https://www.heise.de/tp/features/Ein-Ortswechsel-des-Denkens-3438899.html TELEPOLIS Ein Ortswechsel des Denkens
Ein Interview mit dem Philosophen Rafael Capurro über die ethischen Implikationen der digitalen Weltvernetzung und die Aufgaben einer interkulturellen Informationsethik Über sich selbst sagt Professor Capurro: "Meine philosophischen Ansätze wurzeln, verkürzt gesagt, im Heideggerschen Denken einerseits sowie im Nachdenken über die ethischen Implikationen der digitalen Weltvernetzung andererseits. Das ist eine ziemlich explosive Mischung." Rafael Capurro, geb. 1945 in Montevideo/Uruguay, ist Professor für Informationswissenschaft und Informationsethik an der Hochschule der Medien Stuttgart (HdM). Capurro gründete das International Center for Information Ethics (ICIE in Karlsruhe und ist u.a. Mitglied des European Group on Ethics in Science and New Technologies der EU-Kommission und Herausgeber des International Journal of Information Ethics (IJIE).. Für
Sie besteht ein inniges und fast schon selbstverständlich
anmutendes
Verhältnis zwischen Kultur und Ethik. Wie sehen Sie das
Verhältnis von
Kultur und Ethik?
Rafael Capurro: Kultur
nenne ich unsere Anstrengungen, uns in der Welt so gut und angenehm wie
möglich einzurichten. Aristoteles nennt Ethik die Reflexion
über das
gute Leben. Das griechische Wort ethos bedeutet
nicht nur Charakter, sondern auch Wohnort. Wir leben geschichtlich in
dem Sinne, dass wir keinen festen, von der Natur vorgegebenen Wohnort
oder sogar ein Wohnprogramm zugewiesen bekommen. Wir richten uns
individuell und gesellschaftlich unterschiedlich ein und ziehen im
Laufe unseres Lebens sozusagen mehrmals um. Das Verhältnis
zwischen
Ethik und Ästhetik ist also nicht bloß metaphorisch. Michel
Foucault
sprach in diesem Zusammenhang von Ethik als "Ästhetik der
Existenz".
Die
kulturellen Veränderungen aufgrund des zunehmenden Grades an
Digitalisierung und Vernetzung sind offensichtlich. Wieso tut sich die
Ethik so schwer, diesen Veränderungen Rechnung zu tragen?
Rafael Capurro: Die
digitale Weltvernetzung erlaubt uns in vieler Hinsicht einen leichteren
und vielseitigen Austausch mit anderen Kulturen. Dabei kann aber der
falsche Eindruck entstehen, dieser Austausch sei einfacher geworden.
Das ist eine Täuschung, wozu auch der Gebrauch des Englischen als
lingua franca beigetragen hat. Das mag auch ein Grund dafür sein,
warum
"die Ethik" sich mit den gegenwärtigen kulturellen bzw.
technologischen
Veränderungen schwer tut. Sie hat sich nämlich in einem
bestimmten
Wohnort bequem gemacht und nicht bemerkt, dass das Mietshaus inzwischen
von den Mitbewohnern nicht bloß frisch gestrichen, sondern mit
neuester
Technik ausgerüstet wurde und viele Untermieter inzwischen
umgezogen
sind.
So
tun, als ob wir nur über Kant oder wen auch immer reflektieren
müssten,
um eine lebensdienliche Orientierung bezüglich eines immer gleich
bleibenden Wohnortes zu bekommen, verkennt diesen geschichtlichen
Charakter menschlichen Lebens. Das bedeutet natürlich nicht, dass
im
Falle einer Renovierung oder eines Umzugs, sagen wir von der
griechischen Tugendethik zur christlichen Liebesethik und von dort zur
Kantischen Pflichtethik oder zum utilitaristischen Denken, sich alles
ändern muss. Aber wenn der Lebenskontext sich so entscheidend
verändert, müssen wir vieles neu bedenken. Im Bereich der
Biotechnologie ist dies seit etwa zwanzig Jahren der Fall.
Erstaunlich
ist aber - und das bestätigt Ihre Diagnose über eine
nachhinkende Ethik
-, dass zum Beispiel in den Feuilletons der Begriff "Informationsethik"
weitgehend unbekannt ist. Dabei ist diese Disziplin nicht neu, sondern
wird bereits seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts,
zunächst mit dem Titel "Computerethik" vor allem an vielen
Informatik-Departments in den USA gelehrt. Seit etwa zehn Jahren finden
regelmäßige internationale Konferenzen statt und namhafte
Universitäten
haben Forschungsabteilungen zur Informationsethik eingerichtet. Schon
ein flüchtiger Blick in Google genügt, um festzustellen, dass
es etwa
elf Millionen Treffer zum Stichwort "Informationsethik" gibt.
Vielleicht liegt ein Grund für die Ahnungslosigkeit mancher
Journalisten in Sachen Informationsethik darin, dass der Umzug aus dem
Haus der Massenmedien des 20. Jahrhunderts in die vernetzte Welt des
21. Jahrhunderts für einige von ihnen schwer zu ertragen ist.
Die digitale Weltvernetzung verändert fundamental, was bisher als lokal bzw. global galt Ihrer
Ansicht nach erzeugt die durch das Internet mitverursachte
Globalisierung zugleich eine Gegenbewegung: die seiner Lokalisierung.
Wieso wurde dem Lokalen in der (medien-) ethische Diskussion bislang so
wenig Beachtung geschenkt?
Rafael Capurro: Die
(medien-)ethische Diskussion operiert oft unter der (Kantischen)
Vorgabe der Universalisierbarkeit von Handlungsmaximen. Sowohl die
Tradition der antiken Ethik als auch die modernen utilitaristischen
Strömungen sind dabei offener für die lokalen oder situativen
Bedingungen unter denen eine bestimmte Technik mehr oder weniger Sinn
für die Menschen macht.
Bedeutet
dies, dass dem Lokalen ein Vorrang vor dem Globalen zukommen soll?
Rafael Capurro: Das
Lokale gegen das Globale gegeneinander auszuspielen wäre
verhängnisvoll. Lawrence Lessig warnt z. B. mit Recht vor lokalen
Codes
(des Marktes, der Softwareindustrie, der Nationalstaaten), welche die
Universalität, d.h. die Offenheit des Netzes gefährden
würden. Er ist
sich aber zugleich bewusst, dass hier einfache Antworten keine
Antworten sind. Sich (politisch) stark machen für creative
commons,
open source, software libre usw. bedeutet zunächst gegen die
zunehmende
Ökonomisierung des Netzes zu kämpfen. Auf der Ebene der
Menschenrechtsdiskussion sprechen wir vom Menschenrecht auf
Kommunikation. Das alles mit dem Ziel der Überwindung der
sogenannten
digitalen Spaltung. Möglichst vielen Menschen, vor allem in den
Ländern
der sog. Dritten Welt, muss die Chance eröffnet werden, ihre
Lebensbedingungen selbst mit Hilfe der digitale Weltvernetzung zu
verbessern.
Damit
deuten wir aber zugleich auf die lokalen Differenzen hin. In dieser
Spannung bewegen sich auch die Debatten im Weltgipfel
zur Informationsgesellschaft.
In der Declaration of Principles, die 2003 in Genf verabschiedet wurde,
wird z.B. gefordert, kulturelle Diversität und lokale Inhalte zu
schützen und zu fördern. Der Schutz des Lokalen gehört
in diesem Sinne
zu den universellen Menschenrechten.
Rafael Capurro: In
diesem Sinne verstehe ich auch Art. 19 der Allgemeinen Deklaration der
Menschenrechte über die Informationsfreiheit, der aber in einer
Zeit
verfasst wurde, als die globalen und interaktiven Möglichkeiten
der
digitalen Kommunikation so nicht gegeben waren. Die digitale
Weltvernetzung bedeutet eine grundlegende Veränderung dessen, was
bisher als lokal bzw. global galt. Wir sind erst dabei, uns mit diesem
Umbau unserer Wohnorte vertraut zu machen.
Die Perspektive einer interkulturellen Informationsethik Sie
begreifen Ethik als Reflektion über den moralischen Code einer
Gesellschaft bzw. verschiedener Gesellschaften. Sie soll dabei vor
allem moralischen Fundamentalismen entgegentreten. Damit stellt die
Ethik aber eher ein Angebot als eine Notwendigkeit dar. Wie beurteilen
Sie die Gefahr, dass sich Gesellschaften gegen die Notwendigkeit von
Ethik aussprechen?
Rafael Capurro: Moral
ist ein Subsystem der Gesellschaft im Sinne der Systemtheorie von
Niklas Luhmann. Sie operiert mit dem Code
Stigmatisierung/Nicht-Stigmatisierung. In der Tat ist es die Aufgabe
der Ethik, die Wechselwirkung dieses Systems mit anderen Systemen zu
beobachten. Damit ist zugleich gesagt, dass die Ethik keinen
privilegierten Platz außerhalb der Differenz System/Umwelt hat.
Jede
ethische Beobachtung ist auch eine systembedingte Beobachtung, in
diesem Fall bedingt durch die jeweilige Blindheit einer ethischen
Theorie.
Universalisierte
moralische Maximen sind im Kantischen Sinne regulative Maximen. Wir
erfassen das Universale immer nur in einem kategorialen Rahmen, der
aber, um an Hegel zu erinnern, geschichtlich ist. Die Arbeit der
Anwendung und Anpassung bleibt uns hier sowenig wie im System des
Rechts erspart. Universale (quasi-)rechtliche Normen sind notwendig,
aber schwer zu vereinbaren und noch schwieriger durchzusetzen - aus
guten Gründen. Denn keiner will ein universales Machtmonopol in
den
Händen einer lokalen Macht. Historia magistra vitae.
Die
Vereinten Nationen haben unter anderem die vornehme Aufgabe, ein
globales Forum für das Aushandeln von kulturellen, politischen,
wirtschaftlichen und, wie sie sich jetzt zeigt,
(informations-)technologischen Einzelinteressen darzustellen. Damit das
Internet allen gehört, brauchen wir neben Bottom-up-Strategien
auch
Top-down-Initiativen. Es ist noch offen, welche Rolle die Vereinten
Nationen dabei in Zukunft spielen werden, aber die bisherigen
UNESCO-Konferenzen sowie der jetzige Weltgipfel zeigen, dass hier - in
der Sprache der Politik - Handlungsbedarf besteht.
Zugleich
brauchen wir auch den interkulturellen ethischen Dialog auf
akademischer Ebene. Wenn wir eine existentielle und reflexive Distanz
über unser jeweiliges Wohnen gewinnen, wenn wir also Ethik
betreiben
wollen, ist das Beste, was wir tun können, uns bei anderen
Wohnungen
umzuschauen und uns dabei theoretisch und praktisch auszutauschen.
Dieser Austausch sollte nicht primär auf Konsensfindung im Sinne
der
Diskursethik abzielen, sondern wir benötigen zunächst eine
Komparatistik, die ich im Informationsbereich als interkulturelle
Informationsethik bezeichne.
Das
betrifft nicht nur den synchronen Vergleich von globalen und lokalen
Perspektiven über das, was jeweils für ein gutes Leben in
anderen
"Wohngegenden" zur Zeit in Bezug auf die digitale Weltvernetzung
gehalten wird, sondern auch der diachrone Vergleich in Zusammenhang mit
den großen Denktraditionen, wie etwa dem Buddhismus, der
konfuzianischen Ethik oder dem Islam sowie mit den konkreten
Kommunikationspraktiken, die in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften
herrschten. Ausdrücke wie "Informationsgesellschaft" oder
"Wissensgesellschaft" sind stets im Plural zu gebrauchen - nicht
zuletzt aus ethischen Gründen.
Im
akademischen Bereich haben wir gerade damit begonnen, uns global und
lokal in diesem Gebiet zu vernetzen. Diese hat einen sehr langen und
weitgehend unerforschten Weg vor sich. Aber ein "Ortswechsel des
Denkens" (François Jullien) braucht einen langen Atem. Er soll
neue
Perspektiven eröffnen und den Sinn für Differenzen wecken, um
die
jeweils eigene Begrenztheit besser zu verstehen oder sogar erstmals
begreift, die sich oft allzu schnell und dann auch mit missionarischem
Eifer als universal wähnt. Die Konsequenz sind die moralischen
Fundamentalismen, die Sie angesprochen haben.
Eine
interkulturelle Informationsethik soll den Eurozentrismus der Ethik
überwinden, zugleich aber nicht im Relativismus enden. Bei der
Überwindung des Eurozentrismus scheinen Sie mir vor allem die
europäische Tendenz zum moralischen Universalismus im Auge zu
haben.
Wie aber soll ein Relativismus, in dem verschiedene Ethikentwürfe
gleichberechtigt nebeneinander stehen, vermieden werden, wenn zugleich
kein Anspruch auf Universalität von bestimmten Aussagen erhoben
werden
soll?
Rafael Capurro: Das
Verhältnis von Universalismus und Relativismus in der Ethik
entstammt
einer bestimmten europäischen Tradition. Aber diese Tradition ist
nicht
die einzige. Denken Sie zum Beispiel an die antike Ethik, die von
Denkern wie Michel Foucault und Pierre Hadot in Frankreich oder Wilhelm
Schmid in Deutschland unter dem Stichwort "Lebenskunst" wieder zum
Leben erweckt haben. Ich glaube, dass die Informationstechnologien als
ein Teil jener "Technologien des Selbst" (Foucault) betrachtet werden
können und sollten.
Wenn
wir das Gespenst des ethischen oder besser moralischen Relativismus mit
einem brachialen Universalismus zu bekämpfen versuchen, dann
bekommen
wir vermutlich jene missionarischen moralischen Fundamentalismen, die
Sie erwähnt haben. Die verschiedenen Ethikentwürfe oder, was
nicht
dasselbe ist, die verschiedenen geltenden Moralen, nebeneinander stehen
zu lassen, ist aber auch keine Alternative. Das nenne ich einen
multikulturalistischen Ansatz, der den Weg der Komparatistik scheut wie
der Teufel - oder die Moral - das Weihwasser.
Der
Philosoph Michael Walzer hat zwischen einer "dicken" und einer
"dünnen"
Moral unterschieden. Mit "dünner" Moral meint er eine Moral, deren
Maximen entlokalisiert sind, im Gegensatz zur "dicken" Moral mit
kulturspezifischen Wurzeln. Es wäre verhängnisvoll, die
"dicke" Moral
als Relativismus anzusehen. Wir berauben uns dabei der
Möglichkeit,
unsere moralischen Begriffe durch einen kritischen interkulturellen
Vergleich in ihrer Spezifizität besser zu erkennen. Ein
transkultureller Konsens ist eine wichtige politische Aufgabe, aber er
entbindet uns nicht des permanenten interkulturellen Dialogs und auch
nicht des Nachdenkens über die konkreten Lebensmöglichkeiten,
die eine
universalisierbare Maxime eröffnet - und zugleich
verschließt. Ich
schlage also eine Doppelstrategie vor, ganz im Sinne des Re-entry der
Systemtheorie. Informationspolitisches Denken und Handeln und ethische
Reflexion bedingen sich gegenseitig, ohne sich aufzuheben.
Was
würden Sie einem Leser erwidern, der an dieser Stelle sagt:
"Für Informationsethik sind mir meine Steuergelder zu schade"?
Rafael Capurro: Angesichts
der gesellschaftlichen Bedeutung der Informationstechnik scheint mir
diese Frage im wahrsten Sinne des Wortes weltfremd. Verglichen mit
anderen Ausgaben für wissenschaftliche Forschung sind die
finanziellen
Mittel für Ethik-Projekte kaum erwähnenswert. Wenn wir das
Vor- und
Nachdenken über unseren jetzigen und künftigen Wohnort
vernachlässigen,
brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir bald feststellen, dass die
informationstechnische Entwicklung "schief gelaufen" ist, indem zum
Beispiel die Interessen der Allgemeinheit vor den Interessen einzelner
Gruppierungen nicht genügend zum Tragen kommen. Gute Politik
braucht
gute Argumente und die fallen bekanntlich nicht vom Himmel und sie
lassen sich auch nicht von heute auf morgen herbeizaubern. Denken
braucht Zeit.
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