DAS ENDE DER MODERNE


Rafael Capurro
  

 

 
 
Rezension von Gianni Vattimo: La fine della modernità, Garzanti Ed., Mailand 1988, 189 S. Erschienen in: Philosophisches Jahrbuch, 94. Jg. 1987, 205-209. Vgl. Gianni Vattimo: Das Ende der Moderne, Stuttgart: Reclam 1990, aus dem Italienischen übersetzt und herausgegeben von Rafael Capurro. Nachwort hier. Über G. Vattimo siehe hier.




Die Begriffe "Moderne/Postmoderne" besitzen heute eine magnetische Anziehungskraft in den verschiedenen Bereichen: von der Architektur über die Literatur bis hin zur Philosophie. Unter dem Titel: "Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels" (Reinbek bei Hamburg 1986) haben Andrea Huyssen und Klaus R. Scherpe (Hg.) die Wirksamkeit dieses Begriffs mit seinen vielfältigen Auslegungen in den Künsten dokumentiert. Die philosophische Diskussion um die Postmoderne hatte 1985 in der Bundesrepublik Deutschland zwei Höhepunkte: eine von der Civitas-Gesellschaft in Hannover veranstaltete Tagung und die Veröffentlichung der Habermaschen Vorlesungen: "Der philosophische Diskurs der Moderne" (Frankfurt a.M. 1985). Die Tagung brachte viel Strittiges (und Unbedeutendes) hervor: Ob die Moderne mit Descartes beginnen soll, ob wir, nach Odo Marquard, noch in der Moderne leben, ob man nicht einseitig alles Gute, Schöne und Wahre der Moderne zuschiebt (Robert Spaemann), ob nicht die Moderne, wohl aber die Modernisierung fragwürdig ist (Claus Offe), und immer wieder die Frage, ob der (Stil-)Pluralismus (etwa in der Baukunst) eine typische Eigenschaft der Postmoderne sei bzw. ob zur Aufklärung nicht notwendigerweise Kritik und Revolte gehören.

Die einen halten an der Moderne fest, die anderen wollen sie "überwinden". Von denjenigen, die sie festhalten wollen, wird die Postmoderne als eine "romantische" Bewegung angesehen, eine intellektuelle Mode, ein Konstrukt..., als ob die Moderne keins wäre! Ein solches Konstrukt entwirft Habermas in den erwähnten Vorlesungen. In deren Zentrum stehen Nietzsche und Heidegger. In bezug auf Nietzsche genügt es zu sagen, daß Habermas ihm einen "dionysischen Messianismus" bescheinigt, womit Nietzsche sich außerhalb der (Dialektik) der Aufklärung stelle. Habermas scheint, gelinde gesagt, von der Nietzsche-Forschung der letzten Jahre keine Kenntnis genommen zu haben. Vor diesem Hintergrund darf es natürlich nicht wundern, daß Heidegger allerlei "Schlimmes" (angefangen mit der Überschrift "Die metaphysische Unterwanderung des okzidentalen Rationalismus: Heidegger") unterstellt wird. Ein Teufel wird an die Wand gemalt, woran inzwischen (auch in Deutschland) nur noch einige strenggläubige Rationalisten glauben. Hier einige Kostproben: Heidegger setze "die Philosophie wieder in die Herrschaftsposition ein,, aus der sie durch die Kritik der Junghegelianer vertrieben worden war" (158), er "nivelliert die Vernunft zum Verstand" (160), "Nietzsches Messianismus" verkehre sich bei Heidegger "in die apokalyptische Erwartung des katastrophischen Eintritts des Neuen" (162), in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften nach Hegel nimmt er nichts anderes wahr "als ein monotones Durchbuchstabieren der ontologischen Vor-Urteile der Subjektphilosophie", wodurch er zeigt, daß er "noch in Anlehnung, den Problemstellungen verhaftet bleibt, die ihm die Subjektphilosophie in Gestalt der Husserlschen Phänomenologie vorgegeben hatte" (165). Wie Husserl soll Heidegger "die Welt als Korrelat des erkennenden Subjekts" bestimmen und an den "Fundamentalismus der Bewußtseinsphilosophie gebunden" bleiben (166). Er soll schließlich (natürlich) seine Adressaten "in den Umgang mit pseudosakralen Mächten" einstimmen (168). Demgegenüber mutet die Darstellung der "Existentialhermeneutik" von "Sein und Zeit" (169-176) geradezu sachlich an, was aber anschließend (176-183) mißdeutet wird, etwa mit Bemerkungen, daß Heidegger das "Wer" des Daseins "auf ein Subjekt zurückführt", oder daß er die "Strukturen des lebensweltlichen Hintergrundes" als Strukturen einer "durchschnittlichen Alltagsexistenz" "entwertet", oder daß "das solipsistisch angesetzte Dasein" den Platz der transzendentalen Subjektivität "besetzt", oder daß in den Schriften "Was ist Metaphysik?" und "Vom Wesen des Grundes" "die Welt als Prozeß" "aus der Subjektivität des Selbstbehauptungswillens" begriffen wird usw. Richtig ist, daß Heidegger auf den Anspruch auf "Selbst- und Letztbegründung" verzichtet, falsch dagegen, daß er das "zugunsten eines kontingenten Geschehens, dem das Dasein ausgeliefert ist", tut (181). Heidegger soll "die propositionale Wahrheit" entwurzeln und "das diskursive Denken" entwerten, er soll die "welterschließende Sprache" hypostasieren, das Seiende soll sich, nach Heidegger, "von beliebigen Zugriffen gleichermaßen widerstandslos öffnen" lassen usw. usw. Dieses einem Denker vom Range Habermas wohl kaum zuzutrauende Zerrbild endet mit einer politischen Aufklärung (die als "Vermutung" verkauft wird) und diese wiederum mit dem lapidaren Satz, daß Heidegger "den Problemstellungen der Subjektphilosophie verhaftet" bleibe. Man kann hier nur Vermutungen über Habermas' eigene Motive für diese wahrhaftig unverdaubare Charakterisierung einer Kernfigur des "philosophischen Diskurses der Moderne" anstellen. Demgegenüber fällt ihm nicht schwer, sich als Retter der Moderne, d.h. der Tradition der Vernunft in der Form des "kommunikativen Handelns", darzustellen, um sie vor der "Selbstdestruktion" (379) zu bewahren!

Vor diesem Hintergrund gewinnen die stilistisch glänzend und begrifflich transparent geschriebenen "Essays" von Gianni Vattimo, einem der bekanntesten Nietzsche- und Heidegger-Forscher Italiens, einen besonderen Wert.

Um dem des Italienischen unkundigen Leser einen Vorgeschmack zu geben, soll hier eine ausführliche Darstellung des Inhalts, zuungunsten der kritischen Bewertung und Diskussion, geboten werden.

Zunächst zum "Äußeren". Das Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen aus dem Jahren 1980-1984, die das im Titel angedeutete Thema: "Das Ende der Moderne. Nihilismus und Hermeneutik in der postmodernen Kultur" umkreisen. Gianni Vattimo (50), Professor am Philosophischen Institut der Turiner Universität, veröffentlichte 1980 einen Essay-Band mit dem Titel: "Abenteuer der Differenz. Was heißt Denken nach Nietzsche und Heidegger?" (Mailand 1980). Seine früheren Arbeiten galten Aristoteles, Schleiermacher sowie Heidegger und Nietzsche. Das hier zu besprechende Buch enthält drei Teile, die folgende Überschriften tragen: Nihilismus als Schicksal; Die Wahrheit der Kunst; Das Ende der Moderne.

Die Grundfrage des Werks, nämlich die nach dem Bezug von "Moderne" und "Postmoderne", gewinnt erst ihre philosophische Tiefe und Schärfe, so der Verfasser in der Einleitung, wenn man sie in Zusammenhang mit dem Nietzscheschen Gedanken der "Ewigen Wiederkehr" sowie mit der Heideggerschen Frage nach der "Verwindung" der Metaphysik betrachtet. Beide Ansätze unterscheiden sich von der bloßen "Kulturkritik" der Jahrhundertwende, und beide können verstanden werden, so die Hauptthese des Verfassers, als "positive" Momente für eine philosophische Rekonstruktion und nicht etwa, wie Habermas es tut, als Symptome der Dekadenz. Alles dreht sich dabei um die Deutung des "Post-". Der Gedanke des Fortschritts, also der Entwicklung durch Kritik und Aufklärung in den Wissenschaften bzw. durch die Verwirklichung der Freiheit in der Geschichte, gehört zum Kern der Moderne. Fortschritt ist aber wiederum nur möglich, wenn die jeweilige Entwicklung von Grund auf angeeignet wird. Nietzsche und Heidegger wollen vom Gedanken des Grundes als Bestimmung des Denkens Abstand nehmen. Indem sie aber das tun, fragt sich mit Recht der Verfasser, gehören sie nicht eigentlich zur Moderne? Mit anderen Worten: Ist nicht jeder Versuch eines "Fort-schritts" aus der Moderne selbstwidersprüchlich? Das wäre der Fall, wenn das "Post-" als Hinweis auf etwas Neues aufgefaßt wäre und nicht etwa als Auflösung dieser Kategorie bzw. als Erfahrung vom "Ende der Geschichte". Letzteres klingt zugleich sehr real, wenn man etwa an die Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe denkt. Für den Verfasser steht aber weniger dieser Zusammenhang als vielmehr die Frage nach der Auflösung der Geschichte als ein einheitlicher Prozeß bzw. die Entstehung einer Art unhistorischer Immobilität im Mittelpunkt. Die "Post-Moderne" will sich also als "post-historisch" verstanden wissen: Das neue, insbesondere das technisch Neue, wird zur Routine, der Mensch sitzt, unbeweglich, vor dem Monitor (Fernseher, Terminal usw.) und "erlebt" die dort "ein-gebildete" Realität. Nicht mehr die Geschichte, sondern ihre Auflösung in Geschichten prägt das Bewußtsein. Diese Zerstückelung erlaubt auch, dank der Perfektion der modernen Informationstechnik, ihre Speicherung und Übertragung in einer für die Moderne (das Zeitalter Gutenbergs) unvorstellbaren Weise. Im Gegensatz zur typischen "Kulturkritik" sehen, so Vattimo, Nietzsche und Heidegger diese Entwicklung als eine neue Möglichkeit menschlichen Existierens und, wie der Verfasser betont, als eine positive Chance! Nietzsches Wort vom aktiven Nihilismus und Heideggers "Verwindung" der Metaphysik sind deutliche Zeichen des Versuchs, mit der Postmoderne im Sinne eines neuen Erfahrungsraumes Ernst zu machen. Es ist insbesondere die Kunst, wie der Verfasser in den folgenden Kapiteln erläutert, die uns die Erfahrung der Eröffnung eines neuen Möglichkeitsgefüges, als eine Wahrheitserfahrung, vermittelt.

Vattimos Analysen beginnen, nach dieser Einleitung, mit der Behandlung des "Nihilismus als Schicksal" (erster Teil). Nietzsches These vom "Tod Gottes" bzw. von der Entwertung der obersten Werte und Heideggers Deutung der Auflösung des Seins in der Welterfahrung stimmen darin überein, daß das im Besitz seines Grundes wägende Subjekt sich auf kein Wahrheitsimperativ mehr berufen kann. Die Entgöttlichung bedeutet also zugleich eine Entmenschlichung im psychoanalytischen Sinne einer "Ent-Ich-ung", d.h. eine Infragestellung des idealen Ichs aufgrund der "Entdeckung" des Symbolischen (J. Lacan). Der Nihilismus als Verlust des Fundaments kann also auf der einen Seite als "Gefahr der Verselbständigung des Subjekts in der Rigidität des Imaginären bzw. in dem Versuch, "neue" Werte zu errichten, gedeutet werden. Während auf der anderen Seite die Möglichkeit besteht, ihn als Chance für eine "entwirklichte" bzw. spielerische individuelle und kollektive Welterfahrung zu verstehen. In der "Krise des Humanismus" (Kap. II) zeigt Vattimo, daß gerade die Erfahrung des "Todes Gottes" eine solche Krise mit sich zieht, da der Gott (der Metaphysik) die "Maske" des sich selbst vergewissernden, seines Grundes gesicherten Menschen war. Die Krise des Humanismus, etwa in der Gestalt der Kulturkritik der Technik, zeichnete sich vielfach durch den Versuch aus, menschliche "Eigenschaften" methodisch abzusichern.

Wenn man aber, so Vattimo, die Technik, wie Heidegger sie deutet, als Erfüllung der Metaphysik auffaßt, dann bedeutet ihre mögliche "Verwindung" weder ihre Verdammung noch die Errichtung eines abgesicherten (!) (Subjekt-) Bereiches, sondern die Einsicht in die Art von metaphysischer Erfahrung, die die Technik uns vermittelt, und die Möglichkeit der Subjektivität (!), eine andere Stimme zu hören als die des Fundaments. Heideggers "Verwindung" setzt sozusagen das Subjekt "auf Diät": anstelle eines "sogetto forte" tritt ein "sogetto" ein, das fähig ist, "seine An- und Abwesenheit in den Fäden einer durch den empfindlichen Kommunikationsorganismus verwandelten Gesellschaft" aufzulösen.

Der zweite Teil, "Die Wahrheit der Kunst", thematisiert die "Zwei-Deutigkeit" des Nihilismus in der Erfahrung der Kunst, die durch die "Medialisierung" nicht bloß eine Auflösung, im Sinne eines Absterbens der Kunst, sondern eher als die Art und Weise wie die Kunst (als Utopie, Kitsch oder Schweigen) ihre bisherigen metaphysischen Dimensionen aufgibt – und dabei einen neuen Erfahrungshorizont eröffnet. In diesem Sinne, sagt der Autor, Heidegger folgend, wird die Kunst zu einem Wahrheits- und Entbergungsgeschehen. Sie zeigt, in der Figur der Zerbrechlichkeit, daß Wahrheit nicht nur (metaphysisch) als eine stabile Struktur, sondern als Ereignis verstanden werden muß, d.h. daß die Klarheit und Evidenz metaphysischer Prinzipien nur einseitig die im Halbdunkel wesenden Bezüge der Sterblichen zu den wechselnden Fundamenten zur Sprache bringt. Nicht nur das dichterische Wort (Kap. IV), sondern auch das ornamentale Mahmal (Kap. V) zeugen von dieser Zerbrechlichkeit. Was dabei "ins Werk gesetzt wird", sagt Vattimo im Anscluß an Heidegger, ist nicht bloß der Konflikt zwischen einer entborgenen. bzw. thematisierten und einer noch nicht thematisierten (aber durchaus thematisierbaren) Welt, sondern der bleibende "Streit" zwischen dem sich Ereignenden (bei Heidegger: "Welt") und dem sich dabei immer Entziehenden (bei Heidegger: "Erde").

Indem das Kunstwerk die Grundbezüge neu ordnet bzw. indem sie entbirgt, vollzieht es eine, wie Vattimo in Anschluß an Th. S. Kuhn sagt, "künstlerische Revolution" bzw. einem "Paradigmenwechsel" (Kap. VI). Hier knüpft der Verfasser an Nietzsches Gedanken vom positiven Nihilismus an, der in der Kunst die zentrale "Macht" mitten in der Moderne, d.h. in der Zeit des Fortschrittsglaubens und der Säkularisation, steht.

Der dritte Teil der Untersuchungen, "Das Ende der Moderne", ist vor allem der Rolle der Hermeneutik bei der "Verwindung" des Nihilismus gewidmet. Dabei setzt sich Vattimo zunächst mit H.-G. Gadamer, anschließend mit R. Rorty und schließlich mit Heidegger auseinander. Zunächst zeigt er, daß Gadamers Ästhetik eine Umdeutung der von Heidegger thematisierten Erfahrung des Verlustes eines Fundaments bedeutet. In der Tat, die Hermeneutik des Daseins und später das "An-denken" dienen nicht dazu, die Ursprünge besser zu rekonstruieren. Nicht die historischen Horizonte selbst (und ihre Wechselhaftigkeit) stehen im Vordergrund, sondern eben die Erfahrung des "Ab-Grundes", d.h. eines "schwachen", sich gewissermaßen verflüchtigenden, in das Nichts sich auflösenden "Seins" oder, mit anderen Worten, die Erfahrung der zwischen Geburt und Tod sich abspielenden menschlichen Sterblichkeit. Gadamer will, gegenüber dem Neukantianismus mit seiner Betonung der Rolle des Beobachters und seiner "Erlebnisse", die Wahrheitsdimension (die die Wissenschaft für sich gepachtet zu haben glaubt) auch für die Kunstwerke gelten lassen. Das Kunstwerk spricht geschichtlich, und so ist auch eine geschichtliche Erfahrung diejenige, die der Beobachter mit ihm macht, wodurch beide (!) sich verändern. Bekanntlich nennt Gadamer ein solches Geschehen "Wirkungsgeschichte". Nach Vattimo betont aber Heidegger gerade die Punktualität (den "Sprung in den Abgrund"...) der ästhetischen Erfahrung, ihren ephemeren Charakter, ihre Diskontinuität, die ihrerseits aus dem Bezug des Kunstwerkes zu ihrem von ihm nicht beleuchteten "Grund" (zum "Ab-Grund") also, bzw. zur "Erde") entspringt. Ein solches "Erlebnis" wird dadurch nicht mehr durch die metaphysische Struktur von Subjekt und Objekt deutbar bzw. ist kein "romantisches" Erlebnis.

In Anschluß an Gadamer (Kap. VIII) erörtert Vattimo die "Urbanisierung der Heideggerschen Provinz" (Habermas) im Sinne einer Ausarbeitung der Beziehungen zwischen Wahrheit und Sprache. Dabei betont er den Unterschied zwischen Wahrheit als methodische Verifizierbarkeit nach öffentliche und kontrollierbaren Kriterien und Wahrheit im Sinne der Zugehörigkeit zu einem lebendigen gemeinschaftlichen Horizont bzw. zu einem lebendigen öffentlichen und ethischen Logos. Dieser zweite "rhetorische" Sinn von Wahrheit bildet den notwengiden Hintergrund (das "Vorverständnis" der ersten, wobei die Möglichkeit des gemeinsamen "epochalen" Irrens nicht ausgeschlossen werden kann.

Der Verfasser betont aber die Notwendigkeit, jene "existenzialen" "topoi" nicht aus dem Auge zu verlieren (etwa "Eigentlichkeit", "Vorlaufen zum Tode" usw.), die,  beim "konfliktualen" Charakter des Kunstwerkes, eine kritische Funktion gegenüber dem "Gemeinsinn" ausüben sollen. Unter dem Titel "Hemeneutik und Anthropologie" (Kap. IX) behandelt Vattimo das anthropologische Grundproblem des Verstehens von Fremdkulturen. Nicht Texte, sondern ethnographische "Kontexte" bilden den hermeneutischen Gegenstand dieser Wissenschaft. R. Rorty faßt die ethnographische Hermeneutik als Gegenstück zu der von ihm kritisierten Epistemologie auf: Während diese alle Unterschiede zwischen den Diskursen ebnet, geht die Hermeneutik von der Pluralität aus und sucht lediglich sich die "Fremdsprache" anzueignen. In der Sprache Th. S. Kuhns: Der epistemologische Diskurs ist der der "normalen Wissenschaft", die Hermeneutik ist wesentlich "revolutionär". Dennoch, so der Autor, scheint zum Kern der (Heideggerschen) Hermeneutik sowohl die "Zwiefalt" (etwa zwischen "Sein" und "Seiendem") als auch die "Selbigkeit" zu gehören. Unsere gegenwärtige Welt steht eindeutig (!) unter dem Vorzeichen der "Verwestlichung", die alle Unterschiede im vorhinein zu ebnen scheint. In dieser Situation entschwindet das von der (hermeneutischen) Anthropologie gesuchte "Andere"... Die Hermeneutik wird "gezwungen", über "das Selbe" zu denken. Die Verwestlichung der Welt ist nicht einfach eine totale Homologisierung in eintönige technologischen Schemen ─ sondern eine riesige Sammlung von überlebenden Formen, also etwas Hybrides. Die Alterität wird "diffus". Alles ist gewissermaßen "kontaminiert". Es ist gerade diese Kontaminierung, betont der Verfasser, die den einzigen Ausweg bzw. die einzige Chance bildet, um eine Metaphysik der totalen Organisation, aber auch eine bloße "Theatralisierung" vergangener Formen (hermeneutisch) zu "verwinden".

Auf diesen Gedanken kommt Vattimo im letzten Kapitel seines Buches zurück. Der Titel: "Nihilismus und Postmoderne in der Philosophie" erinnert an die anfangs erörterten Thesen über die "Verwindung" des Nihilismus. Für Nietzsche sind die "Epigonen", d.h. die Menschen am Ende der Moderne, nicht mehr in der Lage, etwas Neues zu schaffen, sie können bloß die Kostüme der Vergangenheit nutzen. Als Ausweg sucht Nietzsche zunächst die Kunst und die Religion (etwas zur Zeit der Zweiten "Unzeitgemäßen Betrachtung", 1874), während später (in "Menschliches, Allzumenschliches", 1878) die nihilistische Erfahrung  des "Todes Gottes" bzw. der Auflösung der obersten Werte leitend wird. Gegenüber der modernen Gleichung: Sein  = Novum stellt Nietzsche seine Formel von der "Ewigen Wiederkehr des Gleichen" auf. Das ´Denken sucht dabei nicht mehr den Ursprung, sondern gewinnt Sinn für "die nächste Realität". Die Philosophie der "Morgenröte" begreift  sich auf "Irr-Wegen", wobei der "Genesende" gelernt hat, auf die "ursprüngliche Wahrheit" zu verzichten: Es ist alles da, was die Metaphysik hervorgebracht hat, aber... es schaut, vom Standpunkt des "buon temperamento", ganz anders aus! Eine solche "Genesung" stellt ebenfalls Heideggers "Verwindung der Metaphysik" dar, deren gegenwärtige Ausformung Heidegger als das "Ge-Stell" kennzeichnet. Die "nihilistische" Erfahrung der Gundlosigkeit erlaubt es, es in seiner Offenheit, d.h. als "Geschick" und als Chance, aufzufassen.

Vattimo kennzeichnet das postmoderne philosophische Denken als "Denken des Genusses" ("pensiero della fruizione"), der "Kontaminierung" ("pensiero della contaminazione") und des "Ge-Stells". Dem ersten Hinweis entspricht eine Ethik der "Güter" bzw. des ästhetischen "Wiedererlebens", ohne Bezug auf  "Ziele" und "Fortschritt"; das Gegenteil also zu einer Ethik der Imperative. Der zweite Hinweis drückt die Möglichkeit des hermeneutischen Denkens aus, sich nicht wie die Metaphysik "stark" bzw. begründend auszugeben, sondern sich mit allen Formen des "Logos" zu verbinden und als "schwache" Wahrheit aufzutreten. Das Denken des "Ge-Stells" schließlich bedeutet, daß die Hermeneutik keinen ausschließlich "humanistischen" Bezug zur modernen Technik hat, sondern daß sie dabei "verwindend" wirkt, indem sie etwa den Bezug zwischen der Technologie und den abendländischen Traditionen herstellt, so daß das "Ge-Stell" auch (!) seinen metaphysischen Anspruch verliert und zu "schwingen" beginnt: seine klaren Umrisse werden unscharf. In dieser "schwingenden" Welt der totalen Vermittlung unserer Erfahrung, in der wir uns bereits befinden, wird "die Ontologie tatsächlich hermeneutisch, und die metaphysischen Begriffe von Subjekt und Objekt, von Realität und Wahrheit-Grund verlieren an Gehalt". Vattimo nennt eine solche Ontologie eine "schwache" Ontologie. Der Anfang der Bescheidenheit?

Ich möchte dies ausführliche Darstellung mit drei Bemerkungen beschließen. Die erste bezieht sich auf die anfangs erörterte Deutung der Moderne in der Bundesrepublik mit der pauschalierenden Kennzeichnung der Postmoderne als "Romantik" sowie mit der Habermasschen klischeeartigen Einordnung von Nietzsche und Heidegger in vorgefertigte Schubladen: Habermas kämpft gegen Windmühlen, wo in Wahrheit sich überall schon das "Ge-Stell" ausgebreitet hat. Meine zweite Bemerkung betrifft die Frage nach dem "Ende der Geschichte". Es wäre, so glaube ich, prägnanter und präziser zu sagen, daß die Hermeneutik zwischen der Vorstellung von Geschichte als Fortschritt und dem Immobilismus der Geschichtslosigkeit uns die des Geschichtlichen lehrt, wodurch wir also die Entstehung des "Neuen" nicht von einem "fortschreitenden" Prozeß abhängig machen bzw. die Ereignisse als Ereignisse vollziehen können. So kann auch die Technik, lautet schließlich meine dritte Bemerkung, in ihrer metaphysischen Form als "Ge-Stell" erst "verwunden" werden, wenn wir lernen, sie als Ereignis zu sehen, d.h. wenn wir ihre "glänzenden" Leistungen gewissermaßen im hermeneutischen "chiaroscuro" dämpfen, indem wir sie also in ein unerschöpfliches Kunstwerk verwandeln. Es erübrigt sich fast zu sagen, daß Vattimos Buch dringend ins Deutsche übersetzt und (nicht nur!) von deutschen Philosophen "gelesen", d.h. rezipiert werden sollte.

Letzte Änderung: 16. November  2022
   
 
 
    
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