1
Einleitung
Was
haben ethische Vorschriften
mit einer TÜV-Checkliste gemeinsam? Brauchen wir so etwas wie
einen Ethischen Überwachungsverein, der sich um die
Einhaltung ethischer
Gebote z.B. in Industrie, Wissenschaft und Politik kümmert, sogar
mit dem Auftrag der Vergabe von Ethik-Preisen für besonders
tugendhafte
Leistungen? So absurd ist vielleicht eine solche Vorstellung
nicht, zumal wenn man bedenkt, dass die Motivationsgrenzen des
Rechtsstaates
überall sichtbar sind: Skandale in Politik und Wirtschaft,
fahrlässiges
Verhalten bei technisch-wissenschaftlichem Handeln vor allem bei
Großprojekten
(von der Kernenergie, über die Chemie bis zur Gentechnologie),
überall
stoßen wir auf Grenzen der technischen, politischen und
juristischen
Verhaltensregulierung. Es bleibt dennoch ein Feld offener
Möglichkeiten,
das aber durch Handeln oder Unterlassen so miß- bzw. gebraucht
werden
kann, dass die Sachen sich verschlimmern oder eben nicht besser werden,
ohne dass man dafür bestraft werden könnte oder sollte. Mit
dem
Aufkommen der Säkularisation, dem Zerfall der Ideologien und der
immer
deutlicher gewordenen Ambivalenz des technischen Fortschritts wird der
allgemeine gesellschaftliche Orientierungsbedarf immer
größer.
Man
kann argumentieren, dass
eine allgemeine ethische Zielvorgabe, z.B. in Gestalt der
Menschenrechte,
bereits vorhanden ist. Es scheint aber so zu sein, dass dieser Code
eben
primär auf den Menschen bezogen ist, und so den Bereich der
sonstigen
belebten Natur in seiner eigenen Würde ausspart, und dass seine
Forderungen
vielfach spezifizierungsbedürftig sind. Man denke nur an das
Menschenrecht
auf das eigene Leben und auf die Achtung des Lebens der anderen
Menschen
in Zusammenhang mit Fragen der Abtreibung, der Gentechnologie, der
aktiven
Sterbehilfe, des Selbstmordes usw. Es sieht so aus, als ob die
technische
Zivilisation ihrem Wesen entsprechend genauere jederzeit und
überall
anwendbare Vorschriften braucht, die aber den Spezifizierungsgrad von
technischen
und juristischen Normen überschreiten sollten, ohne wiederum in
leere
Formeln auszuarten. Die technische Zivilisation braucht also nicht nur
eine formale, sondern eine angewandte materielle Ethik, die konkret und
positiv das Handeln leitet und bei Pannen stets behilflich sein soll.
Im folgenden werde ich
zunächst
die Frage nach einer Ethik für die technische Zivilisation in
Anschluß
an Mittelstraß' Kritik der von ihm apostrophierten Reparaturethik
erörtern./1/ Es ist dann die Frage, ob die an Kants kategorischem
Imperativ orientierte Vernunftethik die passende(re)
Alternative
zur besagten Reparaturethik ist.
In
einem zweiten Schritt
werde ich in Anschluß an Michel Foucault zeigen, dass die
ethische
Orientierungsfrage, verstanden als Frage nach der Möglichkeit der
Lebensgestaltung, die Übung im Umgang mit einer nicht
kodifizierbaren
Dimension menschlichen Seins voraussetzt. Die Auseinandersetzung mit
dieser
Dimension bildet den Kern der abendländischen Ethik
spätestens
seit Sokrates.
Im
dritten Teil werde ich
den Reflexionsweg dieses Vortrags anhand einer alten chinesischen
Parabel
versinnbildlichen. Zunächst also zur Reparaturethik und
ihrer
vermeintlichen Alternative.
2
Vernunftethik statt Reparaturethik?
Es mutet
beinah zynisch an,
unsere technische Welt als eine "Leonardo-Welt" (Mittelstraß) zu
bezeichnen, zumal wenn man mit dem Namen Leonardo einen
Künstler-Ingenieur
meint, der die Natur keineswegs als Gegenstand maßloser
Ausbeutung betrachtete, und der seine Ingenieurkunst eben als
Kunst und
nicht rein instrumentell
auffaßte./2/ Der Ausdruck "Leonardo-Welt" verwischt mit anderen
Worten
den Unterschied zwischen der künstlerisch-technischen Welt der
Renaissance
und unserer aus den Fugen geratenen technischen
Welt, die man eben besser eine Unfug-Welt nennen sollte.
Damit
will ich aber keineswegs
bestreiten, daß unsere gegenwärtige technische Hybris eine
Wurzel
im, wie Carl-Friedrich von Weizsäcker es nennt, "Titanismus"
der Neuzeit hat, der zugleich ein technischer und ein geistiger
ist./3/
Dieser doppelte Titanismus
ist, so Weizsäcker, in mehrfacher Hinsicht zugleich
verheißungs-
und verhängnisvoll, entwicklungsgeschichtlich aber notwendig,
wollten
wir nicht an den Folgen unseres eigenen technischen Tuns zugrunde
gehen.
Wenn unser Tun Folge unseres Denkens ist, dann, so scheint es,
können
wir den realen Unfug unseres Tuns nicht anders als durch ein
umfassenderes
Verständnis der möglichen praktischen Folgen unseres Denkens
korrigieren bzw. reparieren. Wir brauchen also Technologiefolgenabschätzung
und Technologiefolgenreparatur.
Wie
weit läßt
sich aber durch Vor-Denken das Handeln bestimmen? Ist es nicht vielmehr
so, dass eine solche Vorstellung von der Macht unseres Denkens erst
recht
dem praktischen Titanismus Vorschub leistet, denn, wenn wir glauben,
dass
wir die Folgen richtig abgeschätzt haben, dann dürfte einem
entsprechenden
Tun nichts im Wege stehen. Genauso verhält es sich aber vielleicht
auch mit der Umkehrung des Satzes, nämlich, dass unser Denken eben
die Folgen unseres Tuns bloß abschätzen, es also nicht
bestimmen
kann. Da wir die Folgen eben nur im Nachhinein richtig abschätzen
können, müssen wir also zunächst handeln. Der
nächste
dialektische Schritt liegt aber dann nahe: Es verhält sich
vermutlich
so, dass unser Denken und Tun sich zirkulär gegenseitig bedingen.
Die Konsequenz aus dieser hermeneutischen Einsicht wäre dann, dass
der menschliche Titanismus, sei es in der Gestalt einer totalisierenden
Geschichtsphilosophie, sei es in Form eines technischen
Fortschrittsglaubens,
nicht in der Lage ist, sich selbst in seiner zugleich bedingenden und
bedingten
Funktion zu erkennen, und wir so den Delphischen Spruch Erkenne
Dich
selbst nicht befolgen mit, wie man weiß, tödlichen
Konsequenzen.
Vielleicht
können wir
den Teufelskreis unserer Unfug-Welt nur dann durchbrechen, wenn
wir der Weisheit des Daudedsching folgend, 'nicht handeln'./4/
Die
Konsequenz wäre dann, dass wir keine positive, sondern eine
"negative
Ökologie" (Schönherr) brauchen./5/ Wir könnten dann den
teilweise delirierenden Charakter unserer globalen Vorstellungen und
Unternehmungen
erkennen und statt in Quietismus oder Resignation zu verfallen, uns in
Abstinenz und Sparsamkeit beim Denken und Tun üben. Das Resultat
wäre
eine nicht-titanische "schwache Technik", der ein "schwaches Denken"
(Vattimo)
/6/ entspricht. Ich vergleiche die Suche nach einer empirischen,
transzendentalen
oder metaphysischen Letztbegründung der Wissenschaft mit der Suche
nach einer definitiven Sicherheit großtechnischer Systeme. Die
wissenschaftstheoretische
Debatte der letzten Jahrzehnte hat überzeugend gezeigt, dass nicht
die Stärke, sondern die Schwäche einer wissenschaftlichen
Theorie,
ihre Falsifizierbarkeit also, ein entscheidendes Merkmal ihres
wissenschaftlichen
Charakters ausmacht. Dementsprechend meine ich auch, dass nicht das
Streben
nach der größten Sicherheit bei großtechnischen
Systemen,
die die Möglichkeit von katastrophalen Auswirkungen
einschließen,
sondern paradoxerweise ihre Verletzlichkeit, d.h. die
Nicht-Notwendigkeit
von titanischer Absicherung, ein entscheidendes Kriterium ihrer
Güte
ist./7/ Die Frage ist aber dann, was wir als eine für diese oder
für
künftige Generationen nicht zumutbare Katastrophe definieren, ob
wir
es rechtzeitig erkennen und natürlich, wer darüber urteilen
soll.
Mittelstraß
wendet
sich gegen die Vorstellung einer Reparaturethik als Mittel zur
Bändigung
des entfesselten Prometheus. Gemeint ist eine technische Vorstellung
unserer
Verantwortlichkeit gegenüber der Leonardo-Welt, die, wenn
sie
einmal aus den Fugen geraten ist, durch Heranziehen von entsprechenden
Normen sich wieder reparieren ließe. Jene Normen, die unserem
Handeln
eine umfassende Orientierung bieten sollen, nennt man ethische Normen.
Der Unfug unseres technischen Handelns bestünde darin, dass wir
ohne
Rücksicht auf ethische Normen handeln, dass wir sie also
vergessen.
Nach der technischen Analogie lassen sich umfassende
Orientierungsanweisungen
z.B. in Form von Wertekatalogen oder nach systemtheoretischen
Gesichtspunkten
als Schaubild erstellen, so dass man sie ständig bei der Hand, ich
meine, im Netzwerk hat, sie z.B. bei der
Technologiefolgenabschätzung
nicht vergißt, sondern sozusagen per Programm abruft und sie
schließlich
bei Reparaturbedarf heranzieht. Damit verwechselt man aber, so
Mittelstraß,
ethische Normen mit DIN-Normen.
Bei
dieser Überzeichnung
von Sinn und Funktion von ethischen Normen, deren gesteigerte Nachfrage
seitens der technischen Intelligenzia besonders in Berufsverbänden
zu spüren ist, kommt deutlich hervor, dass der erste Einwand eine
lineare Vorstellung des Verhältnisses zwischen Denken und Tun
letztlich
zu einer technischen Vorstellung ethischen Denkens führt. Man
versucht,
den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Ich spreche von
Überzeichnung,
weil es unbestreitbar ist, dass ethische Reflexion bereits in
frühen
Anfängen - wie z.B. bei den Sprüchen der griechischen Sieben
Weisen oder beim mit Recht nicht weniger berühmten Hippokratischen
Eid oder auch bei den biblischen Zehn Geboten - zu symbolischen
Ausdrücken
kommt, und dass diese Symbolisierungen nicht nur einen allgemeinen
Charakter
haben, sondern zugleich Ausdruck bzw. Verdichtungen von historisch
gewachsenen
Lebensformen sind. Moral-Formeln, und somit auch z.B. berufsethische
Kodizes,
haben also nicht so sehr eine kognitivistische als vielmehr eine
kulturelle
Funktion./8/ Gerade deshalb bedeutet ihre technisch-instrumentelle
Funktionalisierung
eine Verzerrung ihres ursprünglichen Sinnes.
Schauen
wir uns jetzt die
Alternative von Mittelstraß an. Sie lautet: Vernunftethik.
Mittelstraß faßt Vernunftethik zunächst als Kritik der
Reparaturethik auf. Diese verwechselt die technische mit der
praktischen
Vernunft. Letztere hat nicht mit einer fertigen Welt zu tun, die es
nach
einem festen Plan zu leiten bzw. zu reparieren gilt, sondern sie stellt
eine grundsätzliche Widerstandsdimension gegen bestehende
Verhältnisse
und eine Aufforderung zu ihrer Umgestaltung dar. Zugleich aber, so
Mittelstraß,
soll die praktische Vernunft etwas leisten, nämlich die moderne
Welt
"mit ihren wissenschaftlichen und technischen Rationalitäten" dem
Menschen zurückgeben oder, mit anderen Worten, sie soll die
Entfremdung
des Menschen von der Leonardo-Welt "wieder rückgängig"
machen./9/
Denn es ist die technische Welt, die jetzt die Oberhand gewonnen hat,
so
dass nicht die Welt das Werk des Menschen, sondern der Mensch das Werk
der technischen Welt ist. Damit verliert er nicht nur Kontrolle und
Orientierung,
sondern er verliert auch die in seiner Vernunft gegründete Einheit
der Welt. Das Resultat ist eine Zersplitterung von Rationalitäten,
die Einzelfunktionen in der Leonardo-Welt erfüllen, ohne aber eine
Gemeinsamkeit zu finden. Mittelstraß' Strategie ist also zugleich
modern und restaurativ.
Er
möchte keineswegs auf die Leonardo-Welt
mit ihren Rationalitäten verzichten, sondern sie auf die Einheit
der
menschlichen praktischen Vernunft zurückführen: "Vernunft
zugleich
als der erklärte Wille, wieder in einer Welt, und zwar in einer
menschlichen
Welt zu leben."/10/ Man fragt sich an dieser Stelle erneut, warum
Mittelstraß
diese zersplitterte Welt ausgerechnet als Leonardo-Welt bezeichnet.
Denn
eine Leonardo-Welt wäre eigentlich das zu restaurierende Ziel, und
nicht das, wogegen die praktische Vernunft Widerstand leisten soll. Die
Reparaturethik würde eben diesen Widerstand nicht leisten, sondern
sich bloß mit Reparaturarbeiten beschäftigen.
Mittelstraß
betrachtet
die Vernunftethik als Alternative sowohl zu einer überhöhten
ökologischen als auch zur theologischen bzw. metaphysischen Ethik.
Letztere beruft sich auf einen göttlichen Willen, erstere auf eine
Einebnung des Unterschieds zwischen Mensch und Natur./11/ Beide
entsprechen
nicht dem rationalen Wesen der Leonardo-Welt, wobei eine Vernunftethik
durchaus ökologische Maximen einschließt, aber eben jenem
Prinzip
untergeordnet, das "am besten zu einer Leonardo-Welt paßt",
nämlich
Kants kategorischem Imperativ./12/ An dieser Stelle ist sich
Mittelstraß
allerdings im Klaren, dass ein solcher Imperativ, sowohl in der
Gesetzes-Formel
als auch in der Fassung über die Menschenwürde, Raum für
gegensätzliche Beurteilungen - zum Beispiel bei der Frage, ob eine
befruchtete menschliche Eizelle schon als Mensch zu bestimmen ist -
offen
läßt. Dabei wird auch deutlich, dass Vernunftethik für
bloße Reparaturzwecke wenig geeignet ist.
Diese
Ethikkonzeption ist
in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Mittelstraß möchte
"wieder"
nicht nur eine "gemeinsame", sondern auch eine "einheitliche" Welt.
/13/
Hier liegt offenbar eine moderne Verwechslung vor. Denn die ethische
Forderung
nach einer gemeinsamen Welt bedeutet, dass wir sie mehrheitlich
und nicht einheitlich gestalten bzw. gestalten lassen. Es geht
also
nicht um Rückgewinnung der Einheit im Sinne von Einheitlichkeit,
sondern
um Transformation der zersplitterten Vielheit in eine kommunizierende
Vielfalt.
Nicht die eine Welt, zentriert in der einen Vernunft, sondern eine
gemeinsame
plurizentrische Welt stellt sich als eine mögliche Perspektive bei
der Transformation (nicht also bloß bei der Reparatur) unserer
Unfug-Welt
in einer vom Menschen zwar mitgestalteten, aber letztlich von ihm nur
mitbestimmten
Welt dar. An dieser Stelle mutet seltsam an, dass Mittelstraß
sich
gerade auf Kants Auffassung von der Würde eines
vernünftigen
Wesens als Träger von Vernunft beruft, zumindest wenn man, wie
bei Mittelstraß, metaphysische Alternativen verwirft und auf die
Einheit von Mensch und Welt abzielt.
Entweder
akzeptiert man mit Kant,
dass der Mensch nicht bloß ein Naturwesen ist, sondern als moralisches
Wesen dem Reich der Zwecke angehört, und dass dieses
eben
nicht gleich mit der biologischen Zugehörigkeit zur Gattung Mensch
gleichzusetzen ist, oder man nimmt eben die natürliche Erscheinung
der Rationalität aus unerfindlichen Gründen als Grundlage
für
unsere besondere Würde an, womöglich unter
Ausschaltung
ihrer Entwicklungsstufen, z.B. bei der befruchteten Eizelle und wohl
auch
darüber hinaus (Naturalisierungsthese). Kants Ethikkonzeption
paßt
eben gerade nicht zur Leonardo-Welt von Mittelstraß, sondern sie
steht quer zu ihr. Dies kommt auch deutlich zum Ausdruck in
Mittelstraß'
Betonung der "einen" Welt, während wir für Kant eben zwei
Welten
angehören. Eine naturalisierte Vernunftethik muß also
dogmatisch
die menschliche Rationalität zum obersten Wert erheben, d.h. sie
gibt
nur scheinbar die Idee einer materialen Wertordnung auf.
Schließlich
möchte
ich, als Überleitung zum zweiten Teil, auf die Problematik der
Vernunft
bzw. der Person als Träger der Vernunft hinweisen. Es ist
eine
Binsenwahrheit, dass der Mensch nicht als vernünftiges Wesen wie
Athena
aus dem Haupte des Zeus geboren wird. Die vernunftgemäße
Gestaltung
unseres Lebens ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben. Wir sind
nicht
bloß Träger der Vernunft, sondern Vernunft
heißt
Wahrnehmung (griechisch: aisthesis) der
Vollzugsmöglichkeiten
unseres Lebens. Dabei können wir die sinnliche Konkretion unseres
Lebens in ihren durch die faktische Vergangenheit bedingten aber auf
die
Zukunft hin offenen Gestaltungsmöglichkeiten wahrnehmen. Mit
anderen
Worten, eine Vernuftethik wird erst geschichtlich-konkret, wenn
wir sie als Ästhetik der Existenz auffassen.
3
Michel Foucalts Ästhetik der
Existenz
In
Anschluß an die späten
Arbeiten des französischen Philosophen Michel Foucault
läßt
sich zeigen, dass die ethische Orientierungsfrage, verstanden als Frage
nach der Möglichkeit der Lebensgestaltung, die Übung im
Umgang
mit der nicht kodifizierbaren bzw. offenen Dimension menschlichen Seins
voraussetzt./14/ Die Auseinandersetzung mit dieser Dimension bildet den
Kern der abendländischen Ethik spätestens seit
Sokrates.
Foucault stellt vier Typen von Technologien dar, wodurch wir uns selbst
verstehen und unser Leben gestalten, dar, nämlich:
(1) Technologien
der Produktion:
sie dienen der Erzeugung bzw. Umformung von
materiellen Dingen.
(2) Technologien
der
Zeichen: sie ermöglichen uns Sprache und Zeichen zu
manipulieren.
(3) Technologien
der
Macht: sie bestimmen das zwischenmenschliche Verhalten anhand
von Herrschaftsstrukturen.
(4) Technologien
des
Selbst: sie sind Operationen der Individuen mit sich selbst und
mit den anderen.
Diese
Technologien sind,
so Foucault, nicht voneinander zu trennen und die Analyse ihrer
Wechselwirkungen
ermöglicht uns unterschiedliche Einsichten über uns selbst.
Philosophen
wie Karl Marx haben den entscheidenden Einfluß der
Produktionstechnologien
auf Individuen und Gesellschaft analysiert. Die Frankfurter Schule hat
die Bedeutung der Herrschaftstechnologien herausgearbeitet. Es ist
bereits
offensichtlich, dass die elektronischen Technologien, ähnlich wie
beim Übergang in die Gutenberg-Ära, unser Leben in all seinen
technischen Dimensionen verändern. Foucault zeigt,
dass wir
uns gerade durch Selbstpraktiken individuell und sozial konstituieren.
Das besagt, dass die Vorstellungen von der einen menschlichen
Vernunft
und der menschlichen Subjektivität als Träger dieser Vernunft
abstrakte Konstruktionen, oder, mit Kant gesprochen, "regulative Ideen"
sind. Die von Foucault hervorgehobene Gestaltbarkeit menschlicher
Subjektivität
ist aber wiederum nicht beliebig, sondern sie wird durch eine
kontingente Genealogie von Praktiken mitbestimmt. Im Gegensatz
zu
einer an Kant
orientierten Reflexion, die nach einer transzendentalen Struktur als
Bedingung
solcher Praktiken fragen würde, zeigt Foucaults
"Archäologie",
dass die Aufklärung über ihre Kontingenz zugleich die
Einsicht
in die Möglichkeit unserer partiellen Neugestaltung bedeutet./15/
Damit
wendet sich Foucault zugleich gegen die Vorstellung von globalen revolutionären
Projekten und plädiert für
partielle
Transformationen. Diese gehen nicht primär von einem unwandelbaren
moralischen Code aus, sondern sie betrachten solche Codes aus der Sicht
unserer praktischen oder asketischen Selbstformung (griechisch:
askese = Übung). Diese asketische Dimension
bedeutet aber nicht
bloß die Übung bei der Anwendung von Codes durch den Träger
der Vernunft, sondern umgekehrt: Die "Sorge um sich", wie Foucault
mit Hinweis auf die Sokratische Ethik betont, entfaltet sich in jener
offenen
Dimension, in der ein ethisches Subjekt sich konkret-geschichtlich
konstituieren
und verändern kann. Daher auch Foucaults Unterscheidung zwischen
Code-
und Ethik-orientierten Moralen, d.h. zwischen Moralen, die den Vorrang
einem bestimmten Code vor der Sorge um sich einräumen, wie
im Falle der Reparaturethik, aber auch der Vernunftethik von
Mittelstraß
und den Moralen, die solche Codes vor den Hintergrund einer faktisch
bedingten,
aber offen bleibenden Aufgabe der Lebensgestaltung stellen./16/
Ob
bei griechischen und hellenistischen
Philosophenschulen, in fernöstlichen geistigen Traditionen, im
Christentum
oder in der Psychoanalyse, die Bedeutung von Praktiken der
Selbstformung
- von der Selbstanalyse und dem Dialog, über das Schreiben und die
Techniken der Meditation bis hin zur Traumdeutung - läßt
sich
kaum überschätzen. Es ist dann die Frage, wie wir uns in
unserer
technischen Zivilisation in diesen Praktiken, nicht zuletzt vor dem
Hintergrund
der neuen Technologien der Zeichen, üben.
Im
Unterschied zu Mittelstraß'
Vernunftethik meine ich, dass im Falle einer
Ethik-orientierten Moral keine einheitliche Rationalität
wiederherzustellen
ist, sondern dass wir uns fragen müssen, wie wir unser
Verhältnis
zur Natur und zur Technik verändern, indem wir das Verhältnis
zu uns selbst praktisch-asketisch verändern. Das bedeutet, dass
wir
zunächst über Möglichkeiten der Transformation der
überlieferten
Selbstpraktiken nachdenken und sie auch erproben. Ich meine, mit
anderen
Worten, dass Foucaults Ästhetik der Existenz im
Zusammenhang
mit den Informationstechnologien, genauso wie mit den Herrschafts- und
Produktionstechnologien, zu reflektieren ist./17/ Besonders in dieser
Hinsicht
scheint mir Mittelstraß' Vernunftethik fragwürdig.
Mittelstraß
sieht in der "Informationswelt", das heißt in der technischen
Vernetzung
zwischenmenschlicher Mitteilungen, eine Einebnung des Unterschieds
zwischen
Wissen und Meinung./18/ Damit trennt er aber, was zusammengehört.
Denn das "Vermögen einer selbständigen Wissensbildung"
hängt
entscheidend von der Teilnahme an einem offenen Mitteilungsprozeß
ab. Mittelstraß möchte aber eine saubere Trennung haben
zwischen
dem Wissensvollzug ("als sei man noch einmal Euklid") und dem
bloßen
Abruf von verfügbarem Wissen. Damit wiederholt er einige der
Einwände
Platons gegen die Schrift (Phaidros 274c-275b)./19/
Es
ist aber nicht einzusehen,
warum in der sogenannten Informationsgesellschaft das
Verfügbarmachen
von Wissen "wichtiger als sein Begreifen" sein muß./20/ Eher
scheint
es mir umgekehrt zu sein, nämlich, dass sowohl die durch Gutenberg
eröffnete Ära als auch unsere vernetzte Weltzivilisation
allgemeinere
Bedingungen des Wissensvollzugs bzw. der Formung des "Vermögens
der
selbständigen Wissensbildung" geschaffen haben, als dies in
früheren
vorwiegend oralen Gesellschaften der Fall war. Bereits in den
Platonischen
Dialogen, verstanden als Übungsanleitungen bzw. als eine Technologie
des Selbst, stehen Meinungen und begründetes Wissen
in einem (auch technischen bzw. schriftlichen) Spannungsfeld,
das zu einem offenen, aporetischen Zwischen-Ergebnis führt,
nämlich zu jenem Zwischen, worin wir uns als Freunde der
Weisheit (philo-sophen)
befinden,
im Gegensatz also zum Weisen (sophós), der in
scheinbarer
Selbständigkeit,
losgelöst vom Vermittlungsprozeß, sich selbst bestimmte.
Gerade
die scheinbare Nivellierung des begründeten Wissens mit anderen
Wissensformen
könnte Anlaß zu einer skeptischen, d.h.
prüfenden
Haltung geben, vorausgesetzt, wir trennen nicht das begründete
Wissen
von seinen vielfältigen Quellen und Verbreitungskanälen aus
Angst
vor Orientierungsverlust.
Das
ergäbe dann eine andere Sicht von jener
idealisierten einheitsstiftenden Vernunft, die jetzt allmählich zu
einem Gemeinsamkeit stiftenden und Vielfalt ermöglichenden
Mitteilungsprozeß
wird. Mittelstraß' restaurative Sehnsucht nach dem "Ideal der
Einheit
des Wissens", die als Ergänzung zum Informationswissen das
"Orientierungswissen"
leisten soll, baut eine Dichotomie auf, die allzu deutlich den
metaphysischen
Stempel der Neuzeit trägt. Kein Geringerer als Kant hat aber die
entscheidende
Bedeutung der Schrift für den Aufklärungsprozeß
hervorgehoben.
In seiner Schrift "Was heißt: Sich im Denken orientieren?"
schreibt
er: "Der
Freiheit zu
denken ist erstlich der bürgerliche Zwang
entgegengesetzt.
Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen, oder zu schreiben,
könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken
durch sie gar nicht genommen werden. Allein, wie viel und mit welcher
Richtigkeit
würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in
Gemeinschaft
mit anderen, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen,
dächten! Also kann man wohl sagen, daß
diejenige äußere
Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen,
den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken
nehme:
das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch
übrig
bleibt, und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch
Rat
geschafft werden kann." /21/
Uns
öffentlich mitteilen
tun wir aber für Kant erst dann, wenn wir schreiben. In
"Beantwortung
der Frage: Was ist Aufklärung?" heißt es: "der öffentliche
Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein
kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch
derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne
doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern.
Ich
verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen
Vernunft
denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen
Publikum
der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen,
den
er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten
oder
Amte von seiner Vernunft machen darf." /22/
Mit
anderen Worten, Orientierungswissen,
das sich nicht als Informationswissen - zur Zeit Kants in gedruckter
Form,
heute vorwiegend elektronisch - darbietet, ist eigentlich kein
Orientierungswissen,
auch wenn die Tatsache seiner Vermittlung lediglich eine zwar
notwendige,
aber keine hinreichende Bedingung ihres Orientierungscharakters
ausmacht.
Letzteres kommt erst dann hinzu, wenn wir die Informationstechnologien
in Wechselwirkung nicht nur mit Produktions- und
Herrschaftstechnologien,
sondern primär mit den "Technologien des Selbst" betrachten.
Die
"Ästhetik der Existenz",
die sich in der Wahrnehmung und Gestaltung offener Dimensionen
unseres
Lebens übt, ist aber keine Ethik der (Selbst)-Veränderung um
der Veränderung willen. Sie gründet in einer, wie ich sie
nenne, synthetischen Reflexion, welche die Phänomene
Natur, Mensch,
Technik in ihren Wechselwirkungen bedenkt, ohne sich aber
anzumaßen,
dass die menschliche Vernunft die Garantie für eine gelingende
Synthese
- z.B. in der Vorstellung von einem durch uns gesteuerten und auf eine
ideale Welt von Erkenntnissen gerichteten Evolutionsprozeß -
ausstellen
kann. Unsere vernünftig-titanischen Anstrengungen, mögen sie
notwendig sein, sie bleiben stets schwache, d.h. scheiternde
Synthesen.
Darin einen zu überwindenden Nachteil zu sehen, bedeutet eben eine
titanische Phantasie. Die künstliche Vernetzung von Mensch, Natur
und Technik, welche eine Auszeichnung unserer technologischen
Zivilisation
ausmacht, bedeutet, dass alle drei sich jeweils vergessen
werden
müssen, wenn es darum geht, lediglich nach einem Maßstab zu
suchen.
Unsere
durch bestimmte Praktiken
geformte Vernunft muß lernen, sich in der elektronischen Agora zu
bewähren, indem sie in der Fragilität der Bilder und
Mitteilungen
eine Möglichkeit ihrer Transformation erkennt, wenn sie wagt, sich
darin einzuschreiben anstatt sich also anzumaßen, mit
einem
vorgefertigten Maßstab die Gefahr der
Informationstechnologien
zu beschwören. Dies ist auch der ursprüngliche Sinn einer asketischen,
d.h. praktizierenden Ethik der Lebensgestaltung, so wie sie seit der
Antike
mit unterschiedlichem semantischen Gehalt praktiziert wurde. Sie ist
keine
bloße Individualethik, sondern, wie am Fall des Sokrates
deutlich
zu sehen, sie versteht sich als konkreten Vollzug von Praktiken der
Selbstgestaltung
im alltäglichen sozialen Leben, d.h. inmitten der Techniken der
Produktion,
Kommunikation und Herrschaft. Eine Parabel kann diese
Zusammenhänge
versinnbildlichen.
4 Die
Büffel-Parabel
Die Büffel-Parabel
stammt ursprünglich aus dem alten China. Der chinesische
Chan-Meister
Guo'an Shiyuan (um 1150) hat sie in einem berühmten Bildzyklus
illustriert.
Diese Parabel war in Japan während des 14. und 15. Jahrhunderts
weit
verbreitet und wurde zur einer klassischen Zen-Parabel.
Guo'ans Bilder sind zwar verlorengegangen, aber wir besitzen eine
Illustration
des japanischen Zen-Meisters Shuhbun (um 1450), die im Shokokuji-Tempel
in Kyoto aufbewahrt wird /23/.
Ich
verwende jetzt diese
Büffel-Parabel zur Versinnbildlichung der Einübung in das
Verhältnis
mit unserem Titanismus, d.h. mit unserer Maßlosigkeit in der
Unfug-Welt.
Hiermit soll keiner weltfremden Innerlichkeit oder einem
weltverneinenden
Mystizismus das Wort geredet werden. Sie will bloß die Struktur
einer
Reflexionsbewegung zeigen, die, wenn sie geübt wird, zur besseren
Einsicht (keineswegs also zu einer heiligen Erleuchtung) in
eine
Quelle des Unfugs, d.h. in uns selbst, führen kann.
Was
besagt die Parabel? Sie
ist in zehn Abschnitte unterteilt, in denen jeweils ein knapper Hinweis
auf das Verhältnis des Hirten mit dem Büffel gegeben
wird:
(1) Den
Büffel suchen:
Wir begeben uns auf die Suche nach dem Titanismus. Wir verfolgen seine
Spuren in unseren Technologien.
(2) Die
Spur entdecken: Wir
entdecken seine Spuren in den großen Pannen unserer Unfug-Welt,
aber
auch in scheinbar selbstverständlichen Phänomenen des Alltags
und in meistens vergessenen geistigen Traditionen.
(3) Den
Büffel entdecken:
Wir lassen uns vom eigenen und fremden Sachverstand leiten, um den
Titanismus
in seinen offenen und versteckten Dimensionen besser wahrnehmen zu
können.
Wir betreiben z.B. Technologiefolgenabschätzung.
(4) Den
Büffel einfangen:
Wir entwickeln neue Technologien um des Titanismus Herr zu werden bzw.
um gegebenenfalls die von ihm verursachten Pannen zu reparieren.
(5) Den
Büffel hüten
und führen: Wir implementieren diese Technologien, um uns den
Titanismus dienstbar zu machen. Wir betreiben also
Technologiemanagement
und Reparaturethik.
(6) Auf
dem Büffel nach
Hause reiten: Wir nutzen den Titanismus um unsere Ziele zu
erreichen:
Erleichterung von schwerer Arbeit, Produktivitätssteigerung,
Mehrung
der Wohlfahrt, soziale Sicherheit, sozialer Friede - kurz, um in das
Haus
der Menschenrechte zu gelangen./24/
(7) Den
Büffel vergessen
und alleine sein: Wir nehmen Abstand vom Büffel, indem wir uns
um selbst kümmern.
(8) Den
Büffel und sich
selbst vergessen: Wir versuchen eine Einsicht in den vielfachen
Sinn
des "Nicht-Handelns" zu gewinnen.
(9) Zum
Ursprung und zur Quelle
zurückkehren: Wir kehren nicht zurück in die eine
einheitliche
Welt der Vernunft, sondern wenden uns einer gemeinsamen, aber
vielfältig
zu gestaltenden Welt zu.
(10) Die
Stadt mit herabhängenden
Armen betreten: Der Alltag mit seinen Pannen und seiner Hektik hat
uns zwar wieder, aber wir wissen, dass wir nicht primär
Maß-Gebende,
sondern Maß-Suchende sind.