Vor etwa hundertfünfzig Jahren wurde die Technik
der Photographie
(war es Talbot? war es Daguerre?) erfunden. Inzwischen haben sich die
Verhältnisse umgedreht: Nicht das Bild der Außenwelt soll in
der camera obscura abgebildet
weren, sondern die Welt wird zum Projektionsziel dieser Ablichtungen,
sie wird zur camera lucida
(1).
Mit anderen Worten, während es bei der Photographie um die Frage
ging, wie man bewegliche Bilder festmachen kann, geht es nämlich
heute darum, wie die Bewegungen der Gegenstände durch die
Bewegungen der Bilder u.U. zu übertreffen sind.
Talbots Frage war, wie man Licht auf dem Papier festhalten könnte.
Wir wollen alles Photographierte, alles "Imaginäre" und
"Symbolische" (J. Lacan), als Licht verfügbar machen. Die
Informationstechnologien verwandeln die Welt in ein photographisches
Negativ oder ein Zeichen, dessen Referent mit diesem Negativ
zusammenfällt und deshalb zugleich immer abwesend bleibt.
Die Welt als photographisches Negativ bleibt, trotz der metaphysischen
Eigenschaften wie Verfügbarkeit, Ersetzbarkeit, Bestellbarkeit und
Aktualität, un(be)greibar. Sie bricht in die camera obscura unseres
Fernsehzimmers als das chaotische Reich des Zufälligen, wie ein
Geisterhaufen in die bisher sichere Bastion der dialektischen
Verschränkung von Sein und Bewußtsein ein. Dieser Einbruch,
wodurch alle bisherigen Raum-Zeit-Ordnungen verletzt werden, findet im
Weltmaßstab statt. Die so entstandene mediale Welt ist kein in
sich geschlossener, am Urbild einer "idealen
Kommunikationsgemeinschaft" (J. Habermas, K-O. Apel) umstrukturierter
rationaler Diskurs, sondern sie zeigt sich in ihrem
vorübergehenden und
kontingenten Charakter.
Nicht der angeblich zeitlose menschliche Geist, sondern die
Pluralität und Unreinheit der 'Geister' mit ihren potentiellen und
durch die Informationstechnologien potenzierbaren Differenzen stehen
jetzt diesem Einbruch des maßlosen Scheins ebenbürtig
gegenüber. Das 19. Jahrhundert war die Epoche der Geistes- das
20. Jahrhundert die der Geisterwissenschaften (2). Was dabei einbricht
is
nämlich die Vielfalt der Kulturen und Sprachen in Form von
Nachrichten, also von notwendigerweise bruchstückhaft bleibenden
Erzählungen von Liebe und Tod, Untergang und Wiederaufbau, von
Drohungen und Freundschaftszeichen, von Verschleierungen und Glasnost.
Nur ein narzistischer europäischer Geist kann einen solchen
Einbruch allein mit den Kategorien der Aufklärung und ihrer
angeblich reinen Vernunft zu begründen und zu beherrschen
versuchen. Was sich beim Zusammenbruch der Moderne vollzieht, ist die
Entdeckung Europas im Sinne eines mythischen Kontinents, dessen
Geschichte ("verba et erga") sich in unentrinnbarer und meistens
grausamer Weise mit den Mythen der heutigen Eroberer verwoben ist.
Die Stimmung, die diesem chaotischen Raum des Medialen
zugrundeliegt, ist der Zynismus. Denn die Medien suchen ständig,
gleichzeitig und überall einen universellen Empfänger, den
sie angeblich kennen, den es aber nicht gibt. Eine solche zynische
Stimmung läßt die Fragen nach Wahrheit, Macht und Begehren
offen, die erst im Augenblick ihrer Aneignung, im Ereignis also, zu
Frage einer singulären und eigentlichen Lebensform werden
können.
Das "Ereignis", so Heidegger im Le Thor-Protokoll vom 11. September
1969, "läßt anwesen" während das (Informations-)
"Gestell" "gleichsam das photographische Negativ des Ereignisses" ist
(3).
Dabei versucht Heidegger den Begriff des "Ereignisses" anhand der
französischen Sprache zu verdeutlichen und bestreitet die
Möglichkeit, es "mit den Begriffen von Sein und Geschichte des
Seins zu denken; ebensowenig mit Hilfe des Griechischen (über das vielmehr gerade
"hinauszugehen" ist)" (meine Hervorhebung, RC) zu denken. Er
findet das französische Wort "avènement" (4) "gänzlich
ungeeignet" (5), und übersetzt "Ereignis" als "appropriement". Von
der
Kategorie des "Adventlichen", wie sie Ott bei Heidegger
hineininterpretiert (6) und von einem "diskriminierenden Impuls
gegenüber anderen Sprachen" (Farías), kann also keine Rede
sein.
Es geht stattdessen darum Mensch und Welt in einen "sich schwingenden
Bereich" zu bringen, wodurch das "Ge-Stell" aus dem "Ereignis"
"verwunden" wird (7). Das "Ereignis" ist nicht etwas, was sich
metaphysisch hinter dem
"Ge-Stell" verbirgt, so daß etwa der "Schleier" des "Ge-Stells"
zerrissen werden müßte, um hinter der Geisterwelt der
Informationstechnologien die wahre Welt, etwa die der europäischen
Vernunft und Sittlichkeit des 18. Jahrhunderts, zu 'ent-decken'.
Die monomanische Suche nach dem
wahren Gesicht des Menschen, das sich angeblich hinter den vielen
ex- und impressionistischen, vor allem aber hinter den surrealistischen
Darstellungen der Informationstechnologien, wie etwa hinter den
surrealistischen Bildern eines Salvador Dalí, verbergen soll,
ist nichts anderes als der psychopathische Wunsch nach kategorialer
Identität.
Es sind aber gerade die Informationstechnologien, die
mit ihrem geisterhaften Dasein, mit dem ständigen
Überschuß ihrer Erscheinungen (8), den nachträglichen
Charakter unserer nicht nur europäisch- abendländischen
Deutungen in der camera obscura
unserer Fernsehzimmer zum Vorschein kommen lassen. Das photographische
Positiv des "Ge-Stells" ist nicht etwas, was hinter
dem "Ge-Stell" wäre oder nach ihm käme. Seine Umwandlung ist
eben kein "avènement", sondern ein "appropriement" aus dem
Unterschied des jeweils Eigenen, wodurch erst das photographische
Negativ als ein solches gesehen werden kann. Was aber die neuzeitliche
Subjektivität darin sieht (Verfügbarkeit, Ersetzbarkeit,
Bestellbarkeit, Aktualität), das sieht sie eben nicht als einen
photographischen Negativ. Das "Ge-Stell" als einen photographischen
Negativ des "Ereignisses" zu sehen, bedeutet keine düstere Vision,
sondern dieses Negativ ist dann der Schatten des Anderen (9). Dieses
Andere, das dem Menschen durch die Durchlässigkeit des
photographischen Negativs erscheint, ist kein Bild, keine Idee seines
Selbst, sondern die Grundlosigkeit des Spiels des An- und Abwesens
unserer Existenz.
"Nichts ist weiter von Hegel und allem Idealismus
entfernt" (9), d.h. nichts ist abwegiger, als den
Informationstechnologien
die starken Eigenschaften der neuzeitlichen Vernunft zusprechen zu
wollen, um sie dann, etwa mit Hilfe einer
neuzeitlich-europäisch-aufklärerischen Medienethik, in den
Griff eines positiven und universellen Menschenbildes zu bekommen.
Hier, wie auch im Falle des individuellen Subjekts, soll "das Es" nicht
durch ein mächtiges (Über) Ich kompensiert werden,
sondern "Wo Es war, soll Ich werden" (Freud) (10), d.h. das Subjekt
läßt sich durch ein schwingendes ereignishaftes
Verhältnis zu jener Dimension bestimmen, wenn es seine
metaphysischen Machtprojektionen als Negativ durchschaut und
hermeneutisch wirken kann. Dann
nämlich werden Verfügbarkeit, Ersetztbarkeit, Bestellbarkeit
und Aktualität nicht mehr zum Phantom des neuzeitlichen Ego,
sondern zur Ankündigung seiner Ohnmacht. Dabei kündigt (auch
im Sinne von: 'einen Vertrag kündigen') das Subjekt zugleich die
Herrschaft des Anwesenden, indem es sich nicht mehr als dessen Grund
hergibt und dabei angibt.
Das "Ge-Stell" ist dann nicht das sinnliche Scheinen des
europäischen Geistes, sondern die Ankündigung des Scheiterns
des neuezeitlichen Herrschaftsanspruchs der Subjektivität
über das unendliche Potential der Simulation. Hinter dem Negativ
des (Informations-) "Ge-Stells" verbirgt sich keine positive imago mundi oder hominis, keine Weltanschauung und
kein Menschenbild, sondern das "Ge-Stell" selbst ist die technische
Entsprechung des eigenen, singulären, grundlosen Existierens und
öffnet somit die Möglichkeit, das faktische Sichgeben von
Mensch und Welt geschichtlich-geschicklich in der Vielfalt von
Lebensformen und Lebensnormen neu zu bergen. Die
Informationstechnologien als photographisches Negativ des "Ereignisses"
zu sehen, vermögen wir aber erst, wenn wir uns im grundlosen
Ereignis unseres "Daß-seins" enteignen lassen.
Heideggers Begriff der "Lichtung" weist auf jene Dimension hin, wo das
Spiel von Dunkel und Licht, von Grundlosigkeit und Begründung, von
Aufklärung und Wahnsinn, sich erst entfachen kann. Wenn mancher
Ritter der Aufklärung mit einer 'rationalen' Therapie gegen das
Irrationale zu kämpfen meint, dann erinnert das an den Versuch
während der Französischen Revolution durch eine
äußerliche Gestaltung von psychiatrischen Anstalten, die
'Verrückten' so von Außen zu beeinflußen, daß
sie zu Vernunft kommen würden. Natürlich endeten die meisten
Entlassenen unter der Guillotine.