Die Begriffe
"Moderne/Postmoderne" besitzen heute eine
magnetische Anziehungskraft in den verschiedenen
Bereichen: von der Architektur über die Literatur
bis hin zur Philosophie. Unter dem Titel:
"Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels"
(Reinbek bei Hamburg 1986) haben Andrea Huyssen und
Klaus R. Scherpe (Hg.) die Wirksamkeit dieses
Begriffs mit seinen vielfältigen Auslegungen in den
Künsten dokumentiert. Die philosophische Diskussion
um die Postmoderne hatte 1985 in der Bundesrepublik
Deutschland zwei Höhepunkte: eine von der
Civitas-Gesellschaft in Hannover veranstaltete
Tagung und die Veröffentlichung der Habermaschen
Vorlesungen: "Der philosophische Diskurs der
Moderne" (Frankfurt a.M. 1985). Die Tagung brachte
viel Strittiges (und Unbedeutendes) hervor: Ob die
Moderne mit Descartes beginnen soll, ob wir, nach
Odo Marquard, noch in der Moderne leben, ob man
nicht einseitig alles Gute, Schöne und Wahre der
Moderne zuschiebt (Robert Spaemann), ob nicht die
Moderne, wohl aber die Modernisierung fragwürdig ist
(Claus Offe), und immer wieder die Frage, ob der
(Stil-)Pluralismus (etwa in der Baukunst) eine
typische Eigenschaft der Postmoderne sei bzw. ob zur
Aufklärung nicht notwendigerweise Kritik und Revolte
gehören.
Die einen halten an der Moderne fest, die anderen
wollen sie "überwinden". Von denjenigen, die sie
festhalten wollen, wird die Postmoderne als eine
"romantische" Bewegung angesehen, eine
intellektuelle Mode, ein Konstrukt..., als ob die
Moderne keins wäre! Ein solches Konstrukt entwirft
Habermas in den erwähnten Vorlesungen. In deren
Zentrum stehen Nietzsche und Heidegger. In bezug auf
Nietzsche genügt es zu sagen, daß Habermas ihm einen
"dionysischen Messianismus" bescheinigt, womit
Nietzsche sich außerhalb der (Dialektik) der
Aufklärung stelle. Habermas scheint, gelinde gesagt,
von der Nietzsche-Forschung der letzten Jahre keine
Kenntnis genommen zu haben. Vor diesem Hintergrund
darf es natürlich nicht wundern, daß Heidegger
allerlei "Schlimmes" (angefangen mit der Überschrift
"Die metaphysische Unterwanderung des okzidentalen
Rationalismus: Heidegger") unterstellt wird. Ein
Teufel wird an die Wand gemalt, woran inzwischen
(auch in Deutschland) nur noch einige strenggläubige
Rationalisten glauben. Hier einige Kostproben:
Heidegger setze "die Philosophie wieder in die
Herrschaftsposition ein,, aus der sie durch die
Kritik der Junghegelianer vertrieben worden war"
(158), er "nivelliert die Vernunft zum Verstand"
(160), "Nietzsches Messianismus" verkehre sich bei
Heidegger "in die apokalyptische Erwartung des
katastrophischen Eintritts des Neuen" (162), in der
Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften
nach Hegel nimmt er nichts anderes wahr "als ein
monotones Durchbuchstabieren der ontologischen
Vor-Urteile der Subjektphilosophie", wodurch er
zeigt, daß er "noch in Anlehnung, den
Problemstellungen verhaftet bleibt, die ihm die
Subjektphilosophie in Gestalt der Husserlschen
Phänomenologie vorgegeben hatte" (165). Wie Husserl
soll Heidegger "die Welt als Korrelat des
erkennenden Subjekts" bestimmen und an den "Fundamentalismus
der Bewußtseinsphilosophie gebunden" bleiben (166).
Er soll schließlich (natürlich) seine Adressaten "in
den Umgang mit pseudosakralen Mächten" einstimmen
(168). Demgegenüber mutet die Darstellung der
"Existentialhermeneutik" von "Sein und Zeit"
(169-176) geradezu sachlich an, was aber
anschließend (176-183) mißdeutet wird, etwa mit
Bemerkungen, daß Heidegger das "Wer" des Daseins
"auf ein Subjekt zurückführt", oder daß er die
"Strukturen des lebensweltlichen Hintergrundes" als
Strukturen einer "durchschnittlichen
Alltagsexistenz" "entwertet", oder daß "das
solipsistisch angesetzte Dasein" den Platz der
transzendentalen Subjektivität "besetzt", oder daß
in den Schriften "Was ist Metaphysik?" und "Vom
Wesen des Grundes" "die Welt als Prozeß" "aus der
Subjektivität des Selbstbehauptungswillens"
begriffen wird usw. Richtig ist, daß Heidegger auf
den Anspruch auf "Selbst-
und Letztbegründung"
verzichtet,
falsch dagegen, daß er das "zugunsten eines
kontingenten Geschehens, dem das Dasein ausgeliefert
ist", tut (181). Heidegger soll "die propositionale
Wahrheit" entwurzeln und "das diskursive Denken"
entwerten, er soll die "welterschließende Sprache"
hypostasieren, das Seiende soll sich, nach
Heidegger, "von beliebigen Zugriffen gleichermaßen
widerstandslos öffnen" lassen usw. usw. Dieses einem
Denker vom Range Habermas wohl kaum zuzutrauende
Zerrbild endet mit einer politischen Aufklärung (die
als "Vermutung" verkauft wird) und diese wiederum
mit dem lapidaren Satz, daß Heidegger "den
Problemstellungen der Subjektphilosophie verhaftet"
bleibe. Man kann hier nur Vermutungen über Habermas'
eigene Motive für diese wahrhaftig unverdaubare
Charakterisierung einer Kernfigur des
"philosophischen Diskurses der Moderne" anstellen.
Demgegenüber fällt ihm nicht schwer, sich als Retter
der Moderne, d.h. der Tradition der Vernunft in der
Form des "kommunikativen Handelns", darzustellen, um
sie vor der "Selbstdestruktion" (379) zu bewahren!
Vor diesem Hintergrund gewinnen die stilistisch
glänzend und begrifflich transparent geschriebenen
"Essays" von Gianni Vattimo, einem der bekanntesten
Nietzsche- und Heidegger-Forscher Italiens, einen
besonderen Wert.
Um dem des Italienischen unkundigen Leser einen
Vorgeschmack zu geben, soll hier eine ausführliche
Darstellung des Inhalts, zuungunsten der kritischen
Bewertung und Diskussion, geboten werden.
Zunächst zum "Äußeren". Das Buch ist eine Sammlung
von Aufsätzen aus dem Jahren 1980-1984, die das im
Titel angedeutete Thema: "Das Ende der Moderne.
Nihilismus und Hermeneutik in der postmodernen
Kultur" umkreisen. Gianni Vattimo (50), Professor am
Philosophischen Institut der Turiner Universität,
veröffentlichte 1980 einen Essay-Band mit dem Titel:
"Abenteuer der Differenz. Was heißt Denken nach
Nietzsche und Heidegger?" (Mailand 1980). Seine
früheren Arbeiten galten Aristoteles, Schleiermacher
sowie Heidegger und Nietzsche. Das hier zu
besprechende Buch enthält drei Teile, die folgende
Überschriften tragen: Nihilismus als Schicksal; Die
Wahrheit der Kunst; Das Ende der Moderne.
Die Grundfrage des Werks, nämlich die nach dem Bezug
von "Moderne" und "Postmoderne", gewinnt erst ihre
philosophische Tiefe und Schärfe, so der Verfasser
in der Einleitung, wenn man sie in Zusammenhang mit
dem Nietzscheschen Gedanken der "Ewigen Wiederkehr"
sowie mit der Heideggerschen Frage nach der
"Verwindung" der Metaphysik betrachtet. Beide
Ansätze unterscheiden sich von der bloßen
"Kulturkritik" der Jahrhundertwende, und beide
können verstanden werden, so die Hauptthese des
Verfassers, als "positive" Momente für eine
philosophische Rekonstruktion und nicht etwa, wie
Habermas es tut, als Symptome der Dekadenz. Alles
dreht sich dabei um die Deutung des "Post-". Der
Gedanke des Fortschritts, also der Entwicklung durch
Kritik und Aufklärung in den Wissenschaften bzw.
durch die Verwirklichung der Freiheit in der
Geschichte, gehört zum Kern der Moderne. Fortschritt
ist aber wiederum nur möglich, wenn die jeweilige
Entwicklung von
Grund auf angeeignet wird. Nietzsche und
Heidegger wollen vom Gedanken des Grundes als
Bestimmung des Denkens Abstand nehmen. Indem sie
aber das tun, fragt sich mit Recht der Verfasser,
gehören sie nicht eigentlich zur Moderne? Mit
anderen Worten: Ist nicht jeder Versuch eines
"Fort-schritts" aus der Moderne
selbstwidersprüchlich? Das wäre der Fall, wenn das
"Post-" als Hinweis auf etwas Neues aufgefaßt wäre
und nicht etwa als Auflösung dieser Kategorie bzw.
als Erfahrung vom "Ende der Geschichte". Letzteres
klingt zugleich sehr real, wenn man etwa an die
Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe denkt. Für
den Verfasser steht aber weniger dieser Zusammenhang
als vielmehr die Frage nach der Auflösung der
Geschichte als ein einheitlicher Prozeß bzw. die
Entstehung einer Art unhistorischer Immobilität im
Mittelpunkt. Die "Post-Moderne" will sich also als
"post-historisch" verstanden wissen: Das neue,
insbesondere das technisch Neue, wird zur Routine,
der Mensch sitzt, unbeweglich, vor dem Monitor
(Fernseher, Terminal usw.) und "erlebt" die dort
"ein-gebildete" Realität. Nicht mehr die Geschichte,
sondern ihre Auflösung in Geschichten prägt das
Bewußtsein. Diese Zerstückelung erlaubt auch, dank
der Perfektion der modernen Informationstechnik,
ihre Speicherung und Übertragung in einer für die
Moderne (das Zeitalter Gutenbergs) unvorstellbaren
Weise. Im Gegensatz zur typischen "Kulturkritik"
sehen, so Vattimo, Nietzsche und Heidegger diese
Entwicklung als eine neue Möglichkeit menschlichen
Existierens und, wie der Verfasser betont, als eine
positive Chance!
Nietzsches Wort vom aktiven Nihilismus und
Heideggers "Verwindung" der Metaphysik sind
deutliche Zeichen des Versuchs, mit der Postmoderne
im Sinne eines neuen Erfahrungsraumes Ernst zu
machen. Es ist insbesondere die Kunst, wie der
Verfasser in den folgenden Kapiteln erläutert, die
uns die Erfahrung der Eröffnung eines neuen
Möglichkeitsgefüges, als eine Wahrheitserfahrung,
vermittelt.
Vattimos Analysen beginnen, nach dieser Einleitung,
mit der Behandlung des "Nihilismus als Schicksal" (erster Teil).
Nietzsches These vom "Tod Gottes" bzw. von der
Entwertung der obersten Werte und Heideggers Deutung
der Auflösung des Seins in der Welterfahrung stimmen
darin überein, daß das im Besitz seines Grundes
wägende Subjekt sich auf kein Wahrheitsimperativ
mehr berufen kann. Die Entgöttlichung bedeutet also
zugleich eine Entmenschlichung im psychoanalytischen
Sinne einer "Ent-Ich-ung", d.h. eine Infragestellung
des idealen Ichs aufgrund der "Entdeckung" des
Symbolischen (J. Lacan). Der Nihilismus als Verlust
des Fundaments kann also auf der einen Seite als
"Gefahr der Verselbständigung des Subjekts in der
Rigidität des Imaginären bzw. in dem Versuch, "neue"
Werte zu errichten, gedeutet werden. Während auf der
anderen Seite die Möglichkeit besteht, ihn als
Chance für eine "entwirklichte" bzw. spielerische
individuelle und kollektive Welterfahrung zu
verstehen. In der "Krise des Humanismus" (Kap. II)
zeigt Vattimo, daß gerade die Erfahrung des "Todes
Gottes" eine solche Krise mit sich zieht, da der
Gott (der Metaphysik) die "Maske" des sich selbst
vergewissernden, seines Grundes gesicherten Menschen
war. Die Krise des Humanismus, etwa in der Gestalt
der Kulturkritik der Technik, zeichnete sich
vielfach durch den Versuch aus, menschliche
"Eigenschaften" methodisch abzusichern.
Wenn man aber, so Vattimo, die Technik, wie
Heidegger sie deutet, als Erfüllung der Metaphysik
auffaßt, dann bedeutet ihre mögliche "Verwindung"
weder ihre Verdammung noch die Errichtung eines
abgesicherten (!) (Subjekt-) Bereiches, sondern die
Einsicht in die Art von metaphysischer Erfahrung,
die die Technik uns vermittelt, und die Möglichkeit
der Subjektivität (!), eine andere Stimme zu hören
als die des Fundaments. Heideggers "Verwindung"
setzt sozusagen das Subjekt "auf Diät": anstelle
eines "sogetto forte" tritt ein "sogetto" ein, das
fähig ist, "seine An- und Abwesenheit in den Fäden
einer durch den empfindlichen
Kommunikationsorganismus verwandelten Gesellschaft"
aufzulösen.
Der zweite Teil,
"Die Wahrheit der Kunst", thematisiert die
"Zwei-Deutigkeit" des Nihilismus in der Erfahrung
der Kunst, die durch die "Medialisierung" nicht bloß
eine Auflösung, im Sinne eines Absterbens der Kunst,
sondern eher als die Art und Weise wie die Kunst
(als Utopie, Kitsch oder Schweigen) ihre bisherigen
metaphysischen Dimensionen aufgibt – und dabei einen
neuen Erfahrungshorizont eröffnet. In diesem Sinne,
sagt der Autor, Heidegger folgend, wird die Kunst zu
einem Wahrheits- und Entbergungsgeschehen. Sie
zeigt, in der Figur der Zerbrechlichkeit, daß
Wahrheit nicht nur (metaphysisch) als eine stabile
Struktur, sondern als Ereignis verstanden werden muß,
d.h. daß die Klarheit und Evidenz metaphysischer
Prinzipien nur einseitig die im Halbdunkel wesenden
Bezüge der Sterblichen zu den wechselnden
Fundamenten zur Sprache bringt. Nicht nur das
dichterische Wort (Kap. IV), sondern auch das
ornamentale Mahmal (Kap. V) zeugen von dieser
Zerbrechlichkeit. Was dabei "ins Werk gesetzt wird",
sagt Vattimo im Anscluß an Heidegger, ist nicht bloß
der Konflikt zwischen einer entborgenen. bzw.
thematisierten und einer noch nicht thematisierten
(aber durchaus thematisierbaren) Welt, sondern der
bleibende "Streit" zwischen dem sich Ereignenden
(bei Heidegger: "Welt") und dem sich dabei immer
Entziehenden (bei Heidegger: "Erde").
Indem das Kunstwerk die Grundbezüge neu ordnet bzw.
indem sie entbirgt,
vollzieht es eine, wie Vattimo in Anschluß an Th. S.
Kuhn sagt, "künstlerische Revolution" bzw. einem
"Paradigmenwechsel" (Kap. VI). Hier knüpft der
Verfasser an Nietzsches Gedanken vom positiven
Nihilismus an, der in der Kunst die zentrale "Macht"
mitten in der Moderne, d.h. in der Zeit des
Fortschrittsglaubens und der Säkularisation, steht.
Der dritte Teil
der Untersuchungen, "Das Ende der Moderne", ist vor
allem der Rolle der Hermeneutik bei der "Verwindung"
des Nihilismus gewidmet. Dabei setzt sich Vattimo
zunächst mit H.-G. Gadamer, anschließend mit R.
Rorty und schließlich mit Heidegger auseinander.
Zunächst zeigt er, daß Gadamers Ästhetik eine
Umdeutung der von Heidegger thematisierten Erfahrung
des Verlustes eines Fundaments bedeutet. In der Tat,
die Hermeneutik des Daseins und später das
"An-denken" dienen nicht dazu, die Ursprünge besser
zu rekonstruieren. Nicht die historischen Horizonte
selbst (und ihre Wechselhaftigkeit) stehen im
Vordergrund, sondern eben die Erfahrung des
"Ab-Grundes", d.h. eines "schwachen", sich
gewissermaßen verflüchtigenden, in das Nichts sich
auflösenden "Seins" oder, mit anderen Worten, die
Erfahrung der zwischen Geburt und Tod sich
abspielenden menschlichen Sterblichkeit. Gadamer
will, gegenüber dem Neukantianismus mit seiner
Betonung der Rolle des Beobachters und seiner
"Erlebnisse", die Wahrheitsdimension (die die
Wissenschaft für sich gepachtet zu haben glaubt)
auch für die Kunstwerke gelten lassen. Das Kunstwerk
spricht geschichtlich, und so ist auch eine
geschichtliche Erfahrung diejenige, die der
Beobachter mit ihm macht, wodurch beide (!) sich
verändern. Bekanntlich nennt Gadamer ein solches
Geschehen "Wirkungsgeschichte". Nach Vattimo betont
aber Heidegger gerade die Punktualität (den "Sprung
in den Abgrund"...) der ästhetischen Erfahrung,
ihren ephemeren Charakter, ihre Diskontinuität, die
ihrerseits aus dem Bezug des Kunstwerkes zu ihrem
von ihm nicht beleuchteten "Grund" (zum "Ab-Grund")
also, bzw. zur "Erde") entspringt. Ein solches
"Erlebnis" wird dadurch nicht mehr durch die
metaphysische Struktur von Subjekt und Objekt
deutbar bzw. ist kein "romantisches" Erlebnis.
In Anschluß an Gadamer (Kap. VIII) erörtert Vattimo
die "Urbanisierung der Heideggerschen Provinz"
(Habermas) im Sinne einer Ausarbeitung der
Beziehungen zwischen Wahrheit und Sprache. Dabei
betont er den Unterschied zwischen Wahrheit als
methodische Verifizierbarkeit nach öffentliche und
kontrollierbaren Kriterien und Wahrheit im Sinne der
Zugehörigkeit zu einem lebendigen gemeinschaftlichen
Horizont bzw. zu einem lebendigen öffentlichen und
ethischen Logos. Dieser zweite "rhetorische" Sinn
von Wahrheit bildet den notwengiden Hintergrund (das
"Vorverständnis" der ersten, wobei die Möglichkeit
des gemeinsamen "epochalen" Irrens nicht
ausgeschlossen werden kann.
Der Verfasser betont aber die Notwendigkeit, jene
"existenzialen" "topoi" nicht aus dem Auge zu
verlieren (etwa "Eigentlichkeit", "Vorlaufen zum
Tode" usw.), die, beim "konfliktualen"
Charakter des Kunstwerkes, eine kritische Funktion
gegenüber dem "Gemeinsinn" ausüben sollen. Unter dem
Titel "Hemeneutik und Anthropologie" (Kap. IX)
behandelt Vattimo das anthropologische Grundproblem
des Verstehens von Fremdkulturen. Nicht Texte,
sondern ethnographische "Kontexte" bilden den
hermeneutischen Gegenstand dieser Wissenschaft. R.
Rorty faßt die ethnographische Hermeneutik als
Gegenstück zu der von ihm kritisierten Epistemologie
auf: Während diese alle Unterschiede zwischen den
Diskursen ebnet, geht die Hermeneutik von der
Pluralität aus und sucht lediglich sich die
"Fremdsprache" anzueignen. In der Sprache Th. S.
Kuhns: Der epistemologische Diskurs ist der der
"normalen Wissenschaft", die Hermeneutik ist
wesentlich "revolutionär". Dennoch, so der Autor,
scheint zum Kern der (Heideggerschen) Hermeneutik
sowohl die "Zwiefalt" (etwa zwischen "Sein" und
"Seiendem") als auch die "Selbigkeit" zu gehören.
Unsere gegenwärtige Welt steht eindeutig (!) unter
dem Vorzeichen der "Verwestlichung", die alle
Unterschiede im vorhinein zu ebnen scheint. In
dieser Situation entschwindet das von der
(hermeneutischen) Anthropologie gesuchte "Andere"...
Die Hermeneutik wird "gezwungen", über "das Selbe"
zu denken. Die Verwestlichung der Welt ist nicht
einfach eine totale Homologisierung in eintönige
technologischen Schemen ─ sondern eine riesige
Sammlung von überlebenden Formen, also etwas
Hybrides. Die Alterität wird "diffus". Alles ist
gewissermaßen "kontaminiert". Es ist gerade diese Kontaminierung,
betont der Verfasser, die den einzigen Ausweg bzw.
die einzige Chance
bildet, um eine Metaphysik der totalen Organisation,
aber auch eine bloße "Theatralisierung" vergangener
Formen (hermeneutisch) zu "verwinden".
Auf diesen Gedanken kommt Vattimo im letzten Kapitel
seines Buches zurück. Der Titel: "Nihilismus und
Postmoderne in der Philosophie" erinnert an die
anfangs erörterten Thesen über die "Verwindung" des
Nihilismus. Für Nietzsche sind die "Epigonen", d.h.
die Menschen am Ende der Moderne, nicht mehr in der
Lage, etwas Neues zu schaffen, sie können bloß die
Kostüme der Vergangenheit nutzen. Als Ausweg sucht
Nietzsche zunächst die Kunst und die Religion (etwas
zur Zeit der Zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung",
1874), während später (in "Menschliches,
Allzumenschliches", 1878) die nihilistische
Erfahrung des "Todes Gottes" bzw. der
Auflösung der obersten Werte leitend wird. Gegenüber
der modernen Gleichung: Sein = Novum stellt
Nietzsche seine Formel von der "Ewigen Wiederkehr
des Gleichen" auf. Das ´Denken sucht dabei nicht
mehr den Ursprung, sondern gewinnt Sinn für "die nächste Realität".
Die Philosophie der "Morgenröte" begreift sich
auf "Irr-Wegen", wobei der "Genesende" gelernt hat,
auf die "ursprüngliche Wahrheit" zu verzichten: Es
ist alles da, was die Metaphysik hervorgebracht hat,
aber... es schaut, vom Standpunkt des "buon
temperamento", ganz anders aus! Eine solche
"Genesung" stellt ebenfalls Heideggers "Verwindung
der Metaphysik" dar, deren gegenwärtige Ausformung
Heidegger als das "Ge-Stell" kennzeichnet. Die
"nihilistische" Erfahrung der Grundlosigkeit erlaubt
es, es in seiner Offenheit, d.h. als "Geschick" und
als Chance, aufzufassen.
Vattimo kennzeichnet das postmoderne philosophische
Denken als "Denken des Genusses" ("pensiero della
fruizione"), der "Kontaminierung" ("pensiero della
contaminazione") und des "Ge-Stells". Dem ersten
Hinweis entspricht eine Ethik der "Güter" bzw. des
ästhetischen "Wiedererlebens", ohne Bezug auf
"Ziele" und "Fortschritt"; das Gegenteil also zu
einer Ethik der Imperative. Der zweite Hinweis
drückt die Möglichkeit des hermeneutischen Denkens
aus, sich nicht wie die Metaphysik "stark" bzw.
begründend auszugeben, sondern sich mit allen Formen
des "Logos" zu verbinden und als "schwache" Wahrheit
aufzutreten. Das Denken des "Ge-Stells" schließlich
bedeutet, daß die Hermeneutik keinen ausschließlich
"humanistischen" Bezug zur modernen Technik hat,
sondern daß sie dabei "verwindend" wirkt, indem sie
etwa den Bezug zwischen der Technologie und den
abendländischen Traditionen herstellt, so daß das
"Ge-Stell" auch (!) seinen metaphysischen Anspruch
verliert und zu "schwingen" beginnt: seine klaren
Umrisse werden unscharf. In dieser "schwingenden"
Welt der totalen Vermittlung unserer Erfahrung, in
der wir uns bereits befinden, wird "die Ontologie tatsächlich
hermeneutisch, und die metaphysischen Begriffe von
Subjekt und Objekt, von Realität und Wahrheit-Grund
verlieren an Gehalt". Vattimo nennt eine solche
Ontologie eine "schwache" Ontologie. Der Anfang der
Bescheidenheit?
Ich möchte dies ausführliche Darstellung mit drei
Bemerkungen beschließen. Die erste bezieht sich auf
die anfangs erörterte Deutung der Moderne in der
Bundesrepublik mit der pauschalierenden
Kennzeichnung der Postmoderne als "Romantik" sowie
mit der Habermasschen klischeeartigen Einordnung von
Nietzsche und Heidegger in vorgefertigte Schubladen:
Habermas kämpft gegen Windmühlen, wo in Wahrheit
sich überall schon das "Ge-Stell" ausgebreitet hat.
Meine zweite Bemerkung betrifft die Frage nach dem
"Ende der Geschichte". Es wäre, so glaube ich,
prägnanter und präziser zu sagen, daß die
Hermeneutik zwischen der Vorstellung von Geschichte
als Fortschritt und dem Immobilismus der
Geschichtslosigkeit uns die des Geschichtlichen
lehrt, wodurch wir also die Entstehung des "Neuen"
nicht von einem "fortschreitenden" Prozeß abhängig
machen bzw. die Ereignisse als Ereignisse vollziehen können.
So kann auch die Technik, lautet schließlich meine
dritte Bemerkung, in ihrer metaphysischen Form als
"Ge-Stell" erst "verwunden" werden, wenn wir lernen,
sie als Ereignis zu sehen, d.h. wenn wir ihre
"glänzenden" Leistungen gewissermaßen im
hermeneutischen "chiaroscuro" dämpfen, indem wir sie
also in ein unerschöpfliches Kunstwerk verwandeln.
Es erübrigt sich fast zu sagen, daß Vattimos Buch
dringend ins Deutsche übersetzt und (nicht nur!) von
deutschen Philosophen "gelesen", d.h. rezipiert
werden sollte.
Letzte Änderung: 16.
November 2022