Einleitung
Der
Titel
dieses Beitrags bezieht sich auf den philosophischen und theologischen
Ansatz von Juan Carlos Scannone, der in Wechselwirkung mit den
Ansätzen von R. Kusch, C. Cullen, E. Sinnott, J. Seibold u.a.
steht und eine beträchtliche Wirkung in Lateinamerika hat.
In
Zusammenhang mit der Diskussion um die "Philosophie der Befreiung"
betont Scannone, um es vorweg zu sagen, die ethisch-kulturelle
Dimension menschlichen Zusammenseins und unterscheidet sich dadruch von
marxistisch-orientierten Richtungen, wie etwa O. Ardiles, sowie von
rein marxistischen Philosophen, wie H. Cerutti.
Der
zentrale
Begriff "Weisheit des Volkes" ("sabiduría popular") wirkt in der
Übersetzung etwas schillern, da der deutsche Begriff 'Volk' mit
zum Teil negativen Konnotationen befrachtet ist und nicht unmittelbar
die Identität it den Armen und Unterdrückten zum Ausdruck
bringt. Ein Gegenbeispiel zu den negativen Konnotationen – etwa im
Falle des Volksmythologems der Nazis – stellt der Leipziger Aufruf "Wir
sind das Volk!" dar. Ursprünglicher als der Konsens scheint mir
der Dissens bzw. der Widerstand zu sein. Ich komme zu dem Schluß
dieses Aufsatzes darauf zurück.
Im
folgenden
werde ich zunächst Scannones Denkweg in seinem Ursprung bei
Maurice Blondel darstellen. Der Weg führt zur ethischen Erfahrung
und ihre Vermittlung durch die "Weisheit des Volkes", die ich in einem
zweiten Schritt thematisieren werde. Im dritten Teil werde ich auf die
Zusammenhänge dieses Ansatzes mit dem philosophischen Paradigma
des Apriori der Kommunikationsgemeinschaft (K.O. Apel) kurz eingehen.
1. "Sein und Inkarnation"
Grundlage
von
Scannones Denken bildet seine Interpretation der Seinserfahrung in
Blondels "L'Action" und zwar im Sinne einer Vermittlung bzw.
"Inkarnation" des Seins im Seienden. Für Blondel ist diese
Vermittlung die "action", die er als ein Geschehen der
Seinspartizipation bzw. als den Ort versteht, an dem sich der Dialog
zwischen der faktischen Freiheitserfahrung und der Erfahrung eines sich
entziehenden Existenzgrundes vollzieht. So ist die Logik der Aktion
eine Logik der Freiheit und sie zeichnet sich dementsprechend nicht
durch eine allgemein-notwendige dialektische, sondern durch eine
faktsiche und sich nicht im "absoluten Wissen" aufhebende dialogische
Struktur aus. Mit anderen Worten, das "noetische" Element der
Seinserfahrung wird immer im "pneumatischen" d.h. konkreten oder
"inkarnierten" Moment ('kairos') vollzogen, wodurch erst die Differenz
('dia') in diesem durchaus 'logischen", aber eben freien Prozeß
im Mittelpunkt steht.
Wir
haben
hier bereits die Grundlagen für Scannones Kritik sowohl einer
Ethik, die lediglich die Fundamente der neuzeitlichen
Subjektivität berücksichtigt und diese auf eine ideale
transzendentale bzw. metahistorische Struktur zurückführt –
wodurch also Faktizität, Geschichtlichkeit und Inkarnation nur
eine Sekundäre Rolle spielen – als auch einer Ethik, die sich an
einer dialektischen Praxis unter Anleitung von supponierten
historischen Gesetzmäßigkeiten orientiert. Als Gegenspiel
zur Hegelschen "absoluten Wissenschaft" tritt Blondels "sagesse" ein.
Allerdings konnte Blondel keine auf Inkarnation und Kommunion
aufgebaute praktische Wissenschaft im Sinne einer"Logique
Généralle" - wovon etwa die Logik Aristoteles' oder
Hegels Sonderformen wären - ausführen. (2)
2. Ethik und "Weisheit des
Volkes
In
seinem
Denkweg sucht Scannone eine, wie ich sie nennen möchte, im
lateinamerikanischen 'Ethos' inkarnierte
Logik, wobei es sich hier nicht um einen folkloristischen Zusatz
zum abendländischen Denken handelt. Es geht statt dessen um ein
Denken, das von der eigenen Inkarnation in den unterdrückten
Völkern Lateinamerikas ausgeht, sich aber von den an Marx und
Hegel orientierten Modellen im Sinne von "totalisierenden Projekten"
unterscheidet. (3) Eine solche Totalität wird nicht dialektisch,
sondern - so Scannone an die mittelalterliche Analogie anknüpfend
- "analektisch" durchbrochen, d.h. sie öffnet sich einer
unvorhersehbaren Zukunft, die sich aber nicht abstrakt, sondern
inkarniert im "Angesicht der Armen" kundtut.(4) Die 'Armen' sind dabei
auf der ainen Seite die Besitzlosen, aber zugleich auch – so Scannone
im Anschluß an Lévinas – die Anderen schlechthin, sondern
sie, von der Armut ihrer Freiheit aus, jedem Versuch einer
Vereinnahmung widerstehen.
Dieser
Widerstand gilt vor allem gegenüber dem auf Macht und Profit
orientierten Willen der Moderne, so daß Scannone von dieser
Erfahrung her den eigenen "Logos" und die eigene "mestizenhafte Kultur"
der Völker Lateinamerikas wachsen sieht. Als charakteristisch
für dieses "kulturelle Mestizentum" hebt Scannone vor allem die
religiöse Transzendenzerfahrung hervor, welche an der Wurzel der
Widerstandsfähigkeit liegt. Der eigene 'Logos' ist das Produkt des
Einbruchs des Christentums in die ursprünglich als "chtonische und
numinöse" erfahrene Dimension des Göttlichen. Aus diesem in
der Transzendenzerfahrung wurzelnden Widerstand gegen die Quintessenz
der Modernität bzw. gegen den Willen zur Macht befinden sich die
Völker Lateinamerikas in einer Situation von "Postmodernität"
und "Postchristentum", wobei das "Post-" eine Chiffre für eine
noch kommende, hiermit bloß negativ oder symbolisch angesprochene
Zukunft darstellt.
Die
Weisheit
des Volkes appelliert dadurch nicht an ein folkloristischen Denken,
sondern an die inkarnierte Vermittlung des Wir des Volkes, die ethische
Dimension also, mit der religiösen Dimension des Symbols. Dabei
knüpft Scannone – an Anschluß an R. Kusch – an jene
Erfahrung der Faktizität, die im Spanischen 'estar' ('dasein',
"sich befinden', im Unterschied zu 'ser', 'sein') zum Ausdruck kommt.
(5) "Zwei Wege stehen", so Scannone" "offen, um zu erklären, was
mit dem 'nosotros estamos' ausgedrückt werden soll: Der
angemessenere wäre, auf den Spuren einer Phänomenologie der
Weisheit des Volkes zu wandern, die in diesem Gedanken ihren Anfang
hat. (6) Ein solcher Weg ist der von C. Cullen in seiner
"Fenomenología de la crisis moral" begangene. (7) Der andere Weg
ist ein "abstrakterer und analytischeren" und er führt u.a. zu den
folgenden Einsichten:
"Gerade sein
Streben
nach Gerechtigkeit und die Anerkennung ihrer inneren Verbindung mit der
Weisheit und der Wahrheit sind für den Einwohner Lalteinamerikas
charakteristisch. Dennoch bedeutet eine solche Verwandschaft für
uns nicht eine volle Übereinstimmung der Ethik mit philosophischen
Auffassungen jüdischer Prägung, wie etwa denen Bubers und
Lévinas'. Diese nämlich vernachlässigen das
symbolische, das chtonische und das leibgewordene Moment, das sowohl im
Ethischen als auch im Religiösen gegeben ist. Für uns ist das
ethische Denken nicht nur die Ich-Du-Beziehung, sondern es enthält
eine ethisch-politische
Komponente, und es umfaßt nicht nur transzendente und universale
Inhalte, sondern auch den des geokulturellen Raums. Diese
Gesichtspunkte sind beide in dem Begriff 'wir' als Volk (organische Gemeinschaft) mit
inbegriffen." (8)
Scannone hebt, Kusch folgend, die Parallele von 'estar' zum
Heideggerschen "Sein" hervor, wobei er den Unterschied zwischen einem
vom 'logos' her verstandenen "Sein" im frühen Heidegger und jene
sich der Prädikation entziehenden Dimension ("lethe") von Wahrheit
("aletheia") betont. (9) 'Estar' kennzeichnet also eine weder auf den
'logos' noch auf den 'ethos' reduzierbare symbolisch-religiöse
Dimension, die im Unterschied zu Ricoeurs Symbolbegriff und zu
Heideggers "Sein" vom "kulturellen Mestizentum" Lateinamerikas her als
"chtonisch und numinos" aufgefaßt wird. Die "sabiduría
popular" stellt – im Sinne eines "logos sapiencial" – die Vermittlung
zwischen dem "Wir" des Volkes (ethische Dimension) und der
religiösen Dimension des Symbols dar.
Die
Dimension
des 'estar' ist also die ethische Dimension im Sinne etwa der
"geistigen Wohnung" bzw. der Sittlichkeit. Es entspricht, so Scannone,
dem griechischen 'ethos' (mit 'eta'). Davon unterscheidet er die
ethisch-eschatologische Dimension zum Anderen hin im Sinne
Lévinas' ('ethos' mit 'epsilon'). (10) Das 'estar' ist, in
diesem zweiten Sinne, vor-ethisch und bezeichnet eine
gewissermaßen metaphysische Zugehörigkeit unseres
gemeinsamen 'Da-seins' vor jeder ethischen Entfernung. Es ist also
zweideutig. Es wird erst durch die ethische Instanz vermittelt, ohne
daß aber diese ethische Instanz davon ableitbar wäre. Das
Kennzeichnende des Ansatzes von Scannone ist aber, daß er weder
das "Wir" noch das "estar" trennt, sondern sie in ihrer
ursprünglichen Einheit ("nosotros estamos") zum Angelpunkt seiner
Argumentation auf einer phänomenologischen Ebene macht. (11) Von
einer spekulativen Ebene aus stellt sich für Scannone die
"Weisheit des Volkes" als Mittler zwischen dem "estar" und der
ethischen Instanz. Dabei läßt sich aber der 'logos' der
Volksweisheit nicht absolut, sondern nur analog fassen. Die
ursprüngliche Dimension des 'estar' ist also für Scannone
keine Begründung der Ethik, obwohl sie dieser – logisch, nicht
chronologisch – vorausgeht. Das Eigentümliche unseres menschlichen
'estar' ist, daß dieses "auf der Erde" ist ("nosotros estamos en
la tierra"), daß es also zugleich
(!) kulturell ('ethisch' mit 'eta') und eschatologisch ('ethisch' mit
'epsilon') ist. Die lateinamerikanische Erfahrung setzt den Akzent auf
jenes "auf der Erde".
Scannone
weist auch auf die notwendige Vermittlung der "Weisheit des Volkes",
die also kein letztes Kriterium bzw. keine Letztbegründung der
Ethik darstellt, mit dem positiven Elementen der modernen
Rationalität bzw. mit dem, was Heidegger das "Gestell" nannte,
hin. Der Widerstand zum "Gestell" bedeutet keine bloße
Opposition, sondern die Möglichkeit, dieses von der "Weisheit des
Volkes" aus zu denken. (12)
Somit
verschmelzt Scannone in seiner Sprache und in seinem Ansatz jene drei
Kulturen, welche das Charakteristikum des Mestizentums Lateinamerikas
ausmachen, nämlich der indianisch-amerikanischen, der
griechish-römischen und der jüdisch-christlichen. (13)
3. Das Apriori der
Kommunikationsgemeinschaft und das ethisch-historische Wir
Wie ist
das
Verhältnis dieses Ansatzes eines "ethisch-historischen Wir" zum
philosophischen Paradigma der "transzendentalen
Kommunikationsgemeinschaft"? (14) Scannone würdigt den Ansatz
K.-O. Apels als einen "wichtigen Schritt" gegenüber Hegel und
Husserl, indem Apel erstens die Kommunikationsgemeinschaft als Apriori
auffaßt und sie auch darüber hinaus als ethisch normiert
versteht. Apel überwindet die Kantische "transzendentale Einheit
der Apperzeption" mit ihrem monologischen Subjekt, indem er sie also
dialogisch auffaßt, aber er zieht, so Scannone, nicht alle
Konsequenzen aus diesem Schritt. Er öfnet sich nicht der Erfahrung
der radikalen Alterität bzw. dem Unendlichen im Sinne
Lévinas', wo das Subjekt keine Rückkehr zu sich findet,
sondern in einer radikalen 'Ex-position' bleibt. Lévinas
wiederum, wie schon erwähnt, erreicht nicht die Auffassung des
"Wir", welche die ethische Alterität in sich aufnimmt und keine
Totalität bildet.
Indem
Apel
den Zusamamenhang zwischen der idealen und der realen
Kommunikationsgemeinschaft hervorhebt, den Erfahrungsbegriff aus der
Enge des Empirismus herausnimmt und ein "dialektisches Verhältnis"
von Identität und Differenz zwischen den verschiedenen
"Sprachspielen " durchführt, gelangt er zu einer Überwindung
der Transzendentalphilosophie. Dabei stellt aber für Scannone
Blondels Auffassung der Aktion eine bestimmte Thematisierung jedes
ontologischen Moments, daß die Interaktion zwischen Subjekten
charakterisiert und bei Apel unberücksichtigt bleibt.
Außerdem sieht Scannone in der von Lévinas thematisierten Erfahrung des Anderen bzw. der
Exteriorität eines gegenüber der Apelschen tiefere bzw.
zutreffendere Bestimmung der Auffassung einer ethischen
Kommunikationsgemeinschaft.
Von
dieser
doppelten Kritik aus weist er auf die Möglichkeit, vom Apriori der
Kommunikationsgemeinschaft zum "ethisch-historischen Wir" zu gelangen,
hin. Es geht dabei zum einen
um eine Vertiefung der Apelschen Überwindung des transzendentalen
Idealismus durch eine Hervorhebung der Geschichtlichkeit der
Kommunikationsgemeinschaft sowie durch eine Auffassung der Einheit des
'logos' auf der Grundlage der Analogie. Die Kommunikationsgemeinschaft
setzt die Freiheit der agierenden Subjekte voraus, die aber nur dann
neue geschichtliche Veränderungen vollbringen können, wenn
sie sich der jeweiligen radikalen Alterität des Anderen
öffnen. Dabei bleibt die Differenz zwischen Theorie und Praxis
erhalten, bzw. der 'logos' der Freiheit läßt sich nicht in
der Theorie 'aufheben'. Somit vollzieht die Reflexion der Kommunikation
(genitivus subjectivus und objectivus!) eine Wende, von wo aus die historisch-kulturelle Pluralität
nicht nur respektiert, sondern in ihrer analogischen Einheit gedacht werden
kann. Die Universalität
wird zu einer historisch-kulturell
situierten. "Aus diesem Grund", so Scannone wörtlich, "ist
es möglich, die Dialektik, die Apel diesseits von Idealismus und
Materialismus stellt, im Sinne einer Dialektik (oder besser,
"Analektik") zu reinterpretieren, deren Prinzip nicht bloß ideal
oder zukünftig ist, sondern bereits sowohl in als auch jenseits
der empirischen Realität ist, indem es sich 'schon jetzt, aber
noch nicht' gibt." (15)
Es geht
aber
Scannone, zum anderen, um den
Zusammenhang von Ethik und Geschichtlichkeit, d.h. um den Ausbruch aus
der Transzendentalphilosophie auf der Grundlage der ethischen Erfahrung
der Alterität.
"In
dieser
Erfahrung wird der andere als
der andere in und über
sein Angesicht hinaus erfahren: darüber hinaus, nicht weil der andere hinter im steht, als ein Ding an
sich, oder von ihm räumlich entfernt wäre, sondern weil der
andere mit seiner Freiheit, Gratuität und Neuheit auf kein Apriori
des Ich rückführbar ist, und von diesem aus nicht abgeleitet
werden kann: Seine Transzendenz ist nicht physisch, sondern ethisch
(ist Freiheit) und deshalb handelt es sich um eine in einem neuen Sinne
meta-physische Transzendenz." (16)
Von hier aus sind jeweils positive bzw. negative Modi der
Verwirklichung der Kommunikationsgemeinschaft vorstellbar, je nachdem,
ob das ethische Verhältnis in der einen oder anderen Weise
zustande kommt. Im Gegensatz zu Apel aber läßt sich für
Scannone die historische Verwirklichung der idealen
Kommunikationsgemeinschaft nicht auf transzendentale Art "postulieren",
sondern nur ethisch-historisch fordern. Dabei ist aber die fordernde
Instanz nicht die eine
Freiheit selbst, sondern sie wächst sozusagen aus dem freien
Auf-ruf einer anderen
Freiheit, an die dann die eine
Freiheit Antwort gibt, bzw. wofür sie dann verantwortlich ist. Die
Forderung ist dann also nicht mehr a priori ableitbar, sondern
lediglich a posteriori verstehbar. Scannone räumt ein, daß
die Arbeit der 'prima philosophia' darin besteht, daß die
Reflexion sich dem 'logos' der Ethik, der Geschichte und der Freiheit
öffnet und diese Offenheit im Sinne eines unverfügbaren, aber
inkarnierten Geschehens als eine solche thematisiert.
Ausblick
Zum
Schluß möchte ich Scannones Auffassung der "sabiduría
popular" mit dem Ursprung der abendländischen 'praktischen
Philosophie' in Berührung bringen und einige
Schlußfolgerungen für den weiteren Dialog über
Ethikbegründung in Deutschland und Lateinamerika ziehen.
Die
"sabiduría popular" ist kein romantischer Mythos, sondern steht
in der Tradition der aristotelischen Ethik im Sinne einer von jedem (!)
zu leistenden Reflexion, die weder 'episteme', also ein Wissen des
Allgemein-Notwendigen, noch 'techné', also ein Wissen des
Herstellbaren, sondern ein Modus der Reflexion 'sui generis' ist, die
Aristoteles "phronesis" nennt.
Gegenüber
dem auf der modernen Rationalität basierenden idealen
Kommunikationsgemeinschaft hebt der Begriff der "sabiduría
popular" jenen 'gemeinen' Prozeß der Reflexion am Einzelfall
hervor, wodurch gerade die erstrebte allgemeine bzw. ideale
Gesetzmäßigkeit ihre faktische und historische Begrenzung
findet. Nicht die Frage eines kontrafaktisch geforderten Konsenses –
unter der führenden Leitung der 'Experten' einer "Diskursethik" –
steht also im Vordergrund, sondern das praktische Erlernen von
Entscheidungen in jenen Angelegenheiten, von denen es
'naturgemäß' keine Wissenschaft ('episteme') geben kann.
Diese sind aber die eigentlich menschlichen Angelegenheiten, d.h. sie
sind die ethischen. Demnach läßt sich also keine 'techne
etiké' aufstellen, sondern Ethik ist letztlich Sache der
"phronesis" bzw. der "sabiduría popular", die jene
'techné' nicht ausschließt, sondern eingrenzt und "auf den
Menschen insgesamt", auf das "Volk" – oder, universalistisch, aber
nicht abstrakt-totalisierend ausgedrückt, auf alle Völker der
Erde –, bezieht. Diese "sabiduría" ist nicht die "sophía"
der Weisen, sondern "phronesis" des (der) Volkes (Völker). Sie ist
universal insofern sie für die Pluralität offen bleibt, aber
eine solch Pluralität ist nicht bloß die der Diskurse,
sondern primär die der Handlungen. Zu dieser Pluralität
gehört ursprünglich die Möglichkeit des Dissenses bzw. des Widerstands, und zwar gegen die
Vereinnahmung in einer Universalität, die auf einen abstrakten
Konsens abzielt und sich als 'rational' maskiert. Die faktische bzw.
geschichtliche Erfahrung bedingt aber den ethischen Diskurs.
Diese
Partikularisierung bedeutet keine Abkapselung gegenüber dem
allgemeinen 'logos', sondern dieser büßt jeweils seine
Abstraktheit ein, indem er sich zu einem unabschließbaren und
'gemeinen' Dialog einläßt. In diesem Dialog, wo also die
Differenzen als solche ausgesprochen werden sollen, geht es nicht um
Geltendmachen von universal-transzendentalen Antworten, sondern un die
gemeinsamen und 'gemeine' Erörterung 'marginaler' Probleme sowohl
in ihrer Marginalität als auch in ihrer möglichen weltweiten
Auswirkung. Dabei liegen die Probleme einer kommunikativen Ethik nicht
primär in der utopischen – und letztlich auch totalitären
bzw. un-menschlichen weil leblosen – Forderung einer idealen
Kommunikationsgemeinschaft, sondern in der faktischen medialen Verwirklichung, die eben
nicht mehr die gute alte Gutenbergsche Moderne ist. Eine von diesen
geschichtlichen Prämissen ausgehende ethische Reflexion muß
sich zu einer, wie ich es nenne, Informationsökologie
ausweiten. (17)
Jenseits
von
falschen Partikularismen und Universalismen geht es dabei um die
Anmaßung der Abstraktion gegenüber dem Vorrang des (nicht
nur menschlichen) Lebens. Eine Konsensbildung auf Kosten des Lebens ist
nicht nur vorstellbar, sondern wird vielerorts praktiziert... Gerade in
dieser Umkehrung der Vernunft – und nicht also in der Un- oder
Widervernunft – liegt m.E. das Ethische. Wenn der Diskurs sich seine
Norm apriori zu geben glaubt, dann schließt er gerade die
Exteriorität des Anderen aus, der sich meistens – und immer mehr
in einer medialen Welt –
nicht artikulieren kann. Ein 'logos', der diesen Dissens als eine
notwendige Panne auf dem diskursiven Weg zum Konsens auffaßt,
geht letztlich von einem Ideal aus, das, solange wir inkarnierte Wesen
bleiben, wörtlich nicht vorstellbar und letztlich auch nicht
wünschbar ist. Die Forderung, in eine solche Richtung zu arbeiten,
auch wenn wir wissen, daß wir das Ziel nie erreichen werden, hegt
die Hoffnung, ein solches Ziel wäre grundsätzlich (!)
erreichbar.
M.E. ist
dieses Postulat nichts anderes als eine einseitige bzw. abstrakte
Vorstellung, welche das Ethische zu einem reinen Logos zurückführt,
der nie Hunger hat bzw. der von der Vorstellung (oder vom Postulat)
einer Welt reiner Geister Ausgeht. Außerdem ist ein solches
Diskursapriori entweder monologisch und somit
selbstwidersprüchlich oder 'dia-logisch' und dann muß es
sich seiner Faktizität öffnen, will es nicht in eine 'petitio
principii' verfallen. Im Mittelpunkt einer Dissensethik bzw. einer Ethik des Widerstandes steht die
Forderung nach einer freien
Interaktion bzw. die Forderung nach dem Widerstand
gegenüber jeder Art von Totschweigen und Einsperrung – ich meine
auch leibliche Einsperrung –
sowohl innerhalb einer
Handlungsgemeinschaft als auch seitens einer Gruppe von
Handlungsgemeinschaften gegenüber einer anderen
'marginalisierten'.
Die
universale Anmaßung der Wissensgemeinschaft
und die Macht der Handelsgemeinschaft
müssen sich am Maßstab des Widerstands der
Handlungsgemeinschaft am nicht aufhebbaren leiblichen und 'geistigen'
Hunger des Anderen messen
lassen. Nur dann wird ein ethisches 'Wissen' seine eigentliche, immer
auf uns als leibliche Wesen relativ bleibende Vollendung finden, die
eben deshalb nicht in der Aufstellung einer Theorie, sondern in der
Handlung selbst besteht.
Anmerkungen
1
Zu J.C. Scannone vgl v.Vf.: J. C. Scannone, in: J.
Nida-Rümelin, Hrsg.: Philosophie
der Gegenwart in Einzeldarstellungen (Stuttgart: Kröner
1991). Scannone, 1931 in Argentinien geboren, trat 1949 in die
Gesellschaft Jesu ein und erwarb 1956 das Lizentiat der Philosophie und
1962 das Lizentiat der Theologie (Universität Innsbruck). Er
promovierte 1967
an der Universität München bei Max Müller. Seine
Dissertation: Sein und Inkarnation.
Zum ontologischen
Hintergrund der Frühschriften Maurice Blondels, erschien
1968 (Alber). Scannone ist seit 1968 Professor für Philosophie an
der Universidad del Salvador, Buenos Aires.
2
Vgl. J.C. Scannone: Sein und
Inkarnation, 206
3
Vgl. J.C. Scannone: Teología
de la liberación y praxis popular (Salamanca:
Sígueme 1976).
4
ibid. S. 151.
5
Vgl. J.C. Scannone: "Ein neuer Ansatz in der Philosophie
Lateinamerikas", in: Philos. Jahrbuch
89 (1982) 1, 99-115.
6
ibid. S. 103.
7
C. Cullen: Fenomenología de
la crisis moral (Buenos Aires: Castañeda
1978).
8 J.C.
Scannone: "Ein neuer Ansatz", op.cit. S. 105.
9 ibid.
S.
108.
10 Im
Griechischen bedeutet 'ethos' (mit 'epsilon') Gewohnheit, Brauch,
Sitte, und 'ethos' (mit 'eta') Wohnung, Sitte, Brauch, Charakter. H.
Diels (Die Fragmente der Vorsokratiker,
Berlin 1952) übersetzt Heraklits "ethos anthropoi daimon" als
"Seine Eigenart ist dem Menschen sein Dämon") (d.h. sein Geschick)." (Fr. 119). Beim
Fr. 78 wird "ethos gar anthrópeion" als "menschliches Wesen"
übersetzt. In beiden Fällen steht bei Heraklit 'ethos' mit
'eta".
11 J.C.
Scannone: Sabiduría popular,
símbolo y filosofía (Buenos Aires: Guadalupe
1984), S. 80.
12 ibid.
S.
81. Vgl. C. Cullen: Sabiduría
populalr y fenomenología. In: J.C. Scannone, Hrsg.:
Sabiduría popular, op.cit. S. 49. Cullen weist auf drei
mögliche reduktionistische Mißverständnisse der
"sabiduría popular" hin, nämlich ein ideologisches
("sabiduría popular" = Suprastruktur der unterdrückten
Klasse), ein konfesionelles ("sabiduría popular" =
Volksreligion) und ein anthropologisches ("sabiduría popular" =
Mythen und Riten) (ibid. S. 41). Vgl. auch J.R. Seibold:
"Espíritu sapiencial y racionalidad científica en la
nueva filosofía de la ciencia", in: Stromata 3/4 81986) S. 391-395:
"Seibold hebt u.a. hervor, daß wissenschaftliche Erkenntnis die
Diskrepanz zwischen Theorie und Beobachtung nur unter Zuhilfenahme der
Urteilskraft vermitteln kann, ohne daß also die Rationalität
auf einen Algorithmus reduziert werden kann. Das bedeutet – so Seibold
in Anschluß an H.I. Brown, der sich wiederum auf Aristoteles
bezieht – daß der Mensch die Fähigkeit zur Eingrenzung von
'universalen Gesetzen' hat. Der 'context of discovery' – vom Logischen
Empirismus als irrational disqualifiziert – stellt sich als die
eigentliche Perspektive der "kreativen Weisheit" dar. Diese vollzieht
sich, wie die praktische Weisheit Aristoteles', gemeinschaftlich. Denn
für Aristoteles war die 'Vorsicht' keine bloß individuelle,
sondern eine soziale Tugend, mit dem Ziel der Sicherung des allgemeinen
Guten, wonach gemeinsam, im Haus und in der 'polis' zu suchen ist. Hier
liegt auch ein Ansatz für eine Ethik der Wissenschaften (und
der Technik) bzw. für eine Verbindung zwischen den verschiedenen
Ebenen gemeinschaftlichen Denkens und Handelns.
13 ibid.
S.
114. Vgl. auch: J.C. Scannone Sabiduría
popular y pensamiento especulativo, in: ibid.: hrsg.: Sabiduría popular, a.a.O. S.
51-74.
14 Vgl.
S.C.
Scannone: "Filosofía primera e intersubjetividad. El a priori de
la comunidad de comunicación y el nosotros
ético-histórico". In: Stromata
3/4 (1986), 367-386.
15 ibid.
S.
380. Die Formel "ya, pero todavía no" entspricht E. Przywaras
"in-über"-Verhältnis der Analogie. Zu Przywara vgl. Julio
César Terán-Dutari: Christentum
und Metaphysik (München 1973).
16 ibid.
S.
381.
Letztes Update: 4.10.2022