Wahlpflichtfach: Informationsressourcenmanagement

Seminar:
informationswissenschaftliche Paradigmen
 

I. Nonaka, H. Takeuchi: DIE ORGANISATION DES WISSENS

Campus Verlag, Frankfurt/New York 1997
(The Knowledge-Creating Company, Oxford Univ. Press 1995)
 
von
Rafael Capurro

 
 

 
 

Inhalt

1. Die Grundidee des Buches: Implizites Wissen 
2. Implizites Wissen im Unternehmen 
3. Das Middle-up-down Modell des Managements 
4. Der Prozeß der Wissensschaffung 

Schluß 
 
 

1. Die Grundidee des Buches: Implizites Wissen

Die Grundidee dieses Buches hatten die Autoren bereits 1986 veröffentlicht. Damals hatten sie in einem Artikel in der Harvard Business Review die These vertreten, der Erfolg japanischer Unternehmen ließe sich mit der Metapher des Rugby erläutern, insofern nämlich als alle Spieler mit ihren jeweiligen persönlichen und gemeinsamen Interessen den 'Ball', also die Ziele des Unternehmens, durch ihre Interaktion an seine Bestimmung bringen. Diese Metapher steht der Metapher des Staffellaufs entgegen, bei dem der Ball in festgelegter und linearer Weise von einem Team zum nächsten weitergegeben wird.   

Dabei greifen die Autoren ein altes und klassisches Thema der Philosophie auf, nämlich die Frage, wie neues Wissen entsteht und wie es mitgeteilt wird. Wie von zwei japanischen Autoren zu erwarten, versuchen Nonaka und Takeuchi die westliche Tradition der modernen Subjekt/Objekt-Spaltung und des Körper-Geist-Dualismus mit dem auf Harmonie, Ganzheit und Konkretheit gerichteten japanischen Denken zu konfrontieren. Diese Gegenüberstellung wird aber insofern abgeschwächt, als die Autoren sich auf den von Michael Polanyi entwickelten Begriff des 'impliziten Wissens' ('tacit knowing') beziehen.   

In seinem Buch The Tacit Dimension (1966) hatte Polanyi über die Bedeutung von körperlichen Reaktionen als eine Form von (implizitem) Wissen oder von verinnerlichten Handlungen geschrieben, die zum Beispiel in Form von moralischen Annahmen oder auch von wissenschaftlichen Theorien unsere Praxis leiten. Für Polanyi, der sich dabei auf Wilhelm Diltheys Begriff der 'Einfühlung' sowie auf Hans Lipps beruft, bedeutet dieses Wissen die Grundlage des sogenannten objektiven Wissens. Wenn aber, so Polanyi, die moderne Wissenschaft nur letzteres akzeptiert und ersteres aufheben will, dann führt dieser Prozeß zur Selbstzerstörung. Mit anderen Worten, Formalisierung hat nur einen Sinn, wenn sie auf konkreten informellen Erfahrungen basiert und sich ihr zuwendet. Da das Neue per definitionem etwas ist, was wir noch nicht explizit erfassen können, können wir uns ihm nur annähern, wie wir es im Falle des 'impliziten Wissens' tun, nämlich durch Einfühlung.   

Polanyi vergleicht dieser Vorgang mit dem biologischen Phänomen der 'Emergenz'. Wissensübertragung beruht also, so Polanyi, auf einer immer vorwiegend implizit bleibenden Tradition, die keine Aufklärung restlos explizit machen kann. Das ist kein Plädoyer für Traditionalismus oder gar Obskurantismus, sondern Polanyi deckt auf, daß die Wissenschaft aus dem Bewußtsein der Begrenzheit ihrer Sichtweisen ihre Stärke zu neuen Entdeckungen zieht. Das ist aber genau, was die sinnliche Wahrnehmung uns lehrt, indem wir die Einsicht in bestimmte Aspekte des Wahrgenommenen mit dem Bewußtsein von weiteren uns verborgenen Sichtweisen verbinden. Es kommt also bei der Entdeckung neuen Wissens darauf an, das explizite Wissen als möglichen (!) Ausdruck einer nicht völlig erkannten 'impliziten' Dimension zu sehen. Wenn also aus 'Fakten' Möglichkeiten werden, läßt sich diesen nachgehen und dies kann u.U. zu ganz 'überraschenden' Einsichten führen.   

Takeuchi und Nonaka greifen den Begriff des 'impliziten Wissens' auf und verstehen ihn so, daß dieses Wissen sowohl körperliche als auch geistige Dimensionen aufweist. Es bedeutet sowohl das Ergebnis von 'learning by doing' als auch die Verinnerlichung von Werten und Idealen in den konkreten Individuen. Ein Unternehmen besteht aber aus der Interaktion von allen beteiligen Individuen. Aus dieser zweiten Prämisse folgt dann die Conclusio, daß Kreativität und neues Wissen im Unternehmen nur durch die Einbeziehung des impliziten Wissens der Mitarbeiter stattfnden kann. Die Verwandlung von implizitem in explizites Wissen ist für die Autoren der Schlüssel für die Frage nach dem Erfolg japanischer Unternehmen.   
 
 

2. Implizites Wissen im Unternehmen

Das Musterbeispiel dazu liefern die Autoren mit Hilfe von Hondas 'Tall Boy'. Aus dem Motto der Geschäftsführung 'Let's Gamble' (Wer wagt, gewinnt), folgte die Idee bzw. die Metapher von der 'Automobilevolution' und diese mündete in das Bild einer Kugel (kurzes, hohes Auto), welches die 'Detroit-Logik' nach Vorrang von Aussehen gegenüber Komfort, in Frage stellte. An diesem Beispiel zeigen die Autoren die Anknüpfung an 'implizites Wissen' mittels Metaphern und Analogien, durch Mittel also, die der Wahrnehmung und der Intuition nahestehen. Diesen Mitteln stellen die Autoren noch weitere hinzu, wie zum Beispiel, das Sich-gegenseitig-Mitteilen von individuellem Wissen und die Schaffung von Zweideutigkeit und Redundanz. Auf die Struktur eines Unternehmens bezogen, bedeutet dies, daß das mittlere Management eine entscheidende Vermittlungsfunktion zwischen den Visionen des Topmanagement und dem impliziten Wissen der Mitarbeiter spielt.   

Der Schlüssel für die Schaffung neuen Wissens liegt für die Autoren in der Verwandlung von implizitem in explizites Wissen, was sie Externalisierung nennen. Gegenüber der Vorstellung, daß Wissen nur durch die Einführung von externen Informationen und deren Verarbeitung entsteht, betonen sie, daß eine Information im Sinne von 'einer Nachricht von einem Unterschied' (G. Bateson) nur in Verbindung mit konkreten Vorstellungen und Handlungen in einem dynamischen Kontext einen Sinn hat. 'Information ist ein notwendiges Medium oder Material für die Bildung von Wissen'. Information wird zum Wissen, wenn sie 'kontext- und beziehungspezifisch' wird (S. 70).   

Gegenüber der naiven Vorstellung von 'Informationsverarbeitung' betonen die Autoren also die Einbettung der Information in den folgenden Prozessen:   

  • Wandlung von inplizitem zu implizitem Wissen (Sozialisierung) 
  • Wandlung von implizitem zu explizitem Wissen (Externalisierung) 
  • Wandlung von explizitem zu explizitem Wissen (Kombination) 
  • Wandlung von explizitem zu implizitem Wissen (Internalisierung) 
Die entscheidende Wandlung ist die Externalisierung aufgrund von Analogien, Metaphern und Modellen. Sie ist eingebettet in einem Fünf-Phasen-Modell der Wissensschaffung im Unternehmen, nämlich:   
  • Wissen austauschen 
  • Konzepte schaffen 
  • Konzepte erklären 
  • einen Archetyp bilden 
  • Wissen übertragen. 
Diese Phasen werden sehr einleuchtend mit dem Beispiel der Entwicklung des Heimbackautomaten von Matsushita erläutert. Dabei stellt der Gang des Ingenieurs in die Lehre des impliziten Wissens des Bäckermeisters eine schlagkräftige Erläuterung des Wertes von Handwerkerwissen dar. Die Bäckermeisterin Tanaka konnte aber immerhin den Ingenieuren erläutern, inwiefern die 'Drehdehnung' entscheidend für den Prozeß des Backens 'schmackhafter Brote' war.   
 

3. Das Middle-up-down Modell des Managements

Die Analyse von verschiedenen Managementmodellen (Kap. 5) (hierarchisches Modell, partizipatives Modell, Middle-up-down-Modell) führt zur Herausarbeitung der Rolle des Mittelmanagements (drittes Modell) sowie zur Unterscheidung in der 'Gemeinschaft der Wissensschaffung' zwischen:   
  • Wissenspraktiker (Mitarbeiter und Linienmanager) 
  • Wissensingenieure (Mittelmanager) 
  • Wissensverwalter (Führungskräfte). 
Gemäß der Devise, daß ein Unternehmer nicht bloß Informationen von außen verarbeitet, sondern primär ein Erzeuger von neuem Wissen ist und somit kreativ gegenüber der Umwelt vorgeht, suchen die Autoren die Dynamik der verschiedenen Ebenen der Wissensschaffung sowohl innerhalb des Unternehmens als auch mit der Umwelt (Kontakt mit den Kunden), was vor allem den Wissenspraktikern eigen ist. Zu diesen zählen die Autoren die 'Wissenswerker' und die 'Wissensspezialisten'. Jene sammeln und erzeugen implizites Wissen in Form von Fertigkeiten, die auf Erfahrungen beruhen. Zu ihnen zählen z.B. Angestellte in der Verkaufsabteilung, Facharbeiter in der Montage. Ihre Stärke liegt darin, daß sie 'mit Kopf und Händen' arbeiten. Die 'Wissensspezialisten' wiederum sammeln, erzeugen und erneuern Wissen. Sie mobilisieren strukturiertes explizites Wissen in Form von technisschen, wissenschaftlichen und anderen quantifizierbaren Daten. Dazu zählen die Autoren z.B. F&E Wissenschaftler, Software-Ingenieure, Experten aus Stabsbereichen.   

Anstelle der klassischen hierarchischen Struktur eines Unternehmens schlagen die Autoren eine Hypertextorganisation vor und zeigen anhand von Beispielen wie das Zusammenspiel von implizitem und explizitem Wissen an bestimmten Firmen (Kao, Sharp) funktioniert.   

Weltweite Wissensschaffung führt schließlich (Kap. 7) zu bereichernden multikulturellen Erfahrungen (Informationsbeschaffung vor Ort), so z.B. die Erfahrung, daß bei einer 800-km-Fahrt von Brüssel nach Zürich ein Sitz gebraucht wird, in dem man nicht ermüdet!   

Itakura, der Planungsleiter von Großgeräten bei Adachi, lernte in Amerika das Problem der Gleichberechtigung kennen, usw.   
 

4. Der Prozeß der Wissensschaffung

Das Programm zur Wissensschaffung in einem Unternehmen läßt sich (vereinfacht) als ein Sieben-Schritte-Prozeß beschreiben:   
  • Eine Wissensvision schaffen 
  • Eine Wissensgemeinschaft bilden 
  • Ein energiegeladenes Interaktionsfeld erzeugen 
  • Auf dem neuen Entwicklungsprozeß aufbauen 
  • Das Middle-up-down-Management einführen 
  • Auf eine Hypertextorganisation umstellen 
  • Ein Wissensnetz mit der Außenwelt einrichten. 
Die theoretischen Konsequenzen dieses Modells sehen die Verfasser zum Beispiel in der Übewindung von modernen (westlichen) Dichotomien, wie die zwischen   
  • implizit/explizit, 
  • Körper/Geist, 
  • Individuum/Unternehmen, 
  • hierarchisch/partizipativ, 
  • Bürokratie/Arbeitsgruppe, 
  • Staffellauf/Rugby, 
  • Osten/Westen.

Schluß

Einige Rezensenten dieses Buches (O. Hauptman, J. Neuriger, Carleton University, Ottawa, Canada, In: Technological Forecasting and Social Change, 1997, 55, S. 99-101) warnen aber vor übereifrigen und eiligen Anwendungen in der Praxis. Sie schreiben:   
 
"We strongly recommend this book for scholars and practitioners alike with a warning to the latter: although it might be tempting to apply the presented concepts directly and quickly, this should be done with extreme caution and with thorough preparation. But this is only a problem if one does not recognize it as one. Understanding this, one can capture the generalizable concepts and apply them." 
  
 
 
 
  

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