1."Geister-Zitierung"
Raffael
von Urbino (1483-1520) malte zwischen 1509 und 1511 eine Reihe von
Fresken
im Auftrag des Papstes Julius II. im Vatikanpalast, darunter ein 577 x
814cm großes Fresko, das in der Kunstgeschichte als Schule
von Athen (Siehe auch: hier)
bekannt ist und über die Jahrhunderte eine
außergewöhnliche
Faszination auf seine Betrachter ausgeübt hat (Löhneysen
1992).
Julius II. bezog nach dem Tode seines Vorgängers Alexander VI.
Borgia
(1492-1503) drei neue Gemächer und einen Saal, die als "Stanzen
Raffaels"
(stanza = Zimmer) berühmt geworden sind. Die "Stanza della
Segnatura" in der sich die "Schule von Athen" befindet, war vermutlich
als Bibliothek und Lesezimmer bestimmt. Diese stanza wurde
später
so genannt, weil dort Urkundenunterzeichnungen und Siegelungen
vorgenommen
wurden.
In
seiner Raffaels Biographie schreibt Wilhelm Kelber:
"Eine
Bibliothek war damals etwas anderes als heute. Das Buch war noch
heilig,
noch unentweiht. Es gab noch keine Kritik und keine Ursache dazu. Man
las
mit Devotion. Der Herzog von Urbino empfand ein gedrucktes Buch als
unwürdig.
Er duldete keines in seiner Bibliothek. Seine Bücher mußten
durch die menschliche Handschrift die Würde des Inhalts wahren.
Man
ließ sich auch keine Bücher kommen, weder ins Haus noch gar
von auswärts, sondern man reiste hin, wo sie waren, rückte
seinen
Stuhl vor das Pult, wo der Foliant an einer Kette an seinem festen Ort
lag. Genau wie man heute Galerien besucht. Wo Bücher waren, war
Weihe.
Und das Lesen selbst ein vernehmlicher Umgang mit dem Schreiber, eine
Art
Geister-Zitierung. Man las mit der Seele und erlebte mehr als blasse
Gedanken.
Dieser inneren Situation entsprach es, den Geist der Autoren in
Gemälden
zu vergegenwärtigen, den der Leser erfühlte. Man "zitierte"
den
Autor." (Kelber 1993: 18)
Ich
möchte
diesen Hinweis über die "Geister-Zitierung" als Leitfaden für
eine Interpretation oder, besser gesagt, als Einladung zu einer eigenen
Auseinandersetzung mit Raffaels Bild aufgreifen. Unversehens sind wir
schon
mitten beim Thema unseres Workshops. Denn wenn wir dieses Bild
anschauen,
dann sind wir mit einer vielschichtigen Komposition konfrontiert, bei
der
wir den Eindruck haben, dass jeder Versuch ihren Sinn zu erfassen nur
als
eine Rekonstruktion aus der einen oder anderen Perspektive bedeuten
muss.
Wir sind, mit anderen Worten, Teil des Bildes und nicht ein objektiver
Betrachter. Es ist so, und das ist bereits eine mögliche Stellungnahme,
dass wir, wenn wir von den Texten zu ihren Autoren vorgehen,
feststellen,
dass diese wahre Art der Zitierung, diese "Geister-Zitierung" also, uns
vor eine viel größere Herausforderung stellt als der
Versuch,
Geschriebenes oder Gedrucktes auszulegen.
Wie
sollen wir in dieser komplexen Situation miteinander umgehen? Wen
sollen
wir zuerst zitieren, d.h. zuhören oder zuschauen? Davor
wüßten
wir natürlich zu gern who is who. In welcher Reihenfolge
sollen
wir vorgehen? Dürfen wir uns überall einmischen? Wo befinden
wir uns eigentlich, wenn wir in diesem Bild sind? Wir haben
offenbar
ein großes Informationsdefizit, aber wir sind uns auch im klaren,
dass eine isolierte Deutung einzelner Figuren oder Gruppen uns vor die
Frage nach dem Zusammenhang, oder in Hypertext-Sprache übersetzt,
nach den vielfältig möglichen, sinnvollen und weniger
sinnvollen links stellt. Die Situation selbst erscheint uns
vielleicht als
eine Momentaufnahme, die auf mehrere räumliche und zeitliche
Richtungen
hinweist, sowohl im Bild selbst als auch in ihrem Bezug zu den anderen
Fresken dieser stanza.
Diese
Hypertext-Annäherung an die "Schule von Athen" ist zunächst
eine
Einladung, uns selber ein Netz von Bedeutungs- und
Verweisungszusammenhängen
aufzubauen, das zwar aus einem beliebigen subjektiven Interesse zu
entstehen
scheint, in Wahrheit aber als eine mögliche Antwort auf ein
Angesprochenwerden
zu verstehen ist. Das bedeutet, dass der Leser dieses Bildes
zunächst
glaubt, die hier zitierten Geister nach eigenem Gutdünken
verlinken
zu können, während aber in Wahrheit er selbst derjenige ist,
der zu einer Teilnahme, in welcher Form auch immer, eingeladen wird.
Unser
Beobachterstatus, der zugleich der Status eines unbeteiligten
Konstrukteurs
zu sein scheint, entpuppt sich als eine Chimäre: Es gibt kein
Beobachten,
das nicht zugleich ein Mitmachen bedeutet. Wie aber mitmachen? Nach
welchen
Regeln? Und was sollen wir dabei tun? Worauf läuft das
Gespräch
mit der einen oder anderen Person hinaus? Und was ist, wenn jemand nur
da sitzt oder liegt, völlig losgelöst von einer
Kommunikationsgemeinschaft,
in die eigenen Gedanken versunken oder dem, was um ihn herum
stattfindet,
nicht die Spur einer Aufmerksamkeit widmet? Und wie stellt sich das
Verhältnis
zu Personen dar, die in so unterschiedlichen Aktivitäten
beschäftigt
sind, dass sie in sich geschlossene Teilgemeinschaften bilden oder zu
bilden
scheinen, während andere wiederum mit Freude aufeinander zugehen
oder
einem anderen gebannt zuhören? Und wie steht es um das
Verhältnis
zwischen Menschen verschiedenen Alters und, was in diesem Bild
zumindest
auf den ersten Blick kaum ins Gewicht fällt, zwischen den
Geschlechtern?
Das
Bild bezieht uns auch in ein dynamisches Geschehen oder in einen
Durchgang
ein, der in verschiedene Richtungen führt. Wir befinden uns dabei
mitten in einer Halle oder in einer tempelartigen Anlage. Die
göttliche
und die menschliche Welt, die sich das Bild horizontal teilen, bilden
eine
Einheit. Diese konstruierte Welt, die der Gespräche und die der
Bauwerke
und Bildnisse, läßt eine von sich aus aufgehende Natur
durchscheinen. Diese überragt die massive aber offene Konstruktion
der Halle. Links ist eine Tür, eine wirkliche Tür sollten wir
sagen, die von einer 'stanza' in die nächste führt. Fast ist
es
aber so, als ob wir durch diese Tür in die Welt gelangen
könnten,
in der wir schon sind, wenn wir uns in das Bild 'ein-bilden' und dabei
den Unterschied zwischen Bild und außenstehendem Beobachter
aufgeben.
In diesem Fall stehen wir mitten in einer vorgegebenen von anderen
konstruierten
und uns tradierten Welt der Gespräche und der Bauwerke und fragen
uns, was für Möglichkeiten des Mitmachens uns diese
Konstruktionen
und Traditionen zulassen, in welche Verhältnisse sie uns
einführen,
und wie wir uns auf sie einlassen können.
2.
Who is who?
Schauen
wir uns die Sachverhalte etwas näher an. An der Decke dieser stanza
befinden sich vier symbolische weibliche Gestalten, welche Theologie,
Philosophie,
Jurisprudenz und Poesie darstellen. Ferner befinden sich zwischen
diesen
Medaillons folgende Szenen: das "Urteil Salomos" zwischen Philosophie
und
Jurisprudenz, "Adam und Eva" zwischen Jurisprudenz und Theologie,
"Apollo
und Marsyas" zwischen Theologie und Poesie, und "Astronomie" zwischen
Poesie
und Philosophie. Auf der gegenüberliegenden Wand malte Raffael ein
anderes Fresko, die "Disputa", in der eine Fülle von Teilnehmern
über
die Hostie auf dem Altar disputieren. An den beiden anderen Wänden
sind die Fresken "Parnass" und die drei Kardinaltugenden (Stärke,
Weisheit, Mäßigung) dargestellt. Über der "Schule von
Athen"
steht das Medaillon der Philosophie umgeben vom "Urteil Salomos" und
von
der "Astronomie". Die Bezeichnung "Schule von Athen" stammt von
Giovanni
Pietro Bellori (ca. 1615-1696) (Kelber 1993: 463).
Who
is who in der "Schule von Athen"? Mit dieser Frage hat sich zuletzt
Glenn Most (Most 1999) auseinandergesetzt. Es besteht die Gefahr zu
glauben,
so Most, alle Rätsel dieses Bildes wären gelöst, wenn
wir
einige oder sogar alle Namen der hier dargestellten Personen genau
wüssten
(Most 1999: 10). Gleich zu Beginn standen sich zwei konkurrierende
Interpretationen
dieses Bildes gegenüber. Giorgio Vassari (1511-1574) nannte
Raffaels
Fresko eine storia und sah in ihm den Versuch einer
Harmonisierung
von Theologie, Philosophie und Astrologie. Er identifizierte zwei Arten
von Personen bzw. Personengruppen, nämlich, auf der einen Seite,
historische
Gestalten wie Platon mit seinem kosmologischen Dialog Timaios
und
Aristoteles mit einem allgemein gekennzeichneten Werk Ethica,
Diogenes
mit seiner Tasse, Zoroasther und den Hl. Matthäus, sowie, auf der
anderen Seite, zeitgenössische Personen wie Federico II., Herzog
von
Mantua, Bramante und Raffael selbst (Most 1999: 12). Demgegenüber
behauptete Pietro Bellori (ca. 1615-1696), das Fresko stelle keine
Geschichte,
sondern lediglich einen Disput zwischen Philosophen, Rhetoren, Poeten,
Mathematikern und Gelehrten aus anderen Disziplinen dar. Er
identifizierte
ferner weitere Personen wie Sokrates, Pythagoras, Empedokles,
Archimedes
und Alkibiades. Most selbst teilt die 58 dargestellten Personen in drei
Kategorien ein:
1.
Personen, die aufgrund der dargestellten Attribute unverwechselbar
sind.
Das betrifft sechs oder sieben Figuren, nämlich: Platon,
Aristoteles,
Diogenes, Ptolemaios (im rechten Vordergrund, mit dunklem Mantel,
erkennbar
am Erdglobus), Pythagoras (im linken Vordergrund, vor einer
Schreibtafel
auf dem ein pythagoreisches Problem erkennbar), Sokrates (an seinem
unverwechselbaren
Gesicht erkennbar) sowie schließlich Raffael selbst (im rechten
Vordergrund,
neben Ptolemaios).
2.
Figuren, die aufgrund ihrer Attribute einer bestimmten Kategorie von
Personen
zugeschrieben werden können, so z.B. den Geometer (Archimedes oder
Euklid) im rechten Vordergrund.
3.
Die restlichen 46 Figuren, die trotz ihrer Aktivitäten
unbestimmt
bleiben und eher wie Komparsen rund um einen Star
wirken.
Das
zeigt, so Most, dass hier die Philosophie anhand dessen dargestellt
wird,
was Philosophen gewöhnlich tun, nämlich lesen, schreiben,
lehren,
argumentieren, demonstrieren, fragen, zuhören und nachdenken (Most
1999: 20-27). Unser Bild steht zwar in der Tradition ikonographischer
Darstellungen
der Philosophie, Raffael bricht aber u.a. mit der Tradition der Sieben
Freien Künste, als er hier nicht nur sieben allegorische
Gestalten,
sondern eine Fülle von wirklichen 'Geistern' zitiert.
Mehrere
Gruppen sind in bezug auf das Thema unserer Tagung bemerkenswert:
darunter
der Nachrichtenüberbringer am linken oberen Rand, der freudig
gegrüßt
wird, die aufmerksamen Zuhörer um Sokrates, Platon und
Aristoteles,
die als Paar sich gegenseitig anschauen und ansprechen. Ich möchte
aber die Aufmerksamkeit auf die zwei Gruppen vorne links und rechts
richten.
Die rechte Gruppe auf der Seite von Ptolemaios mit dem Erdglobus und
der
neben ihm stehenden Gestalt mit dem Himmelsglobus stellt nach
Most:
"ein
anschauliches Modell für die erfolgreiche Vermittlung von Wissen
dar:
Der Lehrer scheut keine Mühen und kniet unbequem, damit die Tafel,
auf der er mit seinen Zirkel Strecken abgreift, für die vier
seiner
Demonstration folgenden Studenten gut erkennbar ist; und diese
letzteren
verkörpern vier aufeinanderfolgende Stufen des
Erkenntnisprozesses,
von schmerzlicher Verwirrung über wilde Mutmaßung und
hoffnungsvolles
Fragen bis hin zu befriedigter Gewißheit." (Moos 1999: 56-57)
Diese
Gruppe kontrastiert wiederum mit der Gruppe am linken Rand um
Pythagoras
herum, der das Thema des Verbergens von Wissen verkörpert.
Pythagoreer
pflegten zu sagen, es dürfe nicht alles allen mitgeteilt werden,
denn
sie, die Pythagoreer, verfolgen das Gute auf der Grundlage ihres
Wissens,
das den Gegnern nicht zugänglich sein sollte. Diogenes
Laertius
berichtet, daß Pythagoras' Schüler ihr Vermögen zum
gemeinsamen
Besitz zusammenlegten, denn Pythagoras war der erste der
sagte,
"dass
unter Freunden alles gemeinsam und dass Freundschaft Gleichheit
sei." (Diogenes Laertius 1967: 115)
Fünf
Jahre lang mußten die Schüler schweigen und den
Lehrvorträgen
ausschließlich als Hörer folgen, ohne den Meister zu Gesicht
zu bekommen,
"bis
sie sich hinreichend bewährt hätten; von da ab gehörten
sie zu seinem Hause und durften ihn sehen." (a.a.O.)
Pythagoras
erstmals habe
"das
Himmelsgebäude kosmos genannt und die
Erde
als rund bezeichnet (Diogenes Laertius 1967: 133).
Die Bezeichnung Philosoph geht auf Pythagoras zurück. Die
Pythagoreer teilten
sich in zwei Richtungen, die Akousmatiker (Hörer) und die Mathematiker
(Schüler)
„Mathematiker
hießen jene, welche mehr in den besonderen und im Hinblick auf
Exaktheit
gepflegten Lehren seiner Wissenschaft unterrichtet worden waren,
Akousmatiker
jene, welche nur die kurzgefaßten Vorschriften ohne exakte
Begründung
vernommen hatten." (Diels/Kranz 18.2)
Pythagoreer
und Ptolemäer stehen bei Raffael in einem scharfen
informationsethischen
Kontrast.
3.
Zu Besuch bei Protagoras
Gab
es
eine literarische Vorgabe, fragt sich Most, für diese
eindrucksvolle
Darstellung eines philosophischen Kongresses bei dem Bücher - elf
sind dargestellt - eine wichtige Rolle spielen? Most glaubt einen
solchen
Inspirationstext im Platonischen Dialog Protagoras
entdeckt
zu haben. Sokrates und der junge Hippokrates machen sich auf den Weg,
um
im Haus des Kallias, im größten und prächtigsten Haus
Athens,
den Sophist Protagoras zu treffen.
Der
Text lautet:
"Als
wir nun eingetreten waren, trafen wir den Protagoras in dem vorderen
Säulengange
herumwandelnd. Neben ihm aber gingen auf der einen Seite Kallias, der
Sohn
des Hipponikos, und sein Bruder von mütterlicher Seite, Paralos,
der
Sohn des Perikles, und Charmides, der Sohn des Glaukon, auf der anderen
aber der andere Sohn des Perikles, Xanthippos, ferner Philippides, des
Philomelos Sohn, und Antimoiros von Mende, der am meisten im Ruf steht
von den Schülern des Protagoras und als eigentlicher
Kunstjünger
bei ihm lernt, um selber Sophist zu werden. Andere aber zogen
hinterdrein
und hörten dem, was gesprochen wurde, zu, und von diesen schien
der
größte Teil aus Fremden zu bestehen, welche Protagoras aus
allen
Städten, durch welche er auch kommen mag, hinter sich herzieht
durch
den Zauber seines Mundes, wie Orpheus, so dass sie alle willenlos
diesem
Zauber nachfolgen; es waren aber auch einige von den Einheimischen in
diesem
Reigen. An dem Anblicke dieses Letzteren nun hatte ich am meisten meine
Freude, nämlich darüber, wie hübsch diese stummen
Zuhörer
sich davor in acht nahmen, dem Protagoras vorne in den Weg zu treten,
vielmehr,
sooft er und die, die mit ihm gingen, sich umdrehten, sich sittig und
wohlgeregelt
auf beide Seiten verteilten, kehrtmachten und sich dann hinten in der
schönsten
Ordnung wieder anschlossen.
Jenem
zunächst erblickt' ich, wie Homeros sagt, den Hippias aus
Elis,
welcher in dem gegenüberliegenden Säulengange sich auf einen
Throm gesetzt hatte; um ihn herum aber saßen auf Bänken
Eryximachos,
des Akumenos Sohn, Phaidros aus Myrrinus, Andron, des Androtion Sohn,
und
von Fremden mehrere Landleute des Hippias und einige andere, und man
konnte
bemerken, daß sie ihm gerade Fragen aus der Erd- und Sternkunde,
nämlich über die Natur des Alls und die Himmelserscheinungen
vorlegten, und wie er von seinem Thron aus einem jeden von ihnen
Auskunft
über das Gefragte gab und es mit ihnen durchging.
Auch
des Tantalos ferner schauet' ich. Denn es war wirklich auch
Prodikos aus Keos da und befand sich in einem Gemache, welches vordem
Hipponikos
als Vorratskammer benutzt hatte; jetzt aber hat wegen der Menge der
Einkehrenden
Kallias auch dieses ausgeräumt und zur Aufnahme von Fremden
eingerichtet.
Prodikos nun lag noch im Bette, eingehüllt in Pelze und Decken,
und
zwar in nicht wenige, wie der Augenschein lehrte; ihm zur Seite aber
saßen
auf den nahestehenden Ruhebetten Pausanias aus Kerameis und neben
diesem
ein noch sehr junger Mensch, von schönen und trefflichen Anlagen,
wie es mir vorkam, jedenfalls aber von Gestalt überaus schön.
Wenn ich mich recht erinnere, so hörte ich, dass sein Name
Agathon
sei, und es sollte mich nicht wundern, wenn er der Geliebte des
Pausanias
wäre. Dieser junge Mensch also war dort zugegen, und die beiden
Adeimantos
ferner, den Sohn des Kepis und den des Leukolophides, und noch einige
andere
erblickte man daselbst. Worüber sie aber sprachen, konnte ich von
draußen nicht verstehen, so dringend ich auch wünschte, den
Prodikos zu hören - denn gar hochweise und göttlich scheint
mir
der Mann zu sein -, sondern der dumpfe Widerhall, welchen der tiefe Ton
seiner Stimme in dem Gemache gab, machte seine Worte unvernehmlich."
(Prot.
314e-316a)
4.
Raffael und wir
So
wie
Plato im "Protagoras" eine Fülle von Personen zu einem
Stelldichein
zitiert, so gestaltet Raffael seinen Kongress in dessen
Mittelpunkt
Welt und Mensch, Kosmologie und Ethik, Platon und Aristoteles stehen.
Ethik
ist im Bilde im doppelten Sinne des Wortes: Sie wird als
Disziplin
und als Handlung versinnbildlicht. Die nach vorne und nach unten
weisende
Hand des Aristoteles ‒ in einem
braunen und hellblauen an Erde und
Wasser,
so scheint es mir zumindest, hinweisenden Gewand ‒
steht
im
Spannungsverhältnis
zum erhobenen Finger des Platon, der sowohl von seinem roten Gewand als
auch von der Form seines Körpers her an eine Flamme erinnert und
somit
an Feuer und Luft. Mit beiden Gesten und in beiden Gestalten wird
das Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem
Menschlichen
'angemessen' und 'angespannt'. Ethik ist überall dort, wo Menschen
miteinander sprechen, forschen, in scheinbarer Isolation nachdenken,
alles
akribisch festhalten, auf neue Nachrichten freudig reagieren, sich von
einem Meister alle Argumente aufzählen lassen, Himmel und Erde in
den Händen zu haben glauben. Menschsein heißt leben in einem
Feld von spannungsreichen Alternativen.
Ethik
im Bilde bedeutet aber auch, daß sie über die Situation, in
der sie steht, bescheid weiß aber nicht im Sinne von
Besserwisserei
oder als bloße historische Forschung, sondern als
"Geister-Zitierung",
bei der Alte und Neue, antiqui et moderni, sich versammeln, wo
der
Zitierende zum Zitierten mutiert und seine scheinbare neutrale Position
aufgibt. Fünf Figuren in verschiedenen Altersstufen - auf der
linken
Seite zwei Kinder sowie der weiß gekleidete junge Mann
(vielleicht
eine
Anspielung auf Francesco Maria della Rovere, Herzog von Urbino) sowie
eine
stehende Figur am rechten Rand und Raffael selbst - blicken den
Betrachter
an und laden ihn zur Teilnahme am Mitteilungsgeschehen ein.
Alle
Verständnisbemühungen sind umsonst solange wir nicht selbst
in
ein Gespräch involviert sind. Raffaels Bild bleibt uns deshalb
ein Rätsel und es geht uns dabei wie Sokrates und Hippokrates, die
nur die dumpfen Töne des Prodikos und das Gemurmel der
Gespräche
zu hören vermögen, bis sie sich Protagoras persönlich
zuwenden
und ihm sagen:
"Du
bist es, Protagoras, den aufzusuchen wir hierher gekommen
sind. Wollt
ihr mich, erwiderte er, allein sprechen oder im Beisein der anderen? Uns,
versetzte ich, soll das gleich sein. Vernimm denn den Zweck unseres
Kommens
und prüfe selbst." (Prot. 316 a)
In
diesem
Sinne wünsche ich den Teilnehmern unseres Workshops ein
konstruktives
Disputieren und Nachdenken nach dem Beispiel von Raffaels "Schule von
Athen."
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