftritt,
will zugleich Information enthüllen und verhüllen,
will
sich mitteilen und sich vor den anderen schützen. Die
Lösung
eines solchen Spagats heißt: Informationsautonomie.
Informations- autonomie
bedeutet nicht, wie Rainer Kuhlen mit Recht betont (Kuhlen 1999), Wissensautonomie,
d.h. der Glaube alles selber zu wissen, sondern in der Lage zu sein,
sich
der Informationsmittel einer komplexen Medienwelt für die eigenen
Zwecke zu bedienen. Sofern aber eine solche Autonomie auf einer Vertrauensbasis
beruht, bleibt sie immer relativ, d.h. heteronom. Denn wer Vertrauen
sagt,
meint zugleich immer Ausbildung zum kritischen Mißtrauen, auch
und
gerade, wenn die Vermittlungsmechanismen nicht mehr nur die
Monopolisten
von einst, sondern die vielen elektronischen Informationsassistenten
sind.
Das selbstbestimmte Individuum ist immer schon das selbstbestimmte
Individuum und insofern ein mit-geteiltes, also ein
mit-anderen-geteiltes
Selbst, das sich nur in Relation, d.h. in Identität und Differenz
zu anderen und deren Mitteilungen oder messages fassen (lassen)
kann.
Ein klassisches
Beispiel
für den Informationsspagat von Enthüllen und Verhüllen
bieten
die Veröffentlichung der Lewinsky-Untersuchungen im Internet sowie
die unterschiedlichen politischen Gruppierungen, die ihre Botschaften
und
Aktionen zusätzlich, parallel oder ganz außerhalb der
massenmedialen
Distributionskanäle verbreiten. "Öffentlichkeit" im Sinne
einer
allein von den Massenmedien des 20. Jahrhunderts hergestellten
Öffentlichkeit
ist uns in der Tat, wie Voß zu befürchten scheint,
durch
das Internet allmählich "abhanden gekommen". (Voß 1998: 10)
Der "Großer Bruder" trat aber bisher nur auf in einer vom Monopol
der Massenmedien geprägten Gesellschaft nicht selten als Spuk,
manchmal
aber auch real. Der wiederholte Hinweis auf den Informationsmüll
in Zusammenhang mit dem Internet ist so zutreffend und
unzutreffend
wie die Rede vom Informationsmüll der Massenmedien - die Beispiele
sind so zahlreich wie der sprichwörtliche Sand am Meer.
Auch die
Gutenberg-Technologie
produziert bekanntlich Informationsmüll, der seit Jahr und Tag in
allen privaten und öffentlichen Bibliotheken dieser Welt sorgsam
gesammelt,
erschlossen und für die Suchenden auch über das Internet
zugänglich
gemacht wird. Man darf also in der einseitigen Kennzeichnung
des
Internet als Informationsmüll auch eine abermalige
Defensivstrategie
der Massenmedien erkennen, die von der Mediokrität ihrer zahllosen
Produktionen ablenken will, weil sie sich vor der Konkurrenz
fürchtet.
Das Internet ist kein "globaler Stammtisch" und auch nicht das Ende
dessen,
"was wir noch Bildung nennen" (Voß 1998: 10). Gerade der
Bildungsbegriff
verweist in seinem Wortstamm auf das Formen und Gestalten und steht
wort-
und ideengeschichtlich in der Abstammungslinie des lateinischen
Begriffs informatio, was ursprünglich so viel wie 'etwas
eine Gestalt
geben' heißt, auch im übertragenen Sinne von Formung der
Persönlichkeit,
also von Erziehung, Bildung und Unterrichtung (Capurro 1978). Wenn wir
uns im digitalen Medium in-formieren und dabei auch dieses
Medium
aktiv formen, dann bedeutet dies in der Tat eine Transformation dessen,
"was wir noch Bildung nennen", sofern dieses nämlich zunächst
von der Druckerpresse umgeformt und von den Massenmedien überformt
wurde.
Mündigkeit
im Mediensystem?
Hat Medienethik eine Chance? Fragt sich Peter Voß (Voß
1998),
wobei hier die Frage nach einem Medienethos gemeint ist, denn
die
medienethische Reflexion ist naturgemäß nur von schwachem
und
mittelbarem Charakter. Was sich letztlich durchsetzen wird, kann nicht
am Schreibtisch des Philosophen oder Wissenschaftlers entschieden
werden,
auch wenn dieser seinen Anteil an der Gesamtverantwortung
übernehmen
muß. Die etablierten Massenmedien müssen sich endlich
gefallen
lassen, dass es ein Medium gibt, das sie relativiert und sie sozusagen
mit den eigenen Waffen schlägt. Das führt aber nicht zu einer
friedlichen Koexistenz zweier Medien, sondern zu einem neuen sehr
komplexen
und sehr dynamischen System, in dem nicht von vornherein feststeht,
welcher
Sender von wem wie lange die Aufmerksamkeit der Empfänger auf sich
zieht, die wiederum jederzeit zu Sendern mutieren können.
Die
knappe
Ressource Aufmerksamkeit ist nicht mehr allein und vorwiegend
durch
die Zuschauerquoten zu messen. Denn die Zuschauer sind zugleich,
zumindest
potentiell, Programmacher und allemal Besucher. Der Versuch, die
Massenmedien
durch Interaktivität zu ergänzen und sie so als
Internet-kompatibel
erscheinen zu lassen, wiederholt nur die herkömmliche
Sender-Empfänger-Struktur
in abgeschwächter Form. Die Geschäftsbedingungen haben sich
aber grundlegend verändert. Damit ist nicht gesagt, dass
in naher
oder ferner Zukunft das Interesse an einer passiven Aufnahme
gänzlich
verschwinden wird. Denn es wird natürlich immer Empfänger
oder
Besucher geben, die nicht, aus welchen Gründen auch immer, zu
Sendern
oder Gastgebern mutieren wollen oder können. Außerdem
ändern
sich die Sitten oder mores einer über Jahrzehnte geformten
massenmedialen Öffentlichkeit nicht von heute auf morgen, trotz
der
atemberaubenden Verbreitung des Internet.
Wir stehen am
Anfang einer
Entwicklung, und nur eines scheint sich deutlich abzuzeichnen,
nämlich
dass die mediale Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts sich
zunächst
graduell, auf längere Sicht aber grundsätzlich von der des
20.
Jahrhunderts unterscheiden wird. So zumindest meine Vermutung. Es ist
unwahrscheinlich,
dass diese Entwicklung sich in allen Ländern und Regionen der Welt
in derselben Geschwindigkeit vollzieht. Welche Auswirkungen sie auf die
gewachsenen medienmoralischen Strukturen haben, und in welcher Art die
Hybridisierung mit den bisher herrschenden Medien stattfinden wird,
läßt
sich kaum voraussagen.
Demgegenüber
gilt nicht
einem larmoyanten ethischen Relativismus zu frönen, sondern eine
wache,
differenzierte und auf die Wünsche und Ängste des Anderen
achtenden
Sensibilität zu kultivieren, die in vorsichtiger und stets
vorläufiger
Weise sich weniger um kodifizierte Soll-Sätze bemüht, als um
das Zustandekommen von gelingender zwischenmenschlicher sowohl medialer
als auch unmittelbarer face-to-face Interaktion. Deren
Maßstäbe
aber sind nicht notwendigerweise mit Hilfe rationaler Argumentation und
mit dem Ziel eines gemeinsamen Konsenses zu gewinnen, sondern sie
entstehen
primär aus den jeweiligen individuellen Geschichten und
Erfahrungen,
die dem einen so, dem anderen so Anlässe für
verschiedene
Präferenzen oder Irritationen geben. Das erfordert eine ethische
Reflexion,
die weniger auf Imperative und mehr auf Desiderative
achtet,
die weniger preskriptiv und mehr optativ ist, die sich
also
weniger vom Sollen als vom Guten leiten läßt. Das Gute ist
aber
nur in der Brechung des Pluralen, auch und gerade einer vernetzten
Pluralität,
zu haben. Das Ziel ist weniger der Konsens, als vielmehr die Achtung
vor
den Differenzen.
Wenn hier
abermals das postmoderne
Gespenst des anything goes beschworen wird, dann ist das ein
moderner
rationalistischer Reflex, der sich vom Schein der Perspektivität
ängstigen
läßt, ohne aber auf die latente Frage zu achten, die den
Kern
einer neuen - und wohl alten - Moral ausmacht, nämlich: Möchtest
Du ...? Ein solches Angebot eilt dem Anderen zu Hilfe,
indem
es sich zunächst seinem/ihrem Wunsch öffnet, bevor es mit
einem
Ge- oder Verbot sein Handeln und das des Anderen präformiert. Es
ist
nicht primär darauf gerichtet, ihn als gleichwertigen Partner in
einer
rationalen Diskussion zuzulassen, um ihn dann mit der Kraft des
besseren
Arguments vom Gegenteil seiner Meinung zu überzeugen, sondern es
zielt
auf den Anderen in seiner Sorge, diskutiert nicht mit ihm, sondern fragt
ihn danach, und bietet ihm gegebenenfalls etwas an. Wir könnten
von
einer Ethik des Angebots sprechen, die umfassender und
pluralitäts-freundlicher
ist als eine Ethik des Ge-/Verbots. Mir scheint, dass ein
universales
Medium wie das Internet sich auch im Horizont einer solchen Ethik
reflektieren
und in-formieren läßt. Ob es dadurch zu einem Weltinformationsethos,
das eine Vielfalt von Moralen in sich birgt, tatsächlich kommt,
ist
eine Frage, die die Reflexion nicht beantworten kann. Sie kann aber
eine
solche Moral anvisieren, sie also dem Denken und Handeln in der
digitalen
Weltvernetzung anbieten, zumal denen, die nach einer solchen suchen
(Capurro
2000, 1999, 1995).
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