Einführung
Die theoretischen
und
praktischen Anstrengungen,
im 20. sowie zu Beginn des 21. Jahrhunderts Gewalt zu rechtfertigen,
betreffen
zum einen die großen ideologischen und geopolitischen Projekte
mit
ihren katastrophalen Auswirkungen und zum anderen die
Friedensbemühungen
angesichts der gegenwärtigen Vermehrung von lokalen kriegerischen
Auseinandersetzungen. Letztere suchen oft ihre Rechtfertigung in der
"Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte" sowie in demokratischen Idealen,
wobei
beide Begründungsformen ihre Wurzeln in der europäischen
Aufklärung
haben. Aber die theoretischen Ursprünge von Gewalt und Pazifismus
reichen weiter hinter den Horizont der Moderne zurück,
nämlich
bis zur Entstehung der abendländischen Metaphysik. Der Philosoph
Gianni
Vattimo ist eine der Schlüsselfiguren in der großen
europäischen
und transatlantischen Debatte der Gegenwart über die komplexen
Beziehungen
zwischen Metaphysik, Gewalt und Modernität. Sein "schwaches
Denken"
hat eine empirische Basis in der geschichtlichen Erfahrung der letzten
Jahrhunderte, öffnet sich aber zugleich einer Reflexion und einem
Dialog mit den Interpretationen, die Denker wir Friedrich Nietzsche,
Martin
Heidegger und Hans-Georg Gadamer über diese Erfahrung sowie
über
deren philosophische Wurzeln vorgeschlagen haben.
I.
Vattimo liest Nietzsche und Heidegger
Wolfgang
Sützls Arbeit
befaßt
sich mit "Gianni Vattimos ästhetischem Pazifismus". Der Verfasser
stellt zunächst Vattimos Nietzsche-Interpretation dar. Im
Gegensatz
zur üblichen Auffassung versteht Vattimo Nietzsches Nihilismus als
ein Aufgeben des metaphysischen Fundaments. Dies schließt auch
die
Anstrengungen der Moderne gegenüber einem unsicher gewordenen
Subjekt
ein, was unweigerlich zu einer fast immer gewaltsamen Beherrschung der
verschiedenen ihm gegenüber gestellten Objekte führt. Der
Autor
erläutert, wie Schlüsselbegriffe wie Freiheit und
Verantwortung
eine neue Bedeutung innerhalb eines nicht-totalisierenden
Wirklichkeitsrahmens
bekommen. Dieser nicht-gewaltsame Rahmen ist ereignishaft. "Gewaltfreiheit"
wird dabei als "Abstand von Gewalt" verstanden, im Unterschied zu "Gewaltlosigkeit"
oder "Abwesenheit von Gewalt". Im Horizont von "Gewaltfreiheit" lernt
das
"geschwächte" Subjekt innerhalb von unvorhergesehenen und
komplexen
Situationen, jenseits eines Verhältnisses von Herrschaft oder
Unterwerfung,
zu antworten. Der Verfasser erläutert dabei Vattimos Deutung der
heutigen
Kommunikationsgesellschaft, wo ein intensivierter Austausch von
Botschaften
stattfindet. Diese Situation ist einem Gewaltverhältnis mit
Ausschluß
eines dialogischen Austausches entgegengesetzt. Im Unterschied zur
Auffassung
der Kommunikationsgemeinschaft in der "Frankfurter Schule" betont
Vattimo
die Funktion "lokaler Rationalitäten", deren Emanzipations- oder
Aneignungsbestrebungen
im Sinne eines oszillierenden Verhältnisses mit
Entfremdungserfahrungen
angesehen werden.
Sützl
erörtert
im Einzelnen
die Wechselbeziehungen zwischen Nietzsche und Heidegger aus Vattimos
Sicht
und zeigt dabei die Originalität von Vattimos
Nietzsche-Lektüre
besonders im Hinblick auf die Auffassung des Irrens als Denk- und
Lebensmöglichkeit.
Damit setzt Nietzsche der Idee einer objektiven Wahrheit eine Grenze,
ohne
aber in den absoluten Nihilismus zu verfallen. Vattimos
nietzscheanische
Heidegger-Interpretation macht besonders auf die Gefahr in der
Biographie
dieses Denkers aufmerksam, die sich daraus ergibt, wenn ein
authentisches
Sein oder eine "starke Wahrheit" erwartet wird. Durch eine literarische
Lektüre wird Nietzsche paradoxerweise zum Vorreiter einer
nihilistischen
hermeneutischen Ontologie, in der Heideggers Sein als Ereignis gedacht
wird.
II.
"Gestell",
"Verwindung" und "Gelassenheit"
Diese Umkehrung
von
Heideggers Nietzsche-Deutung
führt wiederum zu einer nihilistischen Heidegger-Deutung, die ein
Schlüssel zu Vattimos Denken ist. Dieser nietzscheanischen Deutung
Heideggers widmet der Autor ein umfangreiches Kapitel, in dem
Heideggers
Begriffe "Gestell", "Verwindung" und "Gelassenheit" eine zentrale Rolle
spielen. In diesem Spiel der Interpretationen eignet sich der Autor
selbst
Vattimos hermeneutische Methode an, die darin besteht, den Dialog mit
vergangenen
oder gegenwärtigen Denkern als eine Antwort zu einer
"Überlieferung",
d.h. zur Übermittlung einer Botschaft, zu verstehen. Das
führt
zu einem "schwachen" Denken, das keine globale Theorie anbieten will,
sondern
im Dialog seine eigene Geschichtlichkeit anerkennt. Sützl weist
auf
die Bedeutung von Heideggers "Verwindung" für Vattimo sowie auf
das
Verhältnis zu "Ereignis" und "Gestell" hin. Vattimo vollzieht eine
"säkularisierende" und "linksgerichtete" oder emanzipatorische
Lektüre
Heideggers. Dies kann als einer der innovativsten Beiträge des
italienischen
Denkers aufgefaßt werden. In dieser Auslegung spielt auch die
Sprache
im Sinne eines "freien Kommunikationsflusses" eine entscheidende Rolle.
Dem stellt Vattimo totalitäre Bewegungen mit ihren
eschatologischen
Ansprüchen entgegen, ohne aber selbst eine Abschaffung der Gewalt
anzustreben. Letzteres wäre erneut ein gewaltsames Projekt, wie
zum
Beispiel die politisch-militärischen Sicherheitspläne auf der
Basis von sich auf Waffen stützenden Lösungen zeigen. Das
"schwache
Denken" strebt lediglich eine kontinuierliche Reduktion von
Gewalt
auf der Basis einer "Verwindung" der Metaphysik, nicht aber ihre
Eliminierung
an. Krieg und Gewalt bedeuten somit, aus Vattimos Sicht, einen
metaphysischen
Versuch, sich des Seins als Anwesenheit zu bemächtigen oder, mit
anderen
Worten, das Vergessen der ursprünglichen Offenheit, die nicht vom
Menschen stammt.
Der Autor zeigt
den
Übergang von
einer "Hermeneutik des Hörens" zu einer postmetaphysischen Ethik,
in der die autonome Dimension des Rufes einer Botschaft in ihrer
Alterität
anerkannt wird, so dass jede Interpretation ursprünglich zu einem
"schweigsamen Hören" verweist. Letzteres bedeutet aber wiederum,
in
Vattimos säkularisierter Interpretation, nichts Geheimnisvolles,
sondern
die Autonomie selbst des Rufes, seine Ereignishaftigkeit, sowie die
Sterblichkeit
menschlichen Existierens. Menschliche Freiheit befindet sich
eingebettet
in einer Überlieferungsgeschichte von Botschaften, in der sie aber
zugleich, aufgrund des offenen Charakters des Sichgebens der Ereignisse
selbst, freigegeben ist. Sützl interpretiert diese Struktur im
Sinne
einer "nicht-gewaltsamen Konfliktivität", wo die Antworten auf die
Konflikte keine endgültige Lösung, dialektische Aufhebung
oder
Überwindung, sondern eine "Verwindung" anstreben. Der Verfasser
erörtert
das Verhältnis zwischen dem "Gestell" und den Informations- und
Kommunikationstechnologien
und zeigt, wie diese für Vattimo zugleich eine Radikalisierung der
Metaphysik und der Ort ihrer Implosion oder Abschwächung sind.
Letzteres
ist nur möglich, weil die Technik am Ende des 20. Jahrhunderts
eine
Kommunikationstechnik geworden ist, deren Modell nicht der Motor als
zentrale
und stabile Struktur darstellt, sondern das Netz, d.h. etwas
Dezentrales,
Mobiles und Kurzlebiges, wo die Wirklichkeit nicht mehr eine
Autorität
über den Menschen ist, sondern in der Mensch und Sein sich in
einem
"schwingenden" (Heidegger) Verhältnis befinden. Heideggers
"Gelassenheit", wodurch der Mensch die Technik weder vollständig
bejaht
noch ablehnt, wird von Vattimo im Sinne einer "ästhetischen", d.h.
einer offenen oder oszillierenden Freiheit gedeutet, die die Bedingung
eines nicht-gewaltsamen oder post-metaphysischen Denkens und Handelns
darstellt.
III.
Das "schwache Denken" im Dialog mit Habermas, Rorty und Feyerabend
Der Verfasser
setzt Vattimos
"schwaches
Denken" in Beziehung zu einigen Verteidigern der Modernität,
darunter
Habermas und Rorty, und zeigt, inwiefern die "Demut der Philosophie",
die
durch den Verlust der Unschuld nach Hiroshima und Auschwitz
gekennzeichnet
ist, gerade das Projekt der Aufklärung, im Sinne eines
unvollständigen
metaphysischen Herrschaftsprojekts, in Frage stellt. Das "schwache
Denken"
hat nicht das Ziel, überzeugende Gründe zu liefern, wie das
beim
"starken Denken" der Fall war, sondern versteht sich im Horizont von
Güte,
Geduld und Aufmerksamkeit. Vattimo faßt dies unter dem Begriff
der pietas zusammen. Er denkt eine solche pietas als
eine Ethik
des Verhältnisses zu nahen Gütern, im Unterschied zu einer
Ethik
der letzten Normen. Der Verfasser widmet ein Kapitel seiner Arbeit der
Genese des "schwachen Denkens" und geht dabei zunächst von der
Erfahrung
der Krise der auf Herrschaft hin sich verstehenden Vernunft aus.
Vattimos pietas wird, demgegenüber, als eine
Fähigkeit,
die Botschaften
der Vergangenheit in einer neuen Weise zu hören, verstanden. Es
handelt
sich um eine auditive Tugend, die weder das Neue mit dem Guten
gleichsetzt,
noch die Unbeweglichkeit eines bestimmten normativen
Vorverständnisses
— meistens das der Sieger und Unterdrücker — meint.
Das "schwache
Denken"
stellt jeden
Versuch einer dialektischen Integration innerhalb eines totalisierenden
Projekts in Frage. Dabei fragt Sützl, ob die Auflösung der
Dialektik
im Denken der Differenz zu einem "konservativen" Denken führt, das
unfähig ist, die Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu
ändern.
Dennoch, für Vattimo, schwächt die Kritik oder, besser
gesagt,
die Wiedererinnerung der Schickungen, ihren illusorischen Charakter
einer
totalisierenden Identität ab. Die pietas wird nicht als
ein
Verhältnis mit dem Göttlichen oder mit dem metaphysischen ontos
on, sondern als nicht-gewaltsames Verhältnis mit dem Erlebten
aufgefaßt, auf der Basis einer gegenwärtigen Sorge
und
Aufmerksamkeit für die Seienden in ihrer historischen Herkunft und
in ihren Erscheinungsformen. Vattimo zeigt damit eine Alternative zu
einer
normativen Ethik der Imperative, indem er den Akzent nicht auf eine
fundierende
Rationalität, sondern auf eine Abschwächung des Seins setzt.
Dies bedeutet zugleich eine Abschwächung jenes Denkens, das der
Geschichte
dieser Abschwächung selbst antwortet.
Das führt
dazu, wie
Sützl
zeigt, den Frieden schwach zu denken, d.h. nicht als ein Objekt oder
einen
Zustand, oder als etwas, was konstruiert oder angeeignet werden
könnte,
sondern als eine dauernde Möglichkeit ihres "Zustandekommens" oder
als Ins-Werk-Setzen einer "Gewaltfreiheit ohne Frieden". Dies wird in
einer
weniger ironischen oder paradoxen Weise folgendermaßen
ausgedrückt:
Das "schwache Denken", übersetzt als soziales Projekt, bedeutet
eine
kontinuierliche Debatte auf der Basis einer permanenten Auflösung
von als sicher gedachten Fundamenten, ohne das damit die Beliebigkeit
des
"anything goes" (P. Feyerabend) zustande kommt. Denn die
Hermeneutik
richtet sich auf die Wiedererinnerung von überlieferten
Vorverständnissen
und Regeln, in denen sich Denken und Handeln sich immer schon als
bedingt
vorfinden, auch wenn sie nicht von ihnen vollständig determiniert
werden. Solches Erbe ist die Substanz der pietas, aber nicht
als
eine statische Wertehierarchie, sondern als Antrieb für die
Interpretation.
Vattimos Ethik ist eine Ethik der Güter, nicht eine der Imperative.
Die "schwache"
Betrachtung der Überlieferung
bewirkt, dass Vattimos Denken sich nicht innerhalb von konservativen
Entwürfen
einordnen läßt, während sein hermeneutischer Antrieb
die
prophetischen Visionen abschwächt, indem er sie innerhalb "eines
dichten
Netzes von Interferenzen" stellt. Dem stellt Sützl die
Legitimierung
von Gewalt als Entfaltung einer Macht entgegen, die sich sogar
wähnt,
den common sense als objektive Wahrheit zu definieren. Vattimo
gibt
gute Gründe, um Emanzipation von Stärke oder Gewalt zu
trennen,
ohne sich aber zugleich in eine Position der Stärke zu setzen,
sondern
indem er Räume für Denken und Handeln öffnet. Das meint
eine "Ontologie des Untergangs", in der der Prozeß der Aneignung
des Seins nihilistisch, als Reduzierung von Gewalt, gedacht wird, im
Unterschied
zu einigen revolutionären Bewegungen, deren Seinsvergessenheit zu
einer Wiederaneignung des Seienden führt, und die dabei den
ereignishaften
oder "sich schickenden" Charakter des Seins und somit auch die
ontologische
Differenz aus der Sicht verlieren, und in einer Auflösung der
Freiheit
in der Sicherheit enden.
Die Hermeneutik
ist
für Sützl,
der sich dabei auf Wolfgang Welsch bezieht, das "Rückgrat" von
Vattimos
Denken. Sie steht in Beziehung, gegenüber dem üblichen
Verständnis,
zu den aktuellen kulturellen und politischen Problemen. Es handelt sich
nicht um eine Theorie über die Vielfalt von Interpretationen,
sondern
um eine Philosophie der nihilistischen Geschichte, die die "starken"
oder
gewaltsamen Strukturen in Frage stellt, auch die, die sich auf das Erbe
der Aufklärung beziehen und sich in Dienst der Emanzipation
stellen.
Die Reduzierung von Gewalt als "roten Faden" der Geschichte ist der
Punkt,
an dem Vattimos Auffassung von Geschichte sich vom idealistischen
Denken
einer vollständigen Eliminierung jeder Form von Gewalt
unterscheidet.
Sützl weist darauf hin, wie diese Auffassung Vattimos eine
kritische
Betrachtung des grenzenlosen Konsumismus sowie jeder Art von
Fundamentalismus
ermöglicht.
Dennoch kann
sich die
nihilistische
Hermeneutik nicht als ein alternativer Diskurs vorstellen, das den
herrschenden
Diskursen gegenübergestellt wäre, sondern muß als
"bremsender
oder kontaminierender" Diskurs verstanden werden. Vattimos Denken ist
ein
Denken der Kontamination. Es hat einen anarchischen Charakter in dem
Sinne,
dass es versucht, neue Räume eines "freien Spiels" zu öffnen.
Es strebt keine endgültige und dauernde Befreiung an, sondern
bewegt
sich innerhalb eines Spiels historischer Kontingenzen, auf der Suche,
"starke
Strukturen" zu vermeiden. Es zielt nicht darauf ab, sich einen
"nicht-gewaltsamen"
Zustand anzueignen, sondern begreift sich innerhalb einer
ereignishaften
Struktur in der Oszillation zwischen "dem Gleichen" — hier werden die
Rechtsansprüche
in bezug auf "Gleichheit" und "Gleichwertigkeit" eingeschlossen — und
"dem
Selben". Während die "Gleichheit" auf eine Eliminierung der
Differenzen
abzielt, ermöglicht die "Selbigkeit", heideggerianisch
aufgefaßt,
einen geschichtlichen Dialog, ohne dass man dabei von einem Recht
auf die Differenz sprechen kann, da dies eine nihilistische Hermeneutik
innerhalb eines auf Institutionen hin orientierten Denkens bedeutet,
womit
sein anarchistischer Charakter verloren ginge.
Sützl
zeigt die
Unterschiede zwischen
dieser Position mit Bezug auf die Kommunikationsethik von Habermas und
Apel, mit ihren idealistischen Implikationen, sowie auch in bezug auf
die
"Neubeschreibungen" ("redescriptions") von Rorty, mit ihrem
Imperativ,
dass das "Gespräch weitergehen soll" und, schließlich, in
bezug
auf Gadamers Ethik der Kontinuität, die sich als universale
Methode
begreift. Für die nihilistische Hermeneutik, so Sützl
zusammenfassend,
ist das "Nächste" das Einzige, was wir haben und kein fernes telos,
das wir mit Hilfe eines technischen Instrumentalismus erreichen
könnten.
Vattimos Ethik ist eine Ethik der Sorge und der Aufmerksamkeit. Das
bedeutet
keineswegs, dass sie die Rationalität ausschließt oder dass
sie eine Apologie des "Irrationalismus" wäre, wie der Vefasser in
einem dem Thema einer "nicht-gewaltsamen Rationalität" gewidmeten
Kapitel bemerkt. Im Unterschied zu den reinen ästhetischen
Auffassungen von Hermeneutik bei Rorty und Derrida, besteht Vattimo
darauf,
dass der Philosoph eine argumentative öffentliche Aufgabe
gerade
angesichts der Abschwächung der Rationalität hat und dass
diese
Aufgabe sich von Gadamers Auffassung dadurch unterscheidet, dass diese
sich ihres eigenen hermeneutischen Charakters nicht bewußt ist.
Die
Rationalität von Vattimos Hermeneutik ist eine partikuläre
Rationalität,
ihres Bezuges mit der Überlieferung bewußt und ohne
universalistische
Ansprüche. Es handelt sich um eine "schwache" oder dynamische,
sich
in Übergang befindende Rationalität, die nicht behaupten
kann,
in sich selbst einen letzten Grund zu finden, gerade weil sie einen
nicht-gewaltsamen
Weg öffnet.
IV.
Hermeneutik
und Kommunikationstechnologien
Die hermeneutische
Arbeit
ähnelt
der Arbeit des Bibliothekars, der neue Bücher auswählt,
erwirbt
und ordnet und damit seine Bibliothek verändert. Diese Metapher
zeigt
auch die Beziehung zwischen dem Denken Vattimos und den
Kommunikationstechnologien.
Sützl zeigt, wie das globale Projekt der Informations- und
Kommunikationstechnologien die Kontrollmöglichkeiten abschwächt,
so dass es zugleich die Gefahr einer "starken" Einheit und eine Chance
für Freiheit und Pluralität in sich birgt. Diese doppelte
Natur
entspricht der Natur des Marktes mit seinen "harten" Aspekten und
seiner
wechselhaften Realität. Heideggers "Gestell" wird zum Bild und
dieses
wiederum zur Information in den Kommunikationstechnologien. Dadurch
entsteht
auch die Utopie der "Transparenz" (K.-O. Apel), die Vattimo — indem er
die verschiedenen Oppositionsbewegungen berücksichtigt, die in der
Globalisierung eine Gefahr für Freiheit, Privatheit und Autonomie
sehen —, als ein normatives und nicht als ein emanzipatorisches Ideal
ansieht.
Die Kommunikationsnetze stellen nicht nur die Basis für eine
gemeinsame
menschliche Erfahrung dar, sondern sie ermöglichen zugleich die
Fragmentierung
und die Kontextualisierung. In diesem Sinne sind sie eine "Verwindung"
der Moderne. Die Möglichkeiten der Emanzipation bestehen genau,
wie
Sützl zeigt, in einem "relativen 'Chaos'", in dem eine
Kontrollsituation
mit nicht kontrollierbaren Bereichen koexistiert. Vattimos
Ästhetik
der Kommunikationstechnologien wurde in den achtziger Jahren entwickelt
und ist teilweise auf die Vor-Internet-Periode beschränkt. Der
Autor
zeigt aber die Relevanz dieses Denkens für die gegenwärtige
Situation.
Im Unterschied
zu
Habermas, der die
"Befreiung der Interpretation" sucht, handelt es sich für
Vattimo
um eine "Befreiung von der einzigen Interpretation". Das ist
der
Grund, warum Vattimo den emanzipatorischen Charakter der
Fiktionalisierung
betont, wodurch er den Konflikt aufzeigen will, der sich paradoxerweise
in den reality soaps in bezug auf die Realität offenbart.
Sützl
erörtert auch das Verhältnis von Ästhetik und
Emanzipation,
indem er Vattimos Kritik an der metaphysischen Ästhetik mit ihren
Herrschaftsstrukturen im Lichte der hermeneutischen und nihilistischen
Interpretation Nietzsches, Heideggers und Benjamins erscheinen
läßt.
Benjamin erlaubt ihm ein Verständnis des Kunstwerkes jenseits der
klassischen Auffassung als "Ding". Seine technische und, mehr noch,
seine
informationelle Reproduzierbarkeit entmaterialisiert das Kunstwerk
und bewirkt auch seine Dislokation. Dies erlaubt eine Erfahrung der
Abschwächung
des Seins sowie den Prozeß der Säkularisierung, worauf
Vattimos
"ontologische Ästhetik" hinweist, in der die Kunst ihre
Authentizität
negiert und sich einer Pluralität von Kontexten öffnet. Sie
nützt
dabei aktiv die Möglichkeiten der Techniken der Reproduzierbarkeit
und Diffusion und nimmt an einem ironischen Spiel in der "Begegnung mit
dem Anderen" teil. Auf diese Weise eröffnet das Kunstwerk einen
vorläufigen
und flüchtigen Konsens, den Vattimo mit Heideggers Analysen von
Wahrheit
und Kunst in Beziehung setzt. Für Vattimo läßt sich
Frieden
oder, in Sützls Worten, "das Friedliche" ("lo pacífico"),
weder
als Ursprung und Schicksal, noch als Kampf und Konstruktion, sondern
als
Ereignis (nihilistisch) denken, im Rahmen der ästhetischen
Erfahrung
der Oszillation, und ist verwandt mit Spiel und Fest.
Schluß
Das vorletzte
Kapitel ist
der Religion
bei Vattimo gewidmet. Im Mittelpunkt steht die Parallelität
zwischen
der "kenosis", d.h. der Entäußerung Gottes durch
seine
Inkarnation, und der Abschwächung des Seins. So gesehen ist die
säkularisierte
religiöse (christliche) Erfahrung eine eminent nicht-gewaltsame
Erfahrung.
Dies führt zu der Frage des letzten Kapitels, nämlich: "Eine
Säkularisierung des Friedens?", die der Verfasser im Sinne eines
Übergangs
von einer metaphysischen zu einer ästhetischen und
nicht-gewaltsamen
Emanzipation auffaßt. Das bedeutet letztlich ein Frieden ohne
Utopie. Der Frieden, so verstanden, ähnelt dem "gemeinen
Frieden"
("la paz de la gente" I. Illich). Er ist nichts anderes als "das
normale
Leben von örtlichen Gemeinschaften, die ihre Kultur trotz des
nivellierenden
Entwicklungsprojekts bewahren, das immer in der Nähe einer offenen
oder strukturellen Gewalt steht."
Im Unterschied
zu einem
gewissen prä-technologischen
Romantizismus bei Illich, sind für Sützl die
Kommunikationstechnologien
ein Bestandteil "des normalen Lebens von örtlichen
Gemeinschaften",
zumindest als Möglichkeit und Chance. Von diesem sozialen,
zugleich ereignishaften und unvollendeten Frieden aus läßt
sich
die Gewalt, um es mit Vattimos Worten zu sprechen, in schwacher Weise
in
Frage stellen und es läßt sich auch, erneut in schwacher
Weise,
die Frage der Gewalt stellen.
Sützls
Kernthese ist
im Begriff
des "ästhetischen Pazifismus" ausgedrückt. Die "Emanzipation"
bedeutet dabei eine Alternative zur "Gewalt", aber im Unterschied zur
traditionellen ethischen oder positiven Auffassung handelt es
sich bei
Vattimo
um eine Emanzipation, die als ästhetischer oder negativer
Pazifismus
aufgefaßt wird. Die klassische Alternative wäre, mit anderen
Worten, keine wahre Alternative, da sie im Rahmen eines Versuchs der
"positiven"
Überwindung der Metaphysik, auf der Basis von Idealen,
Fundamenten,
Gründen oder Dogmen, bleiben würde, was wiederum eine
"gewaltsame"
Position bedeutet.
Letzte
Änderung: 12. Januar er
2017
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