Wahlpflichtfach
Informationsressourcenmanagementt
Seminar:
informationswissenschaftliche
Paradigmen
Prof.
Dr. Rafael Capurro
David
Ellis: Paradigmen und deren Vorstufen in der Retrievalforschung
Versuch
einer Zusammenfassung und Erläuterung
für
die Lehrveranstaltung
von Gerhard
Beck
IM 95-99
1. Der Paradigmenbegriff und seine
Anwendbarkeit
auf die Informationswissenschaft
1.1.
Der Paradigmenbegriff
1.2.
Die Anwendbarkeit des Paradigmenbegriffs auf die
Informationswissenschaft
2. Paradigmen in der IR-Forschung
2.1.
Das physikalische Paradigma
2.2.
Das kognitive Paradigma
3. Schlußfolgerung: Paradigmen
und
Vorparadigmen
in der IR-Forschung
Exkurs
1: Das Expertensystem THOMAS
Exkurs
2: Belkins Theorie der Anomalen Wissenszustände (ASK)
Literatur
Einleitung
Gegenstand
dieses Referats ist der Vortrag "Paradigms and proto-paradigms in
information
retrieval research" von David Ellis auf der internationalen Konferenz
anläßlich
des 20jährigen Bestehens der informationswissenschaftlichen
Fakultät
der Universität Tampere, Finnland, vom 26. bis 28. August 1991. [1]
Um
ein Bild über die Rolle zu erstellen, die Paradigmen in der
Erforschung
des Information Retrieval (im folgenden "Retrievalforschung" oder kurz
"IR-Forschung" genannt) spielen, untersucht Ellis folgende drei
Punkte:
- die Bedeutung
des Paradigmenbegriffs,
- die Anwendbarkeit
dieses Begriffs auf die Informationswissenschaft und
- die Rolle,
die Paradigmen in der Retrievalforschung spielen.
1.
Der Paradigmenbegriff und seine Anwendbarkeit auf die
Informationswissenschaft
1.1
Der Paradigmenbegriff
Zur Klärung
der Terminologie liefert Ellis an dieser Stelle eine kurze
Zusammenfassung
der Diskussion zwischen Thomas S. Kuhn und Margaret Masterman in den
späten
60er Jahren, die ich hier in einer anderen (chronologischen)
Reihenfolge
wiedergebe.
Kuhn
definierte 1962 normale Wissenschaft und die Rolle von Paradigmen in
ihr
folgendermaßen:
"'Normale
Wissenschaft' bedeutet eine Forschung, die fest auf einer oder mehreren
wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die
von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Zeitlang als
Grundlagen für ihre weitere Arbeit anerkannt werden."
Diese
Leistungen sind
(1)
"neuartig genug, um eine beständige Gruppe von Anhängern
anzuziehen,
die ihre Wissenschaft bisher auf andere Art betrieben hatten", und (2)
"noch offen genug, um der neuen Gruppe von Fachleuten alle
möglichen
ungelösten Probleme zu stellen. Leistungen mit diesen Merkmalen
werde
ich von nun an als 'Paradigmen' bezeichnen." ([2],
S. 25 und 41
Seine
ursprüngliche Bestimmung des Begriffs und seiner Bedeutung blieb
jedoch
bei aller Eleganz in mancher Hinsicht undurchsichtig, weshalb sie durch
M. Masterman eine überzeugende Kritik erhielt.
Sie
wies nach, daß er den Paradigmenbegriff in mehreren Bedeutungen
verwandte,
von denen die Kategorie der sogenannten Arbeitsthesen-Paradigmen
(engl.:
"artefact or construct paradigms") die wichtigste darstellt.
Davon
ausgehend, umreißt sie die Wirkungsweise von
Arbeitsthesen-Paradigmen
bei der Entwicklung der Wissenschaft: ihr wesentlicher Charakter ist
der
grober Analogien (engl.: "crude analogies"). ([3],
S. 79)
Mastermans
Paradigmenschema:
+------------------------------------------------------+ | Konkretheit A Konkretheit B | | Die Quelle Die grobe Analogie Die Anwendung | | | | | | | | Das Paradigma: | | | | i. ein Modell | | ii. ein Bild | | iii. eine analogiebildende Wortkette | | in natuerlicher Sprache | | iv. eine Kombination hiervon | +------------------------------------------------------+
Kuhns
Neuformulierung (1970) geht davon aus, daß bei ihm der Begriff
Paradigma
in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird, von denen die zweite
die philosophisch tiefere darstellt:
"Einerseits
steht er für die ganze Konstellation von Meinungen, Werten,
Methoden
usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt
werden.
Andererseits bezeichnet er ein Element in dieser Konstellation, die
konkreten
Problemlösungen, die, als Vorbilder oder Beispiele gebraucht,
explizite
Regeln als Basis für die Lösung der übrigen Probleme der
'normalen Wissenschaft' ersetzen können." ([2],
S. 186)
Die erste
Bedeutung nennt er die soziologische. Die zweite, wichtigere,
entspricht
Mastermans Arbeitsthesen-Paradigmen. Für das gemeinsame Element
einer
gegebenen wissenschaftlichen Gemeinde schlägt er den Ausdruck
"disziplinäres
System" vor. Dieses setzt sich aus vier Elementen zusammen:
- symbolische
Verallgemeinerungen,
- metaphysische
Paradigmen,
- Werte,
- Musterbeispiele.
Dieses
vierte Element bildet das eigentliche Herzstück von Kuhns
ursprünglichem
Ansatz. Das "Musterbeispiel" scheint mit Mastermans Beschreibung des
Arbeitsthesen-Paradigmas
identisch zu sein, namentlich in zwei Schlüsselaspekten:
- es ist
konkret,
- es liefert
eine grobe Analogie, eine Art und Weise, ein Problem wie ein anderes,
bereits
bekanntes, zu sehen.
Diese
Vorstellung einer als Analogie eingesetzten konkreten
wissenschaftlichen
Errungenschaft ist von grundlegender Bedeutung für den
Paradigmenbegriff.
Dementsprechend ist es in dieser Hinsicht, daß der
Paradigmenbegriff
im folgenden auf seine Anwendbarkeit für die
Informationswissenschaft
untersucht wird.
1.2
Die Anwendbarkeit des Paradigmenbegriffs auf die
Informationswissenschaft
Kuhn unterschied
in seinem ursprünglichen Ansatz zwischen paradigmatischer
(normaler)
Wissenschaft, die durch den Besitz eines einzigen Paradigmas
charakterisiert
wird, innerhalb dessen die gesamte wissenschaftliche Tätigkeit in
Form eines Rätsellösens stattfindet, und vorparadigmatischer
Wissenschaft. Jede Tätigkeit, die nicht durch ein einzelnes
Paradigma
geleitet wird, sei vorparadigmatisch. Deshalb seien die Verhaltens-,
Sozial-
und Informationswissenschaften in einem vorparadigmatischen Zustand.
Aus
der Tatsache, daß Kuhn drei Zustände -
nicht-paradigmatische,
multiparadigmatische (z.B. Verhaltens-, Sozial- und
Informationswissenschaften)
und diparadigmatische Wissenschaft (normale Wissenschaft in der Krise)
- in einen Topf warf, folglich deren jeweiliges Verhältnis
zueinander
und zur normalen Wissenschaft erst gar nicht untersuchte, folgerte
Masterman
im Gegensatz dazu, daß man immer beim Vorhandensein von
Paradigmen
(einem, zweien oder vielen) von normaler Wissenschaft sprechen
könne.
Darauf führte Kuhn in seiner Neuformulierung an, daß es
nicht
der Erwerb eines Paradigmas sei, der den Umschwung zur Reife und die
Einführung
der normalen Wissenschaft bezeichne, sondern eher ein Wandel in der
Struktur
eines Paradigmas, der normale Wissenschaft möglich mache:
"Die
Art dieses Übergangs zur Reife verdient, genauer ... erörtert
zu werden. ... Dabei kann der Hinweis darauf hilfreich sein, dass der
Übergang
nicht mit der ersten Übernahme eines Paradigmas gleichgesetzt
werden
muß (noch sollte, wie ich heute glaube). Die Mitglieder aller
wissenschaftlichen
Gemeinschaften einschließlich der Schulen der
'präparadigmatischen'
Periode haben die Elemente gemeinsam, die ich zusammenfassend als ein
'Paradigma'
bezeichnet habe. Mit dem Übergang zur Reife ändert sich nicht
das Vorhandensein eines Paradigmas, sondern vielmehr seine Natur. Erst
nach der Veränderung ist normale rätsellösende Forschung
möglich. Viele Attribute einer entwickelten Wissenschaft, die ich
oben mit dem Erwerb eines Paradigmas in Verbindung gebracht habe,
möchte
ich jetzt deshalb als Konsequenzen des Erwerbs einer Art von Paradigma
erörtern, das schwierige Rätsel identifiziert, Anhaltspunkte
zu ihrer Lösung liefert und Garantien liefert, dass ein wirklich
tüchtiger
Fachmann Erfolg hat. Nur jene, die durch die Beobachtung, dass ihr
eigenes
Gebiet (oder ihre Schule) Paradigmen besitzt, ermutigt sind,
können
wohl das Gefühl haben, daß durch den Wandel etwas Wichtiges
geopfert wird." ([2], S. 190)
Somit
scheint es, daß der Besitz von Paradigmen keine hinreichende -
obwohl
notwendige - Bedingung für die Entwicklung ausgereifter
Wissenschaft
darstellt. Noch ist es der Fall, daß man nur von einer
ausgereiften
Wissenschaft sagen kann, sie besäße Paradigmen, oder
daß
di- oder multiparadigmatische Wissenschaft nicht existiert. Somit sind
Bereiche mit vielen Paradigmen, wie Verhaltens-, Sozial- und (eben
auch)
Informationswissenschaften, ebenso rechtmäßige Bereiche
für
die Erkennung von Paradigmen und die Analyse ihrer jeweiligen Bedeutung
wie Bereiche mit nur einem oder zwei Paradigmen (wie z.B. die
Naturwissenschaften
in ihren normalen und Krisenzuständen).
Auf
dieser Basis besteht nun Ellis' Absicht darin, die Wirkung von
Paradigmen
im Wissenschaftszweig der Retrievalforschung und den jeweiligen Grad
ihrer
möglichen Verbindung mit der Entwicklung normaler Wissenschaft zu
erörtern.
2.
Paradigmen in der IR-Forschung
Das Ziel
dieses Abschnitts besteht darin, zu untersuchen, ob man von der
IR-Forschung
sagen kann, sie verwende Mastermans Arbeitsthesen-Paradigmen oder Kuhns
Musterbeispiele, und ob dies mit Tätigkeiten verbunden ist, die
für
normale Wissenschaft charakteristisch sind.
2.1
Das physikalische Paradigma
Die Ursprünge
der IR-Forschung können bis zum Cranfield-Uniterm-Test bzw.
ASTIA-Uniterm-Test
zurückverfolgt werden. Doch eigentlich sind es erst die
Testreihen,
die am bzw. in Zusammenarbeit mit dem Cranfield Institute of Technology
ab 1957 durchgeführt wurden, die den eigentlichen Beginn der
IR-Forschung
als Unterdisziplin des Bibliotheks- oder Informationswesens anzeigen.
In
ihnen wurden verschiedene Indexiersysteme (UDC, Uniterm etc.)
miteinander
unter den (damals neuartigen) Gesichtspunkten "precision" und "recall"
miteinander verglichen. ([4])
Die
Cranfield-Tests etablierten den Grundsatz, dass Argumente über die
relativen Vorzüge verschiedener Retrievalsysteme empirisch
begründet
sein mussten. In dieser Hinsicht markieren sie einen historischen
Bewusstseinswandel
von einem philosophisch-spekulativen zu einem experimentell-empirischen
Ansatz beim Entwurf von Retrievalsystemen. Sie lieferten außerdem
das theoretische Gerüst, innerhalb dessen sich die Unterdisziplin
entwickelte, und die in diesen Untersuchungen angewandten Verfahren
haben
eine ganze Forschungstradition begründet.
Die
Cranfield-Tests hatten einen bemerkenswerten direkten und indirekten
Einfluss
auf die nachfolgende Entwicklung der Retrievalforschung. Somit
dürfte
es nicht schwierig sein nachzuweisen, daß die Cranfield-Tests als
ein Paradigma für dieses Forschungsgebiet dienten:
- Sie wurden
sowohl damals als auch nachfolgend als bahnbrechende Errungenschaft
betrachtet,
- der hier
verkörperte Ansatz zur Erprobung von Retrievalsystemen wurde als
Grundlage
für zahlreiche andere Untersuchungen verwendet,
- sie machten
dieses Gebiet für zahlreiche Forscher attraktiv und lieferten
ihnen
einen weiten Bereich von Forschungsproblemen bei der Anwendung und
Verfeinerung
der Testverfahren,
- innerhalb
des etablierten theoretischen Systems konnte eine klar umrissene Masse
empirischer Arbeit geleistet werden, und
- Forscher
konnten eher Probleme innerhalb des Cranfield-Systems erforschen als
die
Gültigkeit des Systems in Frage zu stellen.
Jedoch,
obwohl es leicht ist, zu zeigen, daß die Cranfield-Tests als ein
Paradigma für die folgende Entwicklung dienten, ist es
schwieriger,
den paradigmatischen Charakter der Tests nachzuweisen, d.h., welche
Eigenschaften
befähigten sie, als Analogien interpretiert und auf andere Tests
ausgeweitet
zu werden? Um diesen Punkt zu erhellen, ist es notwendig, die
paradigmatische
Grundlage der Tests selbst zu untersuchen.
Da
der Cranfield-Uniterm- bzw. ASTIA-Uniterm-Test als
"Grundlagen-Paradigma-Kandidaten"
offensichtlich nicht in Frage kommen (sie waren im wesentlichen
ergebnislos),
muß außerhalb der Unterdisziplin der IR-Forschung, ja
überhaupt
außerhalb des Bibliotheks- und Informationswesens gesucht werden,
aber wo? Die Antwort sollte man eigentlich finden, wenn man nach auf
die
Cranfield-Tests angewandten Analogien sucht.
Nach
Masterman (ein Arbeitsthesen-Paradigma ist ein Modell, ein Bild oder
eine
analogisierende Wortkette in natürlicher Sprache, s.o.) findet man
in der Literatur eine Menge davon, nämlich Vergleiche zwischen dem
Versuchsumfeld in Cranfield und Laboreinrichtungen, und zwar
offensichtlich
solchen für physikalische oder mechanische Versuche, wie z.B.
Windkanäle.
([5], S. 8, 17; [6], S.
42)
Somit
muß es sich bei dem Paradigma, das den Cranfield-Tests
zugrundeliegt,
eher um ein physikalisches oder mechanisches als z.B. ein
psychologisches
handeln. Ein weiterer Hinweis auf seine Natur kann auch im Thema der
Untersuchungen
selbst gefunden werden. Cranfield war ursprünglich das Cranfield
College of Aeronautics und das Themenmaterial der Cranfield-Tests
war
Literatur über Luftfahrt. In dieses Gebiet gehört auch die
Windkanal-Analogie.
Somit ist die Analogie im Herzen der Cranfield-Tests, die ihnen ihre
paradigmatische
Macht verleiht, diejenige, daß ein IR-System einem physikalischen
System ähnelt - sowohl in Bezug auf seine Natur als auch auf die
Versuchstechniken
zu seiner Erforschung.
Die
paradigmatische Grundlage der Cranfield-Tests scheint somit die
Übertragung
der Merkmale der Versuchspraktiken und Voraussetzungen bezüglich
der
Wesenheiten aus einem anderen Gebiet (in diesem Fall dem
Ingenieurwesen)
zu sein, was schließlich die Vorstufe eines Paradigmas (engl. "proto-paradigm")
verkörpert, auf der das Cranfield-Paradigma augenscheinlich, wenn
auch nur oberflächlich, aus dem Nichts errichtet werden kann. Jene
vorparadigmatische Grundlage kann dann so angesehen werden, als
repräsentiere
sie eine tiefere und grundlegendere paradigmatische Grundlage für
die auf dem Cranfield-Paradigma basierende Forschung, als einfach nur
die
Verfahrensweisen und Ergebnisse der Cranfield-Tests selbst. Somit ist
es
vielleicht (eher, als sich darauf als auf das Cranfield-Paradigma zu
beziehen)
genauer, sich diese Grundlage als ein mechanisches oder physikalisches
Vorparadigma vorzustellen, das durch die Cranfield-Tests
übertragen
und als ein Paradigma für die Retrievalforschung in eine
zusammenh„ngende
Form gebracht wurde.
(Einschub
durch Prof. Capurro: hier tut Ellis den Cranfield-Tests unrecht, wenn
er
ihre paradigmatische Rolle herunterspielt - schließlich gab es
die
Begriffe "precision" und "recall" in dieser Bedeutung
vorher
auch nicht in der Naturwissenschaft.)
2.2
Das kognitive Paradigma
Die hauptsächliche
Alternative zu Arbeiten in der IR-Forschung, die unter dem
physikalischen
Paradigma betrieben wurden, sind solche, die dem kognitiven Paradigma
folgen.
Die Schlüsselmerkmale des kognitiven Paradigmas können
dermaßen
formuliert werden,
"daß
jegliche Informationsvermittlung durch ein System von
Begriffskategorien
vermittelt wird, die für die informationsverarbeitende Vorrichtung
ein Weltmodell darstellen".([7], S. 48)
Dieses
Paradigma wurde in so verschiedenen Gebieten wie Computerwissenschaft,
Psychologie, Soziologie, künstliche Intelligenz (KI), Linguistik
und
Informationswissenschaft enthusiastisch aufgenommen. Die Schwierigkeit
hierbei ist, irgendeine wissenschaftliche Errungenschaft auszumachen,
von
der man sagen kann, sie diene als das (Kuhnsche) Musterbeispiel
für
das kognitive Paradigma. Gewiß kann das kognitive Paradigma als
mit
Fortschritten im wissenschaftlichen Verständnis verbunden gesehen
werden, speziell auf dem Gebiet der künstlichen Sehkraft und der
Spracherkennung,
aber nicht mit irgendeiner besonderen Errungenschaft, die als ein
Musterbeispiel
dasteht, weder inner- noch außerhalb dem Bereich der
Informationswissenschaft.
Anders
als beim physikalischen Paradigma gibt es hier für die
Anhänger
aus der IR-Forschung vielleicht keine paradigmatische Entsprechung zu
den
Cranfield-Tests. Vielleicht ist sogar für die Anhänger des
kognitiven
Paradigmas das physikalische Paradigma dasjenige, das die
grundlegendere
Rolle eines Musterbeispiels zu spielen hat, wenn auch negativ, das
heißt
als abzulehnendes Modell, während das kognitive Paradigma
tatsächlich
ein Protoparadigma ist, das als Brennpunkt der Forschung
außerhalb
des physikalischen Paradigmas dienen kann.
Der
Unterschied in der Grundlage der beiden Paradigmen spiegelt sich in den
unterschiedlichen Forschungsarten, die mit ihnen verbunden werden.
Forschung
innerhalb des physikalischen Paradigmas ist charakterisiert durch
Gleichartigkeit
von Zweck und Methode, was stark mit Forschung unter dem kognitiven
Paradigma
kontrastiert, die in ihren Gegenständen und Methoden
unterschiedlich
ist, jedoch geeint durch das gemeinsame Anliegen, daß ein
IR-System
in seinen Operationen auf die eine oder andere Weise die durch
Erkenntnis
bestimmte Welt des Benutzers widerspiegeln soll.
Drei
Merkmale charakterisieren diese Art des Herangehens an den Entwurf von
Retrievalsystemen:
- die Konstruktion
eines Modells des Informationsbedarfs des Benutzers durch das
System,
- die Herkunft
dieses Modells aus der Kommunikation des Systems mit dem Benutzer,
- die Anwendung
dieses so konstruierten Modells als die Basis für das
Retrieval.
Folglich
liegt ein deutlicher Schwerpunkt der Forschung innerhalb des kognitiven
Paradigmas von jeher auf der Entwicklung von Techniken zur Modellierung
der kognitiven Welt des Benutzers als Teil des Retrievalvorgangs
Frühe
Beispiele sind u.a. die Arbeiten von Oddy über das IR mittels
eines
Dialogs zwischen Mensch und Maschine im Expertensystem THOMAS
([8]) und Belkins Vorschläge zur Entwicklung v
on IR-Systemen auf der theoretischen Grundlage von anomalen
Wissenszuständen
(Anomalous States of Knowledge, ASK ([9])).
Obwohl diese Projekte nie über das Stadium des Prototyps bzw.
Entwurfs
hinauskamen, folgt die Forschung über die Entwicklung von
informationsvermittelnden
Expertensystemen dem Prinzip des Kognitiven Benutzermodells und somit
dem
kognitiven Paradigma.
Die
Forschung über vermittelnde Expertensysteme hat auch eine gewisse
Bedeutung als Brennpunkt für die Anwendung von Ideen und Verfahren
aus der KI-Forschung, wie z.B. die Verwendung der Architektur des
Spracherkennungssystems
HEARSAY II ([10]). Dies stellt eine Art
Mini-Paradigma
für die betroffenen Forscher dar, insofern sie den Ansatz für
die Lösung des Spracherkennungsproblems, wie er in HEARSAY vorlag,
als Modell für die Strukturierun g der vielschichtigen
Wechselwirkung
zwischen einem Benutzer und einem IR-System nahmen.
Somit
stellte zur Zeit von Ellis' Vortrag das kognitive Paradigma die
hauptsächliche
Alternative zum physikalischen Paradigma dar.
3.
Schlußfolgerung:
Paradigmen
und Vorparadigmen in der IR-Forschung
Das Vorhandensein
eines Paradigmas wird nicht nur durch die Existenz von Arbeiten, die
durch
dieses Paradigma geführt oder angeleitet werden, angezeigt,
sondern
auch durch das Zeugnis von Reaktionen gegen dieses Paradigma. In dieser
Hinsicht gibt es klares Zeugnis für das Vorhandensein zweier
Hauptparadigmen
in der IR-Forschung:
- das physikalische
und
- das kognitive
Paradigma.
Ferner
können diese Paradigmen als bis zu einem gewissen Grad im
Wettbewerb
um Anhänger betrachtet werden, obwohl manche die schwierige
Aufgabe
meistern, gleichzeitig mit Elementen beider Paradigmen zu arbeiten.
Jedoch
ist die Anwesenheit dieser beiden widerstreitenden Paradigmen nur
schwach
mit der Entwicklung einer ausgereiften Wissenschaft verbunden. In der
schwachen
Bedeutung, in der Masterman ([3]) normale
Wissenschaft
de finiert, daß normale Wissenschaft dort ist, wo auch immer
Paradigmen
sind, hat die vom physikalischen und kognitiven Paradigma geleitete
IR-Forschung
einige der Merkmale normaler Wissenschaft.
Aber
in dem starken Sinne, in dem Kuhn ([2]) normale
Wissenschaft
beschreibt, scheint keines dieser Paradigmen zur Entwicklung einer
ausgereiften
Wissenschaft, innerhalb der normale Forschung als Rätsellösen
erfolgreich stattfinden kann, geführt zu haben. Kuhns Ansicht
lautete,
daß normale Wissenschaft nicht durch bloße Aneignung eines
Paradigmas beginnt, sondern durch den Wandel in der Natur eines
Paradigmas,
so daß das Paradigma
"schwierige
Rätzel identifiziert, Anhaltspunkte zu ihrer Lösung und
Garantien
liefert, daß ein wirklich tüchtiger Fachmann Erfolg hat." ([2],
S. 190)
Nur in
einem sehr begrenzten Sinn könnte man von irgendeiner dieser
Aussagen
behaupten, sie sei auf das physikalische oder kognitive Paradigma im
Bereich
der IR-Forschung anwendbar.
Nach
dieser Schlußfolgerung ging Ellis noch kurz auf
konnektionistische
Modelle und Hypertextsysteme ein, was aber angesichts des Zeitpunkts
seines
Vortrags hier nicht behandelt werden soll, da die Entwicklung gerade im
Hypertextbereich inzwischen weit fortgeschritten ist.
Exkurs
1: Das Expertensystem THOMAS
Im Programm
THOMAS geht der Benutzer nicht direkt mit der Informationsstruktur der
Datenbank um, sondern kommuniziert damit über die Erstellung eines
Modells seiner eigenen Wahrnehmungen oder Anforderungen. Das Modell,
das
das System aus den Anforder ungen des Benutzers erstellte, wurde dazu
verwendet,
Material für das Retrieval in einem schöpferischen Prozess zu
erkennen. Hierbei erstellte das System ein Schaubild (einen sogenannten
Kontext-Graphen), das dann mit dem Assoziationsnetz in der Datenbank
verglichen
wurde. Dasjenige Dokument, das als das dem Schaubild ähnlichste
berechnet
wurde, wurde anschließend dem Benutzer präsentiert. ([8])
Exkurs
2: Belkins Theorie der Anomalen Wissenszustände (ASK)
Der Prozess,
von dem Belkin annahm, daß er der Wechselwirkung im IR
zugrundeliegt,
kann (sehr vereinfacht) als eine Art Sender-Empfänger-Modell
dargestellt
werden ([9], S. 81):
+-------------------------------------------------------------------+ | | | "GENERATOREN"____________TEXTE___________REZIPIENTEN | | (a) Die linguistische Ebene des Systems | | | | WISSENSZUSTAENDE X_______INFORMATION_____ANOMALE WISSENSZUSTAENDE | | (b) Die kognitive Ebene des Systems | | | +-------------------------------------------------------------------+
Literatur
- [1]
Ellis, D.
- Paradigms
and proto-paradigms in information retrieval research (1991) In:
Vakkari,
P. and Cronin, B., eds. (1992) Conceptions of Library and Information
Science,
Taylor Graham, London, New York, 165-186
- [2]
Kuhn, Thomas S.:
- Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen / Thomas S. Kuhn. [Aus dem Amerikan.
von
Kurt Simon. Für die 2. Aufl. ist die Übers. von Hermann
Vetter
rev. worden.]. - 2., rev. und um das Postskriptum von 1969 erg. Aufl.,
13. Aufl. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1996
- [3]
Masterman, M.
- The nature
of a paradigm (1965), In: Lakatos, I. and Musgrave, A., eds. (1970)
Criticism
and the growth of knowledge, Cambridge University Press, Cambridge,
59-91
- [4]
Lancaster, F. W.
- Evaluation
and Testing of Information Retrieval Systems, Kapitel: The History of
Evaluation;
in: Encyclopedia of Library and Information Science, Vol. 8, 234-259
- [5]
Cleverdon, C. W., Mills, J. and Keen, E. M.
- Factors
determining the performance of indexing systems, (Volume 1: Design)
(1966),
Cranfield, College of Aeronautics
- [6]
Cleverdon, C. W.
- Design
and evaluation of information systems (1971), In: Annual Review of
Information
Science and Technology, 6, 42-73
- [7]
De Mey, M.
- The relevance
of the cognitive paradigm for information science (1980), In: Harbo, O.
and Kajberg, L. (Eds.): Theory and Application of Information Research,
(Proceedings of the 2nd. International Research Forum on Information
Science),
London, Mansell, 49-61
- [8]
Oddy, R. N.
- 'Information
retrieval through man-machine dialogue' (1977), Journal of
Documentation,
33, 1-14
- [9]
Belkin, N. J.
- 'Progress
in documentation: information concepts for information science' (1978),
Journal of Documentation, 34, 55-85
- [10]
Belkin et al.
- 'Distributed
expert-based information systems: an interdisciplinary approach'
(1987),
Information Processing and Management, 23, 395-409
Letzte
Änderung: 7.August 2000
|