HÖHLENEINGÄNGE

Zur Kritik des platonischen Höhlengleichnisses
als Metapher der Medienkritik
 
 
Rafael Capurro
  
 
 
 
Dieser Beitrag wurde im Jahr 1999 geschrieben basierend auf einem in meinem Buch "Leben im Informationszeitalter" (Berlin: Akademie Verlag 1995, S. 45-50) veröffentlichten Text. Grundlage für einen Vortrag auf Einladung der Montag Stiftung Bildende Kunst, Vortrags- und Diskussionsveranstaltung: "(Ent-)Täuschungen", Villa Prieger, Bonn, 13. Juni 2009. (Siehe PowerPoint Präsentation). Erschienen in: Montag Stiftung Bildende Kunst (Hrsg.): (Ent-)Täuscht! Eine interdisziplinäre Vortrags- und Diskussionsveranstaltung. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2009, S. 76-85.
Siehe auch folgende Videos:
- The Allegory of the Cave
- Platons Höhlengleichnis Teil I (und folgende)
- Plato's Cave



 
INHALT


Einführung


I. Platons Höhlengleichnis

II. Benny's Video    
III. Zur Kritik der platonischen Medienkritik    

Literatur
 

 
   
  
EINFÜHRUNG


Platons Höhlengleichnis scheint auf den ersten Blick eine ausgezeichnete Grundlage für eine heutige Medienkritik zu bieten. Platon beschreibt nämlich die Lage der an einer medialen Pseudorealität eingebetteten Menschen sowie den Weg ihrer Befreiung. Inwieweit ist aber diese Verwendung tatsächlich für eine Kritik unserer Medienrealität tauglich?

Im Folgenden kommt zunächst Platon ausführlich zu Wort. Sodann wende ich mich dem Film Benny's Video des österreichischen Regisseurs Michael Haneke (1992) zu und stelle einige Zusammenhänge zwischen Platons Höhlengleichnis und der heutigen Medienwelt dar. Im dritten Teil widme ich mich der Kritik der platonischen Medienkritik.

Zunächst aber zu Platon. Wir befinden uns im siebten Buch seines Dialogs Politeia (514ff). Sokrates und Glaukon sprechen miteinander.


I. PLATONS HÖHLENGLEICHNIS

"Sokrates. Dann, sprach ich, vergleiche unsere Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung mit folgendem Zustand. Stelle dir nämlich Menschen in einer unterirdischen höhlenartigen Wohnung vor, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der Höhle hat. In dieser sind sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie an derselben Stelle bleiben müssen und nur nach vorne sehen, ohne sie ihre Köpfe umdrehen zu können, da sie gefesselt sind.   
Sie haben Licht von einem Feuer, das von oben und von ferne hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen läuft oben ein Weg; längs diesem, so stelle dir das vor, ist eine niedere Mauer gebaut gleich den Schranken, die sich die Gaukler vor den Zuschauern bauen, um über sie ihre Kunststücke zu zeigen.
 

Glaukon. Ich sehe, sagte er.

S. Sieh nun längs dieser Mauer Menschen, die allerlei Gefäße tragen, die über die Mauer vorbeitragen, und Bildsäulen sowie Bildwerke aus Stein und Holz und allerlei vom Menschen künstlich Erzeugtes. Einige der Vorübertragenden unterhalten sich dabei, wie zu erwarten, die anderen schweigen.

G. Du stellst da, sagte er, ein außergewöhnliches Bild und außergewöhnliche Gefangene vor.

S. Sie sind uns ganz ähnlich, erwiderte ich. Denn was glaubst du wohl? Solche Menschen haben von sich selbst und von einander, nie etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, die das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft.   

G. Wie sollte es anders sein, sagte er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten?

S. Und von den in ihrem Rücken vorbeigetragenen Dingen, sehen sie nicht eben auch die Schatten?

G. Was sonst?

S. Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie das, für das Wirkliche halten, was sie sehen und benennen?

G. In der Tat.

S. Wie aber, wenn dieses Gefängnis auch einen Widerhall von der ihnen gegenüberstehenden Wand hätte? Wenn einer von den Vorübergehenden sprechen würde, würden sie nicht denken, daß der vorübergehende Schatten spricht?

G. Nichts anderes, beim Zeus!

S. Auf keine Weise also können sie etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener künstlichen Dinge?

G. Notwendigerweise, sagte er.

S. Betrachte jetzt, erwiderte ich, wenn die Gefangenen gelöst und geheilt von ihren Fesseln und ihrer Einsichtslosigkeit, was ihnen dann zustoßen würde. Wenn einer entfesselt wäre, und gezwungen würde sogleich aufzustehen, den Hals umzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehen, dann hätte er immer Schmerzen, und wegen des Geflimmers könnte er jene Dinge nicht recht erkennen, wovor er vorher die Schatten sah.
Was meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihn einer versicherte, damals habe er nur Nichtigkeiten gesehen, jetzt aber wäre er dem Seienden näher und indem er sich dem Seienderen gewendet hätte, würde er auch richtiger blicken?
Und wenn jener ihm jedes Vorübergehende zeigend ihn fragte und ihn zwänge, auf die Frage, was es sei, zu antworten, glaubst du nicht, daß er da weder ein noch aus wüßte und überdies dafür hielte, das, was er vormals gesehen hatte, sei wahrer als das jetzt Gezeigte?

G. Allerdings, sagte er.

S. Und wenn ihn einer nötigte, in den Feuerschein selbst zu sehen, würden ihm dann nicht die Augen schmerzen und würde er nicht fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen im Stande ist, fest überzeugt, dies sei weit gewisser als das, was ihm jetzt gezeigt werde?

G.. So ist es, sagte er.

S. Wenn ihn aber einer mit Gewalt von da weg durch den holprigen und steilen Aufgang schleppte, und nicht losließe bis er ihn an das Licht der Sonne hinausgezogen hätte, wird er nicht Schmerzen haben und sich ungern schleppen lassen? Und wenn er nun an das Sonnenlicht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nichts sehen können von dem was ihm nun für das Wahre gegeben wird?

G. Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht plötzlich.

S. Er wird also, meine ich, eine Gewöhnung nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten sehen, danach Bilder der Menschen und der anderen Dinge, wie sie sich im Wasser widerspiegeln, und dann erst diese Dinge selbst. Und davon was am Himmel ist und den Himmel selbst würde er am liebsten in der Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht.

G. Wie sollte er nicht?

S. Zuletzt aber, denke ich, wird er auch in den Stand kommen, die Sonne selbst, nicht ihre Bilder im Wasser oder sonst wo, sondern sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten, wie sie beschaffen sei.

G. Notwendigerweise, sagte er.

S. Und dann wird er herausbringen, daß sie es ist die alle Jahreszeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raum, und auch von dem was sie dort in der Höhle sahen gewissermaßen die Ursache ist.

G. Offenbar, sagte er, würde er über jene hinausgehend zu diesem gelangen.

S. Und wie, wenn er sich wieder seiner ersten Wohnung, der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen erinnert, meinst du nicht er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderungen und jene bedauern?

G. Ganz gewiß.

S. Und wenn sie dort, in der Höhle, unter sich Ehre, Lob und Belohnung für den bestimmt hatten, der das Vorübergehende am schärfsten sah und am besten im Gedächtnis behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich und daher also am besten vorhersagen konnte, was am ehesten künftig eintreten könnte: glaubst du es werde ihn danach noch groß verlangen, und er werde die bei jenen geehrten und Machthabenden beneiden?
Oder wird er nicht das viel lieber wollen, wovon Homer sagt:  
"das Feld eines unbegüterten Mannes als Tagelöhner bestellen"    
und lieber alles über sich ergehen lassen als wieder solche Ansichten zu haben und so zu leben wie früher in der Höhle?

G. Ich glaube, sagte er, er würde lieber alles über sich ergehen lassen als so zu leben wie früher.

S. Und nun bedenke auch dieses, erwiderte ich. Wenn ein solcher wieder hinab stiege und an denselben Platz sich niedersetzte, würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich von der Sonne herkommt?

G. Ganz gewiß, sagte er.

S. Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit jenen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert eher er sich wieder angepaßt hat, was nicht geringe Zeit der Eingewöhnung verlangte, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, da er hinaufgestiegen sei, sei er mit verdorbenen Augen zurückgekommen, und es lohne sich nicht, daß man versuche hinaufzukommen, sondern man müße jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn umbringen könnte, auch wirklich umbringen?

G. So sprächen sie, sagte er.


Platons Gleichnis ist ein Bildungsgleichnis (paideia). Wir stehen zunächst und zumeist unter der Macht der Sinne. Der Sinn der sinnlich wahrnehmbaren Dinge und der Sinn des Sinnes, der den Sinn der sinnlichen wahrnehmbaren Dinge vernimmt, der Sinn der Vernunft (nous) also, bleibt verborgen. Im Höhlengleichnis ist die Vernunft und ihr Sinn paradoxerweise wiederum sinnlich durch Sonne und Licht versinnbildlicht

Mathematik, Geometrie und Astronomie sind für Platon jene abstrakten Disziplinen, die den Blick nach oben lenken. Sie haben den Vorzug gegenüber Musik, Gymnastik oder Ökonomie.    

Am Schluß des Dialogs kritisiert Platon die herstellenden und darstellenden Künste. Die herstellenden Künste, wie am Beispiel eines Bettmachers oder Tischlers ersichtlich, richten sich nach einem vorausgehenden Begriff vom Bett oder Tisch. Die Idee des Tisches wird wiederum durch den Gott hervorgebracht. Sie hat den Vorrang gegenüber den beiden Tätigkeiten der Werkbildner (demiourgoi) und der Nachbildner (mimeten), die sich um die Ausstattung der Höhle kümmern. 

Platon schwächt seine Kunst- und Medienkritik ab, indem er den Künstlern, nach angemessener Eigenverteidigung, eine pädagogische und politische Beteiligung zugesteht, allerdings unter Klarstellung ihres untergeordneten Status und nur sofern sie den höheren Erkenntniszielen dienlich sind (Pol. 607-608).



II. BENNYS VIDEO


Bennys video


Benny's Video ist ein österreichischer Film des Regisseurs Michael Haneke aus dem Jahre 1992. Benny, ein zwölfjähriger Junge, wird von Arno Frisch, seine Eltern von Angela Winkler und Ulrich Mühe gespielt. Benny lebt in der Höhle der neuen Medien. Sein Zimmer im Apartment der gutsituierten Eltern ist mit elektronischen Geräten aller Art vollgepackt. Besonders auffallend ist, daß der Blick aus dem Fenster zur Straße hinunter nur durch einen Bildschirm möglich ist, der das Fenster ausfüllt und den Straßenverkehr wiedergibt. Im Zimmer sind Videokameras installiert, die die Vorgänge nachbilden. 

Der Film erzählt die Geschichte eines tödlichen Spiels. Als Benny eines Tages ein Mädchen zum Besuch seiner Medienwelt einlädt, spielen beide mit einer zur Tötung von Schweinen verwendeten Pistole. Benny hatte sie von seinem Onkel, bei dem er entsprechende Szenen gedreht hatte. Zunächst fordert Benny das Mädchen spielerisch auf, auf ihn zu schießen. Dieses weigert sich und wird von Benny als 'feige' apostrophiert. Als sich das Spiel umkehrt, hat es für das Mädchen tödliche Folgen. Die Szene wird von den im Zimmer befindenden Kameras aufgenommen. Sie zeigt auffällige Parallelen mit dem anfangs gezeigten Video über die Schweinetötung.

Man kann zunächst die medienkritische Schlußfolgerung ziehen, daß die Medienhöhle zum Verlust des Realitätssinns und letztlich zum tödlichen Unfall geführt hat. Es handelt sich aber dabei nicht um den oft beklagten Einfluß von Gewaltdarstellungen in den Medien und ihre passive Aufnahme. Benny geht offenbar sehr kreativ mit der elektronischen Medienwelt um. Man kann lediglich sagen, daß die ständige Umsetzung von Realität in Bild den Sinn für die Realität abschwächt oder sogar umkehrt. Die Medienhöhle macht Benny wiederum nicht ganz stumpf für das, was geschehen ist. Es sind Bennys Eltern, die alles versuchen, um die Tat zu kaschieren und es ist Benny, der zum Schluß zur Polizei geht und die Tat gesteht. Bennys Eltern leben zwar nicht in einer elektronischen Medienhöhle, wohl aber einer ganz konventionellen Kunsthöhle: Ihr Wohnzimmer ist mit Bildern tapeziert! Und sie leben ferne in der zur Höhle gewordenen Konventionen ihres sozialen Status.

Aus Platonischer Sicht sind nicht nur Benny, sondern ebenso sehr die Eltern als die Gefesselten anzusehen. Benny erfährt eine Läuterung, indem er nicht an der Video-Vorstellung seiner Tat verhaftet bleibt, sondern sich dem Sinn dieser Tat öffnet. Über die schwierige Loslösung von den medialen Fesseln erfahren wir anhand von Andeutungen: Er läßt sich die Haare abrasieren - ein Zeichen von Scham -, und er verliert seinen Frohsinn und seine lebhafte Art.

Allerdings ist die Welt des Sinns der Sinne für Benny keineswegs göttlich, sondern zutiefst menschlich. Das Nicht-rückgängig-machen-können seiner Tat öffnet ihm die Augen der Vernunft. Führt diese Erfahrung notwendigerweise zu einer Abwertung der (elektronischen) Medien?


III. ZUR KRITIK DER PLATONISCHEN MEDIENKRITIK

In seinem Aufsatz Auf den Weg zur mediengesteuerten Gesellschaft schreibt Walther Zimmerli, daß Platon und Aristoteles:

"über die Wirkung der Medien in einer Art gestritten, die bis heute unverändert fortgilt, wenn man sie nur vom Beispielsfeld des Theaters auf das Beispielsfeld des Fernsehens überträgt: Platon hatte in seiner staatsutopischen Schrift "Politeia" die These vertreten, daß Schlechtes und Verbrecherisches auf der Bühne zu sehen, die Menschen ihrerseits schlecht und verbrecherisch mache. Aristoteles hatte hingegen eingewendet, daß das Gegenteil der Fall sei. Platons Angst vor der negativen Medienwirkung setzte er die Hoffnung auf eine rationale Bewältigung und daher positive Medienwirkung entgegen: Die Menschen würden dadurch, daß sie sich mit dem Schwierigen und Problematischen auseinanderzusetzen haben, nicht selbst schwierig und problematisch, sondern geübt im Umgang mit Schwierigem und Problematischem." (Zimmerli 1990)

Für Aristoteles - im Gegensatz zu Platon - sind wir ursprünglich im offenen und sinnlich-sinnhaften Weltbereich, wie das von Cicero tradierte weniger bekannte Aristotelische Höhlengleichnis zeigt:

"Wenn es Menschen gäbe, die stets unter der Erde gewohnt hätten, in gut eingerichteten, herrlichen Wohnungen, geschmückt mit Statuen und Gemälden, ausgestattet mit allem, was Menschen, die als glücklich gelten, in Fülle besitzen, die jedoch noch nie auf die Erde hinaufgekommen wären, aber durch Hörensagen etwas vom Walten einer Gottheit und von einer göttlichen Macht erfahren hätten, und dann, da sich irgendwann die Schlünde der Erde geöffnet hätten, jene verborgenen Wohnsitze hätten verlassen und zu den Orten, die wir bewohnen hätten herauskommen können: wenn sie nun plötzlich die Erde, die Meere und den Himmel gesehen, den Umgang der Wolken und die Gewalt der Winde kennengelernt, die Sonne erblickt und deren Größe und Schönheit, besonders auch ihr Wirken erkannt hätten, weil sie durch die Verbreitung ihres Lichtes am ganzen Himmel den Tag bringt, und wenn sie andererseits, sobald die Nacht die Länder beschattet, dann den ganzen Himmel sähen, von Sternen besät und geschmückt, und den Lichtwechsel des Mondes, wie er bald zu-, bald abnimmt, und der Auf- und Untergang all dieser Gestirne und ihre in alle Ewigkeit festgesetzten und unveränderlichen Bahnen - wenn sie dies alles sähen, würden sie gewiß glauben, daß es Götter gibt und daß diese gewaltigen Werke göttlichen Ursprungs sind." (Cicero, nat.deor. II, 95).

Die Medien sind grundsätzlich positiv zu beurteilen. Allerdings müssen wir lernen - im Sinne einer Lebenskunst - selektiv mit ihnen umzugehen, wenn wir sie produktiv nutzen wollen (Capurro 1995). Ich schließe mich der Aristotelischen Kritik der Platonischen Medienkritik an, indem ich Blumenbergs Erörterungen über die Geschichte der Höhlenmetaphorik mit einbeziehe (Blumenberg 1989). 

Die Speleologie, die Wissenschaft von den Höhlen, hat als philosophische Metapher für die Beschreibung des Weges zur wahren Erkenntnis und zum richtigen Handeln eine lange und wechselhafte Entwicklung hinter sich. Es gab vielseitige Kandidaten für die Platonische Höhle. Sie führten allesamt zur Diskriminierung bestimmter Erfahrungen, die dem Schattenhaften zugeschrieben wurden. Die Höhlenmetapher ist deshalb nur bedingt eine Aufklärungsmetapher, da sie im Namen einer Sinndimension eine andere Sinndimension abwertet und dieses Schema nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell festschreibt.

Dieese letztere Einsicht erlaubt nicht nur eine inhaltliche Kritik der Platonischen Medienkritik. Das haben Nietzsche und Heidegger gesehen. Eine radikalere Kritik des Platonischen Höhlenmythos bedeutet letztlich eine Kritik des Mythos Höhle. Im Kern besagt diese Kritik, daß wir nicht in einer wie auch immer gearteten Höhle leben von der kosmologischen Höhle Platons, über die neuzeitliche Höhle des Bewußtseins bis hin zur Medienhöhle , sondern einem offenen Horizont von Sinndeutungen und Sinnentwürfe ausgesetzt sind, dem wir uns allerdings kapselartig verschließen können.

Während die Antike sich weitgehend an die kosmologischen Inhalte des Höhlengleichnisses orientierte und das Christentum die Gefangenen als Sünder im irdischen Jammertal deutete, geschah in der Neuzeit eine scheinbar radikale Infragestellung des Platonischen Gedankens. Die kosmologische Höhle verwandelte sich in das subjektive Bewußtsein dem die objektive Außenwelt gegenüberstand. Diese neuzeitliche Subjekt-Objekt-Spaltung brachte die Frage nach dem jeweiligen Anteil beim Erkenntnisprozeß mit sich. Die neuzeitlichen Empiristen betonten, daß alle unsere Erkenntnisse durch Eindrücke (impressions) oder In-formationen von der Außenwelt entstehen. Für Kant bestimmten die subjektiven Strukturen unseres Erkennens und Anschauens die Gegenstände der Erfahrung vor der Erfahrung (a priori). Unser gestaltender Verstand ist aber zugleich ein rezeptiver oder, wie Kant schreibt, "diskursiver, der Bilder bedürftiger, Verstand" (intellectus ectypus) und unterscheidet sich in dieser Hinsicht vom göttlichen schöpferischen Ur-Verstand (intellectus archetypus) (Kant, Kritik der Urteilskraft, § 77).    

Wir sind offenbar, wie die Hirnforschung heute lehrt, keine passiven Empfänger von Eindrücken aus der Außenwelt. Die Konstruktivisten meinen die neuzeitliche Subjekt-Objekt-Spaltung dadurch aufheben zu können, indem sie alles zwar nicht in die Immanenz des Bewußtseins, aber in die des Gehirns und seiner Konstruktionen verlagern. Dadurch wird der Idealismus durch den Zerebralismus ersetzt. Siegfried Schmidt kritisiert aus konstruktivistischer Sicht Platons Höhle als "ein eindeutiges Depravierungsszenario". Demgegenüber ist der Oikos der Konstruktivisten

"eindeutig ein Konstruktionsszenario, in dem der Philosophentraum von der Welt hinter den Welten, hinter dem Chorismos, ausgeträumt ist." (Schmidt 1995).

Wenn es aber keine Höhlen und keine Gefangenen gibt, dann gibt es im Grunde nicht nur kein Außen, sondern ebenso sehr kein Innen! Oder, anders ausgedrückt, Schmidt scheint die eine Höhle Platons nur durch die Vielfalt der konstruierten Höhlen zu ersetzen. In Wahrheit führt er aber zusätzlich die Kategorie des Oikos ein. Der Oikos ist der Rahmen, der uns erlaubt, die verschiedenen Konstruktionen in ihrer kontingenten Vielfalt zu erfahren. Es gibt in der Tat "keine Realität da draußen", wohl aber ein Offenheits- oder Möglichkeitsbereich der uns erlaubt, die Konstruktionen als Konstruktionen wahrzunehmen. Indem wir diesen Offenheitsbereich gestalten, entsteht ein Riß im Dasein sofern diese entwerfende Seinsweise uns Menschen eigen ist und uns von anderen nicht-daseinsmäßigen Seienden trennt. Durch unsere geistige Tätigkeit oder durch die "symbolischen Formen" (E. Cassirer) prägen wir geistig und materiell unsere Welt. Cassirer schreibt:    

"Wenn die Philosophie der Technik es mit den unmittelbaren und mittelbaren sinnlich-leiblichen Organen zu tun hat, kraft derer der Mensch der Außenwelt ihre bestimmte Gestalt und Prägung gibt, so wendet die Philosophie der symbolischen Formen ihre Frage auf die Gesamtheit der geistigen Ausdruckfunktionen. Auch in ihnen sieht sie nicht Abdrücke oder Kopien des Seins, sondern Richtungen und Weisen der Gestaltung, "Organe" nicht sowohl der Beherrschung als vielmehr der "Sinngebung"." (Cassirer 1994, II, S. 258-259)

Cassirer hat zwar eine "Philosophie der symbolischen Formen" nicht aber eine Philosophie der Technik als Gegenstück entwickelt. Außerdem spricht er weiterhin im neuzeitlich-kantianischen Sinne von einer "Außenwelt". Schließlich ist die Gegenüberstellung zwischen "Beherrschung" und "Sinngebung" in bezug auf eine symbolische Technik wie die Informationstechnik unzureichend

Die Heideggersche Einsicht in die ursprüngliche Einheit von Mensch und Welt, das In-der-Welt-sein, bedeutet eine Zerschlagung des neuzeitlichen Gordischen Knotens oder der Trennung von Subjekt und Objekt, Innenwelt und Außenwelt, Bewußtsein und objektiver Realität usw.. Sie ist aber keine Rückkehr zu einem vorkantischen naiven Realismus, sondern sie integriert die gestaltende Tätigkeit unseres Erkennens und Handelns im Rahmen eines offenen und geschichtlichen Horizonts. Unsere Realitätsentwürfe stehen nicht ein für allemal fest, sondern beruhen auf jeweils vorgegebenen Strukturierungen. Eine Höhle entsteht nur dann, wenn bestimmte Seinsentwüfe oder Konstruktionen sich verfestigen und als unantastbar erscheinen. Erst dann stellt sich die metaphysische Frage nach einem "Höhlenausgang" (H. Blumenberg), während wir in Wahrheit immer schon draußen, d.h. inmitten offenbleibender Sinnstrukturierungen sind. Erst verfestigte Sinnentwürfe verwandeln sich in Höhleneingänge. Wir können aber Seinsentwürfe in ihrer Kontingenz erfahren, sie also als Seinsentwürfe wahrnehmen, weil wir immer schon einem kontingenten Möglichkeitsbereich offen sind. Das ist der Sinn des Heideggerschen Primats der Möglichkeit über die Wirklichkeit. Medienentwürfe einschließlich der Entwürfe der virtual reality sind in diesem Sinne nicht weniger wirklich als unsere sonstigen symbolischen und technischen Weltentwürfe.

In-der-Welt-sein bedeutet, dass wir ursprünglich medial sind. Der Weltbegriff ist der Inbegriff des Medialen. Die Platonische Medienkritik betrifft nicht nur die Medieninhalte, sondern sie bedeutet eine Abwertung des Medialen oder des Mittelbaren zugunsten einer angeblichen im wörtlichen Sinne unmittelbaren Erfahrung. Diese Kritik beruft sich auf ein höheres, göttliches Medium. Aber nicht die Verabsolutierung eines Mediums, sondern die Erfahrung der Medien in der Offenheit des In-der-Welt-seins erlaubt uns die hierarchische Struktur des Platonischen Höhlengleichnisses zugunsten einer offenen Medienvernetzung zu verlassen.


LITERATUR

Blumenberg, H.: Höhlenausgänge, Frankfurt am Main 1989. 

Capurro, R.: Leben im Informationszeitalter, Berlin 1995.


Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1994.

Cicero: De natura deorum, Stuttgart 1995.


Kant, I.: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt am Main 1974.


Schmidt, S.J.: Platons Höhle - Ein philosophischer 'Betriebsunfall'? In: M.
Fehr, P. Krümmel und M. Müller, Hrsg.: Platons Höhle. Das Museum und die elektronischen Medien. Köln 1995, S. 36-56.    

Zimmerli, W. Chr.: Auf dem Weg zur mediengesteuerten Gesellschaft. In: H.A. Koch, A. Krup Ebert Hrsg.: Welt der Information, Stuttgart 1990, S. 204-212.  
   

 
Letzte Änderung: 5. Juli  2017


 
 

Plato_Cave_Sanraedam_1604

"Antrum Platonicum": Stich von Jan Saenredam (1565−1607) nach einem Ölgemälde von Cornelis van Haarlem (1562−1638)

Quelle: Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6hlengleichnis

 
    
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