Philosophisches Denken
ist per definitionem ein
Denken der Differenzen. Wie kommt eine den Denker selbst bestimmende
Differenz, nämlich die Geschlechterdifferenz, in seinem/ihrem
philosophischen Denken zur Sprache? Inwiefern wird diese Differenz im
abendländischen Denken lediglich unterschwellig thematisiert, so
daß sie dadurch in Wahrheit eine Geschlechterhierarchie
zementiert? Wie verhält sich die 'natürliche' Bestimmung des
sexuellen Unterschieds zur 'kulturellen' Kontingenz der
Geschlechterdifferenz?
Es versteht sich fast von selbst, daß in diesem so
'frag-würdigen' Bereich kein "Werk" ('érgon'), sondern ein
Versuch oder Nebenwerk ('párergon') der Sache angemessen ist.
Nebenwerk wozu? Zum philosophischen Diskurs, sofern er nämlich
jene Fragen aus seiner Mitte ausgrenzt oder, genauer gesagt, seine
Männlichkeitszentriertheit hinter dem Schleier der
Neutralität für selbstverständlich hält. Der
parergonale Diskurs über das Weibliche gleicht dann der
"überschwenglichen" (Kant) Rede der Vernunft über das
"Übernatürliche". Mit diesen (und anderen) Gedanken beginnt
Astrid Nettlings verschlungener "Versuch über die
Geschlechterdifferenz". Doch ihr geht es nicht um eine Variante der
Kompensationsthese, indem sie also versuchen würde, das
Nebensächliche in eine Gesamtschau zu integrieren oder sogar das
Weibliche mit den Insignien der (männlichen) Subjektivität
auszustaffieren. Gegenüber dieser doppelten Negation, weder
Beibehaltung der herkömmlichen Dichotomie noch
"schwärmerische" Integration, öffnet sie eine dritte
Alternative, nämlich die eines wahrscheinlichen Experimentierens
im Stil eines Essays. Daher der zweite Untertitel: "Versuch über
die Geschlechterdifferez", wobei die "Differenz" zum Fragwürdigen
wird. Was differiert? Das Weibliche. Inwiefern? Insofern als es sich
von seiner Deplazierung als Adjektiv des Subjekts 'Philosophie'
bewußt ist. Das Weibliche – eine durchsichtige Hülle –
differiert, das heißt es kommt zum Verschwinden. Genau um diesen
Vorgang des Schwingens oder, in den Worten der Verfasserin, um die
"Übergänge" zum Verschwindenden und Differierenden, zum
Anderen, geht es bei diesem Versuch einen "Sinn" dafür zu
entwickeln.
Diese 'Ent-wicklung' beginnt mit einem "Erotischen Vorspiel" dem James Lee Byars
Bild "The Head of Plato" und Praxiteles' "Aphrodite von Knidos"
vorstehen. Byars makellose Sphäre weist auf die vielfach
gebrochene "Sphäre" von Pomodoro.
Aphrodite verbirgt keusch ihr Geschlecht, jene mythische Potenz des
Lebens, die im Denken Platons an den Rand gerückt und zu
'chóra', zum indifferenten Raum wird. Das Weibliche hat ihr
Mysterium preisgegeben – jetzt ist die Stunde des Mannes
gekommen. Die platonische Philosophie bracht, so wie Autorin, mit der
Komplementarität der Geschlechter (46) sowie mit dem
"horizontalen" mythischen Gesamtzusammenhang, zugunsten der
hierarchischen, männlichen, vertikalen Bewegung, die im
Höhlengleichnis bzw. in der Weg-Metapher versinnbildlicht wird.
Der Raum hat dabei eine nebensächliche Funktion, alles ist auf das
'érgon' orientier. Ziel der Sokratischen Verführung im
"Symposium" ist nicht das andere, sondern – die Wahrheit.
Sokrates besetzt nur eine leere Durchgangsstelle und verkörpert
keine Differenz. Die Platonische Dialektik entwickelt somit keinen Sinn
für Übergänge, d.h. sie läßt nicht die
Differenz des Anderen zum Vorschein kommen (77). Was sind also Platons
"Dialoge"? Unter dem Titel "Das Gespräch mit dem Selben"
führt A. Nettling auf, daß Platons Schriftkritik Zeugnis
davon ablegt, daß das "Selbe" sich nicht im Diskurs mit dem
Anderen 'mit-teilen' läßt, sondern den "imperativen Gestus
der Vorschrift" widergibt (96). Entscheidend ist dabei, ddie sich gegen
einen "Grund" profilierende "Figur", die als 'érgon' hervorgeht.
Die Anamnesis-Lehre ist eine rückläufige Lektüre dieser
Grund-Figur-Ökonomie (114). Der erste Teil der Arbeit wird mit
drei "Liebenspolemiken" fortgesetzt. Die erste hat "die Szenerie des
Schauspiels", nämlich Platons Höhlengleichnis, zum Thema. Der
Raum der Höhle ist, nach der Auffassung von L. Irigaray,
die neutralisierte mythologische 'hystéra' (Gebärmutter),
das "Worin" des Werdens also, aus der die Philosophie sich herausdreht
(122), um zum eigentlichen "Früheren", zum 'télos' zu
kommen, allerdings ohne den Anderen, ohne die 'hystéra' (135).
Die zweite "Liebespolemik" trägt den Titel "Hymen – Schwelle
und kleine Mauer. 'hosper tà paraphrágmata". Indem Platon
verschiedene räumliche Einteilungen vornimmt, geht ihm das
Gespür für Übergänge verloren. Anstelle des 'hymen'
richtet er eine kleine Mauer, eine Grenze, die teilt, ohne
Interferenzen und Berührungen zu erlauben. Die Geschlossenheit des
so Getrennten wird nicht versuchsweise durchbrochen, sondern es bleibt
nur der Weg der metaphysischen Transzendenz offen. Es ist an dieser
Stelle, wo L. Irigaray eine Verschiebung von der 'hystéra' "ein
Drittes gleich einer condordia
discors, die Spannung einer zwieträchtigen
Einheit." [findet] (143). Eine solche 'Membrane' suspendiert
auch den klaren Blick auf die Wahrheit und läßt den
philosophischen Diskurs im Wahrscheinlichen weilen. Die dritte
"Liebespolemik" knüpft an dieses Thema an: "Vagina – Passage und
Umkehr 'periagogè holes tes psyches'". Platons Philosophie
reflektiert einen "Überstieg keine Übergänge (152). Die
"Umdrehung" ('periagogé') vollzieht sich plötzlich und
radikal "mit der ganzen Seele" geleitet durch ein Bild, das zur
Wahrheit führt.
Der zweite Teil der Arbeit gilt zunächst dem "Zwieträchtigen
Eros" und wird begleitet von Hans Bellmers
"Die Puppe", eine phallische Projektion, männlich-weiblich, die im
Gegensatz zum platonischen Eros steril bleibt (172). Das
androgyne Bild ist doppeldeutig, indem es nämlich sowohl die
Verschmelzung als auch die Unentscheidbarkeit und somsit auch einen
"beweglichen Übergang" zwischen den Polen ausdrückt (175).
Diese zwieträchtige Zwiefalt wurde aber, so die Autorin, durch
Platon neutralisiert. Denn die metaphysische Differenz wird durch die
Geschlechterdifferenz nicht gangiert, sie wurde verschoben, indem der
'logos' sich seinen eigenen Raum einrichtete (176). Das Problem der
Zwiefalt wird als solches von der Metaphysik nicht bedacht, da es zu
ihrer 'conditio sine qua non' gehört, wie die Autorin in
Anschluß an Heidegger feststellt. Die Metaphysik kann die
Differenz als Differenz nicht austragen, sie bleibt für die im
wörtlichen Sinne undenkbar, sie ist das, was sie überwinden
muß. An dieser Stelle fragt die Autorin. "Ist diese erneute
Wendung der philosophischen translatio
auf die ontologische Differenz, die Heidegger anstrengte, in die
Wendung einer Differenz der Geschlechter zu bringen, die nicht das
gleiche ist wie die ontologischen Differenz?" (177) Die Frage bleibt
offen. Die Autorin konstatiert, Freud und Lacan folgend, eine
"fundamentale Fragwürdigkeit der eigenen Seinsgewißheit
bezüglich des Geschlechts" (181). Diese Fragwürdigkeit oder
'Fehlen' verschärft sich in den Verfehlungen des Subjekts, zumal
wenn dieses nach Seinsgewißheit stebt. Zugleich aber öffnet
sich durch das geschlechtliche Fehlen hindurch eine andere Dimension
des Begehrens des Subjekts, da "nicht mehr ursprünglich über
ein Sein des Geschlechtlichen
zu veranschlagen ist" (188). Der Sinn dieses Fehlens geht also
über eine Geschlechterontologie hinaus. Es ist die Suspendierung
einer (metaphysischen) Antwort auf die Frage: "Was ist männlich,
was ist weiblich?" bzw. "Bin ich ein Mann oder eine Frau?", die "eine
Spanne offen" läßt "für die Wirkung, da Spiel der
Differenz." (191) Warum soll aber diese Suspendierung keine
Neutralisierung sein oder doch die der "ontologischen Differenz"? Die
Unmöglichkeit eines Geschlechtsverhältnisses gründet
für Lacan in der Kontingenz sowie in der Konventionalität der
Signifikanten Mann/Frau. Der "Exzeß" des Anderen übersteigt
sie beide, und läßt sie in ihrem gegenseitigen Suchen sich
zwar "begegnen" zugleich aber als 'symbolon' des Anderen in ihrem
"Verhältnis" verfehlen (199). Nettling spricht von einer
"parodistischen Geste", wodurch die Geschlechterdifferenz sich in die
"ontologischen Differenz" einpendelt (202).
Die Kernfrage ist also, wie
fundamental die (unsere) Unwissenheit ist, ob sie also, wie in manchen
Deutungen der Psychoanalyse, durch Wiedererinnerung 'geheilt' werden
kann oder ob sie einen unaufhebbaren "Seinsmangel" (Lacan) betrifft,
der sich im ('hysterischen') weiblichen Diskurs des Nicht-Wissens
'aus-drückt' und sich dem männlichen ('neurotischen') Diskurs
des Wissens widersetzt. Die Fragwürdigkeit des Geschlechtlichen
führt in die ausweglose Suche des (weiblichen) Begehrens, das
letztlich nicht weiß, was es will, und es auch nicht wissen
will und kann. Die (weibliche) Ignoranz ist ein Übergang zum
Anderen, das es "noch" ("encore", Lacan) gibt. Gegenüber der
selbstverblendeten Philosophie bleibt die ratlose Spannweite der
mythischen Penia (der Armut) auf Distanz, während der sokratische
Eros auf Verführung und Zeugung aus ist und in die Falle der
verschleierten Wahrheit hereinfällt. Dabei erkennt er die
fundamentale Ignoranz des Weiblichen und 'löst' die Aporie 'quoad
matren'. Auf der Seite des Weiblichen verfehlt wiederum das
'hysterische' Begehren das fundamentale Fehlen und sucht nach dem
Herrn. Die 'conditio humana' liegt darin, so die Autorin Lacan
folgend, daß das Subjekt (man beachte das Neutrum!) sich als
Antwort auf das Begehren des Anderen konstituiert und dabei die Antwort
dieses Anderen "ausstehen läßt", denn der Ort des Anderen
ist leer (221).
Anstelle des hysterischen Klagens erkennt Ariadne, in
Nietzsches Deutung, die Vergeblichkeit ihrer Frage "Was willst du?
Sprich!", das heißt sie verläßt die Suche nach einem
festen 'seienden' Rahmen und wird zur Liebeskomplizin des Dionysos. Ob
bei Nietzsche, Freud oder Lacan: das Parergonale und
Hintergründige bewirkt eine Reorganisation der vom philosophischen
Subjekt abgesteckten Grenzen, der "Figur". Das Denken (wie die Sprache)
wird zum Symptom des Anderen. Wir sind, wenn wir träumen, und im
Traum, "wo Es war", "soll Ich werden" (Freud), wie Lacan Freuds Diktum
umdeutet, um so das Ich an die Schwelle eines Übergangs zu
bringen, indem es das Wirken des Anderen anerkennt und sich als
grundlose "Zwiefalt" bekennt. Anstatt den 'chorismós'
metaphysische zu überbrücken, wird es (wohl immer innerhalb
aber zugleich jenseits seiner geschlechtlichen 'Ein-schreibung') als
Schwelle zum Offenen bloßgelegt. Von hier aus deutet Nettling
Wittgensteins Ansetzung des Subjekts als eine "Grenze der Welt" im
"Tractatus" als eine Bewegung, die freilich im Schweigen mündet.
Lacan seinerseits sucht einen Übergang, indem er dem Symbolischen
eine imaginäre Fähigkeit zuspricht das "Reale" fiktional "als
ob anwesend", auszudrücken. Diese Umkehrung der Grenzen von
Außen her läßt die Autorin auch bei der
Spätphilosophie Merleau-Pontys zum Vorschein kommen. Dabei wird
die Welt nicht aus der konstituierenden Perspektive eines Sehenden,
sondern umgekehrt, der Sehende ist primär der Gesehene, das
heißt der in und mit einer Welt Verflochtene, Inkarnierte. Das
"Fleisch" ("chair") der Dinge wird zum Ort des Übergangs eine
"uneigentlichen" Denkens (246). Die symbolische Abmessung der Welt
nimmt ihren Ausgang im Sich-Zeigen der Dinge. In ihrer letzten
"Passage" kommt die Autorin zur Erörterung jener 'epoché',
das heißt jener Abgrenzung der abendländischen Ontologie,
die das Sein von der Anwesenheit her abmißt und so auf das
Anwesende reduziert. Heideggers "ontologische Differenz" hebt die
differierende Spanne eines Geschehens, dessen Dimensionen und
Übergänge eingeebnet waren, hervor. Das Denken der Differenz,
in seinen französischen Spielarten (Lyotard, Derrida)
radikalisiert die Spanne des Aufschubs und die Abkünftigkeit des
'logos'.
Wenn man and die Fülle von Literatur der letzten Jahre zum Thema
Geschlechterdifferenz denkt, dann scheint mir dieser wohl vorbildliche
Versuch viel Sprengkraft zu enthalten, sowohl für 'sie' als auch
für 'ihn'.
Letzte
Änderung: 2. Juli 2017
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