DS:
Herr Professor Capurro, in manchen privaten TV-Sendern ist werktags
Talk
von morgens bis nachmittags angesagt. In diesen
»Bekenntnisshows«
werden Dinge geäußert, die im privaten Umfeld - von
Angesicht
zu Angesicht - wahrscheinlich nicht gesagt würden. Auch
Radiosender
verstehen sich mehr und mehr als Kuppler der Kommunikation, Flirts und
Entschuldigungen zum Beispiel geschehen heutzutage »on
air«.
Sind die Medien Geburtshelfer der Ehrlichkeit?
RC:
Das Wort Geburtshelfer deutet auf Sokrates (470 - 399 v. Chr.) hin, der
seine dialogische Kunst als Hebammenkunst bezeichnete. Es ging
ihm
darum, in einem strengen Prozess von Frage und Antwort, eine als
richtig
geltende und so auch vorgetragene Meinung in Frage zu stellen, um
dadurch
ein Problembewusstsein zu schaffen. Dadurch hat Sokrates öfter die
festgefahrene öffentliche Moral, die political correctness
wie wir heute sagen, in Frage gestellt. Er hat seine
Gesprächspartner
dazu aufgefordert, sich nicht die Antworten von außen geben zu
lassen,
sondern selbst nachzudenken und nichts als endgültig Wahres
hinzunehmen.
Das
betraf nicht nur die Antworten der Mythen, sondern auch die der
öffentlichen
Moral. Ehrlich oder tugendhaft, wie man damals sagte, sind also nicht
diejenigen,
die dem öffentlichen Moralanspruch blind folgen, sondern
diejenigen,
die sich Rechenschaft schuldig werden, warum sie dieser oder jener Norm
folgen.
Sie
fragen: "Sind die Medien Geburtshelfer der Ehrlichkeit?" oder, anders
gesagt,
übernehmen die Medien die Rolle des Sokrates im Medienmarkt? Das
scheint
der Fall zu sein. In den Bekenntnisshows stehen Menschen von Angesicht
zu Angesicht und es werden nach den Gründen für diese oder
jene
'unmoralische' Handlung gefragt. Was diese Art von Gespräch vom
sokratischen
Gespräch unterscheidet ist aber, dass bei den Shows die Wahrheit
oder
die moralische Norm schon feststeht und letztlich in drastischer Form
zu
einer öffentlichen moralischen Verurteilung des 'Angeklagten'
führt.
Wenn
also unter Ehrlichkeit so etwas wie blinde Moralbefolgung (auch die der
eigenen Überzeugungen) gemeint ist, dann sind diese
Bekenntnis- shows
in der Tat ihre Geburtshelfer. Das Kind sollte aber dann besser einen
anderen
Namen erhalten, wie zum Beispiel Moralismus, Zynismus,
Pharisäismus.
Die Struktur oder das Format dieser Shows (nomen ist omen! der Name sagt
also schon alles), ist darauf angelegt, eine öffentliche
Inquisition
vorzuführen. Bekenntnisshows sind nichts anderes als massenmediale
digitale Scheiterhaufen.
DS:
Die Teilnehmer/innen an einer Talkshow sind also wenig mehr als die
Typen
einer Moral, personifizierte Moral-Etiketten, über die sich das
Fernsehvolk
entrüsten oder begeistern kann. In der Tat findet ja kaum ein
argumentatives
Gespräch untereinander statt. Es ist eher so, dass der Reihe nach
Interviews geführt werden.
RC:
Wenn kein argumentatives Gespräch stattfindet befinden wir uns in
der
Tat in einer verlogenen und selbstgerechten Scheinwelt. Wie Sie
aber wissen,
sind argumentative Gespräche nur eine (ausgezeichnete)
Möglichkeit
des Miteinanderredens. Das Öffnen des Herzens ist eine andere und
das Öffnen der Seele, zum Beispiel in einem psychoanalytischen
Gespräch,
ist eine weitere. Für jede Gesprächsform gibt es den ihr
geeigneter(en)
Raum.
DS:
Was ist wohl die Motivation der Teilnehmer/innen, sich vorführen
zu
lassen? Wird Intimes deshalb geäußert, weil außer dem
Gesagten ein gewisses Image von sich bzw. von der Gruppe, der man
angehört,
transportiert werden kann, das man als Mehrwert empfindet? Sucht man
den
Medienauftritt also deshalb, weil man als »toller Typ« in
Erscheinung
treten will?
RC:
Sie fragen nach der Motivation. Das ist bestimmt von Fall zu Fall
unterschiedlich,
aber das, was Sie andeuten scheint mir allgemein zutreffend.
Massenmedien
funktionieren auf der Grundlage der Struktur Eins-zu-Vielen. Sie sind
das
ideale Medium, um über Nacht 'weltbekannt' zu werden. Wenn Sie
also
eine Botschaft haben, die Sie unbedingt allen mitteilen wollen, dann
ist
der Auftritt in einer solchen Show unwider-
stehlich.
Das gilt sowohl für die 'Beschuldigten' bzw. 'Sünder' oder
'Täter'
als auch für die 'Richter'. Und diejenigen in den (privaten)
Medien,
die so etwas machen oder diesen Raum zur Verfügung stellen, sind
nicht
weniger zynisch, wie die, die an der Sache teilnehmen, besonders, wenn
das im Namen der Moral und der freien Meinungsäußerung (GG
Art.
5) stattfindet.
DS:
Statt Aufklärung über ein bestimmtes Thema, wie sie im
sokratischen
Gespräch gesucht wird, findet also ein Tribunal statt. Das
Publikum
ist vermutlich mehr an den Emotionen interessiert als an den Anklage-
und
Verteidigungsargumenten.
RC:
Wenn diese Form von öffentlicher Inquisition wesentlichen Raum in
den Massenmedien einnimmt, dann ist aber auch die Gesellschaft selbst
teilweise
voyeuristisch! Mit anderen Worten, die Shows zeigen der Gesellschaft
ein
Spiegelbild ihrer selbst. Das hört sich an wie Medienschelte und
Kulturkritik.
Ich meine aber, dass jedes Medium bestimmte Formen von
Öffentlichkeit
mit bestimmten Verfallsformen möglich macht und andere
ausschliesst.
So waren antike Gesellschaften wesentlich durch die Mündlichkeit
geprägt
und dementsprechend war Sokrates' Auftreten in der agora
(Marktplatz)
oder in den Badeanstalten ein öffentliches Ereignis und ein
Ärgernis!
Auch die durch das gedruckte Wort geprägten Gesellschaften
brachten
solche Verfallsformen wie staatliche und religiöse Zensur und das
Zur-Schau-Tragen von bestimmten Schriften hervor, die unterschiedliche
Formen von Indoktrination dien(t)en. In diesem Sinne ist ein
dezentrales
und interaktives Medium wie das Internet im gewissen Sinne eine
Korrektur
der Ein-zu-Vielen-Struktur der Massenmedien. Aber Sie sehen auch, wie
zum
Beispiel durch Hackerattacken globale Effekte erzielt werden
können,
wodurch dann die positiven Möglichkeiten dieses Medium sich in ihr
Gegenteil kehren.
DS:
Wenden wir uns noch einem konkreten Fall zu: Ist eine Entschuldigung
übers
Radio bei der Liebsten nicht weniger wert als von Angesicht zu
Angesicht.
Sie mag ehrlich gemeint sein, hinterlässt aber vor allem den
Eindruck: »Schau her, was für ein toller Typ ich bin!«
Statt der »Selbsterniedrigung«, die eine ehrliche
Entschuldigung
fordert und für die
man den Mut nicht aufbringt, stellt man sich groß heraus. Bringt
die Geburtshilfe der Medien in diesem Sinne nicht sehr viele
Fehlgeburten
zur Welt, indem sie das Eigentliche verbirgt und Nebensächliches
als
bedeutend hervorkehrt? Noch weiter gefragt: Macht diese Art der
Mediennutzung
uns allmählich unfähig für unmittelbare menschliche
Beziehungen?
RC:
Sie fragen, ob diese Art der Mediennutzung uns allmählich
unfähig
für unmittelbare menschliche Beziehungen macht, so dass
nur das Image zählt und nicht die Ehrlichkeit. Ich meine, dass
dies
nicht nur eine Frage der Mediennutzung, sondern der Möglichkeiten
der Medien selbst ist. Natürlich spielt die Erziehung für
einen
angemessenen Medienumgang eine wichtige Rolle. Aber das lässt die
Möglichkeiten, die jedes Medium hat, offen. Es wäre meines
Erachtens
falsch, das face-to-face dem interface - dem der
Massenmedien
(Radio, TV) oder dem des Internet - gegenüberzustellen. Denn auch face-to-face
gibt es bekanntlich viele Möglichkeiten der Verstellung,
Täuschung, Lüge usw. Schein und Sein, Image und Ehrlichkeit
sind
also Begriffspaare mit denen wir vorsichtig umgehen sollten. Wir haben
keine letzte Instanz (mehr) für die Unterscheidung von wahr und
falsch,
Image und Ehrlichkeit.
Das
hört sich vernichtend an, zumindest aus
der Sicht von festgefahrener Moral! Aber der Wegfall von scheinbar
unverrückbaren Vorgaben öffnet uns die Möglichkeit einer
offenen Moral, ein Ausdruck, der sich fast wie ein Oxymoron (=
ein
sich widersprechender Ausdruck) anhört! Wenn aber diese Offenheit
im Namen von Wahrheit oder Ehrlichkeit in den Shows verdeckt wird, dann
ist die Lage besonders schwierig. Eine Gesellschaft beruht immer auf
einem ethos, auf einer gelebten Moral also, die in Form einer
Verfassung
und positiven Gesetzen teilweise festgelegt wird. Das bringt aber
zugleich mit sich die Arbeit ihrer Auslegung und die Umsetzung in die
Praxis.
Die Shows stellen ein Zerrbild dieser Vorgänge auf dem Gebiet der
öffentlichen Moral dar. So gesehen haben sie für uns einen
aufklärerischen
Wert, denn dank des Perspektivenwechsels zeigen sie ehrlich und
ungeschminkt
etwas über uns selbst, was wir nicht gerne von Angesicht zu
Angesicht
anschauen.
Letzte
Änderung: 15. August 2023