WAS IST METAPHYSIK?

Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Metaphysik und Wahnsinn

Rafael Capurro

 
 
  
 
Notizen zu einer Ringvorlesung an der Universität Stuttgart im Wintersemester 1994 / 1995. (PowerPoint)
Vgl.:
-: Ein Grinsen ohne Katze. Von der Vergleichbarkeit zwischen künstlicher Intelligenz und getrennten Intelligenzen.
-: Beiträge zu einer digitalen Ontologie
-: Ein Grinsen ohne Katze. Von der Vergleichbarkeit zwischen künstlicher Intelligenz und getrennten Intelligenzen
-: Leben im Informationszeitalter


 


Übersicht


I. Eine Antwort, die jeder versteht
II. Eine Antwort für Philosophierende
III. Eine Antwort, die auch dem Vortragenden 'frag-würdig' bleibt
Schluß

Exkurs: Freud und die Philosophie
Anmerkungen
Literatur


 

 

I. Eine Antwort, die jeder versteht


Metaphysik als Ant­wort auf die ewige Frage des Menschen nach dem Sinn des Lebens.
 

-> Elihu Vedder (1836-1923): Der Befrager der Sphinx.
Bedeutender amerikanischer Allegorienmaler. Bild von 1863 (Boston Museum of Fine Arts).

vedder


Dieses Bild war auf dem Plakat der Ausstellung "Ägyptomanie. Die Sehnsucht Europas nach dem Land der Pharaonen" (Künstlerhaus Wien, 16. Okt. 1994 - 29. Jän. 1995). Die Beziehung Mensch/Sphinx ist hier umgekehrt: der Mensch horcht auf die Sphinx und befragt sie. Es handelt sich nicht um die Sphinx von Gise, sondern ver­mutlich um die Wiedergabe einer Sphinx, die Vedder in Pa­ris gesehen hatte. Vgl. Katalog zur Ausstellung, Wien 1994, S. 262-263 (aufklä­rerische Absicht der Ausstellung).


II. Eine Antwort für Philosophierende

Metaphysik ist der Versuch, die Fragen "von der geistigen Natur, der Freiheit und Vorherbestimmung, dem künftigen Zustande u.dgl." (I. Kant, Träume 369) ohne Berücksichtigung der Grenzen der menschlichen Vernunft spekulativ zu beantworten.

Das Verständnis der Kantischen metaphysikkritischen Ab­sicht in den "Träumen" setzt die Kenntnis der Metaphy­sik des 17. und 18. Jahrhunderts (Leibniz, Wolff, Baumgarten) so­wie die der Entwicklung des Kantischen Denkens bis 1766 vor­aus. Bei­des kann hier nur andeutungsweise behan­delt wer­den.


1. Das Erbe der Schulmetaphysik

Die Metaphysik des 17. und 18. Jahrhunderts entsteht auf der Grundlage der antik-mittelalterlichen Ver­christlichung der gri­echischen Philoso­phie. Für Leibniz (1646-1716) ist Gott "ein ab­solut vollkommenes Wesen" [1]. Der Unterschied zwischen Gott und seinen "Werken" ("ouvra­ges") stellt, so wie bei Suá­rez, in Leib­niz' "Metaphysi­sche Ab­handlung" (1686) ­die Grun­d­un­ters­cheidung der Meta­physik dar. Die vollkom­men­sten al­ler von Gott ge­scha­ffenen Wesen sind die "Gei­ster ("les espri­ts"), de­ren Voll­kom­men­heiten die Tu­genden sind" (S. 67).

Leibniz' Substan­zen sind wie die En­gel oder 'In­telli­genzen' bei Thomas von Aquin, d.h. jedes In­divi­duum ist eine 'species', die nicht durch ein 'princi­pium individua­tionis' ausdifferen­ziert wird (S. 77)."[2] Solche Sub­stan­zen kön­nen nicht auf na­tür­liche Weise - und noch weni­ger, wie man hin­zufü­gen kann, auf künstliche Wei­se - vermehrt oder ver­min­dert wer­den. Sie können nur durch gött­liche Schö­p­fung ent­stehen und nur durch Gott auch ver­nichtet werden. Der Sub­stanzbe­griff der schola­stischen Phi­l­oso­phie wird hiermit durch Leibniz reha­bilitiert. Diese geistigen Substanzen dür­fen aber nicht zur Er­klärung der Er­scheinungen her­angezo­gen werden. Me­cha­nische und meta­physi­sche Erklärun­gen, Wirk­ur­sachen und Zwec­kursa­chen, las­sen sich nicht auf­einander redu­zieren. Für Leibniz ist Gott "der voll­endet­ste aller Geister", "wie er das größte aller Wesen ist", er ist "Ursa­che aller Subs­tanzen und aller Wesen" und "Oberhaupt aller Personen oder intelli­genten Substan­zen " (S.157).

Falls die Körper nur "wahre Phä­no­mene" wä­ren, wären dann nur die "Gei­ster" die einzigen Substanzen in der Welt, wobei die intel­ligen­ten Geister fähig sind, nicht nur Gott "unverg­leich­lich besser auszudrü­ken" als die tierischen Seelen, sondern ihn auch er­kennen können: "ein einziger Geist gleicht der gan­zen Welt, weil er sie nicht nur ausdrückt, sondern auch erkennt, und darin verhält er sich wie Gott." (S. 161) Während die anderen Substanzen aber eher die Welt ausdrüc­ken, drücken die intelli­genten Geister eher Gott aus. Die­se ontolo­gische Diffe­renz zwi­schen einer moralisch-gött­lichen Welt des Gei­stes (und der Gei­ster!) und einer kör­per­lichen "Weltmaschi­ne", die auch ein "wahres Phänomen" sein könnte, bleibt grund­le­gend auch für Kants kritische Metaphysik.

Im "Neuen System" (1695) schreibt Leibniz, daß die "Spon­tanei­tät" der menschlichen Seele sich in "Über­einstim­mung" mit den Gesetzen der körper­lichen Welt befindet.[3]Er nennt diese Hypo­these, wodurch die "Folge der Abbil­dungen, die die Seele her­vorbringt, auf natürliche Weise der Folge der Ver­änderungen des Univer­sums selbst ent­sprechen", "Hy­po­these der Über­ein­stimmungen" ('Hypothese des accords') bzw. die "wunderbare Idee von der Harmonie des Universums und der Vollkommenheit der Werke Gottes" (S. 221-222) oder auch "prästabilierte Har­monie" (S. 235) [4]

Die Seele drückt "zur gleichen Zeit" die un­endliche Viel­zahl der Welt aus. Das ist, so Leibniz, was er jenen Leh­ren der Philo­sophen hinzu­fügt, die "den See­len und Engeln, welche sie für ent­blößt von jeglichem Körper halten, (um nichts über die Intelligenzen des Aristote­les zu sagen), Gedan­ken zuschreiben" und die ebenfalls "seit mehreren Jahrhun­derten eine spontane Veränderung in einem einfachen Seienden" an­nehmen (S. 267). Nicht der Mensch, wohl aber sein Kör­per ist ein Automat. In der Tat hätte Gott einen Automaten machen können, "der die Funktio­nen des Menschen erfüll­te", woraus aber "eine Art wunderbaren Verhaltens" ("une espece de con­duite mira­culeu­se") folgen würde (S. 303). "Wun­der­bar" inso­fern, als der Körper Handlungen, "die nicht aus den allge­mei­nen Gesetzen der Mechanik enspringen können" her­vorbrin­gen würde (S. 303). Wenn aber, so Leibniz, "so­gar die Men­schen fähig sind, Maschinen zu machen, deren Wirkungen eine Intel­ligenz zu erfordern schei­nen", warum sollte man "der göttli­chen Weis­heit und Macht" solchen Grenzen setzen (S. 305)? Aus diesen Ausfüh­rungen geht klar hervor, daß uns Men­schen nur die Simulation von Ver­nunft, nicht aber deren Herstellung mög­lich ist.

In der "Monado­logie" faßt Leibniz seine Antwort auf die Frage nach der Metaphysik der Vernunftwesen folgendermaßen zusam­men: "Dieses Sy­stem besagt, daß die Körper so han­d­eln, als ob sie (was un­möglich ist) keine Seelen hätten; und daß die Seelen so han­deln, als ob sie keinen Kör­per hätten; und daß beide zu­sammen handeln, als ob sie sich gegenseitig beeinflußten."[5] Leibniz' Metaphysik wird durch C­hri­stian Wolff (1679-1754)und Alexander Baumgar­ten (1714-1762) schul­mäßig tradiert.
 

2. Kants Bruch mit der Schulmetaphysik


Auch zu diesem Thema muß ich mich im Rahmen dieses Vor­trags mit wenigen Andeutungen begnügen. Bereits der zweiundzwan­zigjährige Kant äußert sich kri­ti­sch gegenüber der Schulme­taphysik. In seiner E­rst­l­ing­schr­ift "Geda­nken von der wahren Schätzung der le­ben­digen Krä­fte" (Kö­nigsberg 1746), unter dem Titel "Es ist im recht meta­phy­si­schen Verstan­de wahr, daß mehr wie eine Welt exi­stie­ren könne" (§ 8), kritisiert er die Vor­stel­lung, wo­nach in der einen Welt Substan­zen exi­stie­ren könn­ten, die mit den Dingen dieser Welt nicht in einer "würk­li­chen Ver­bin­dung" stün­den. Eine solche Auf­fas­sung, die, so Kant, dem Gedanken einer "vor­herbestim­mten Harmonie" zugrunde­liegt und die man "in den Hörsälen immer leh­ret", wider­spricht der ebenfalls schu­lmäßigen Defini­tion von Welt, die diese Einschrä­kung auf die "wür­klichen Verbin­dung" "aller exis­tierenden Dinge" ("re­rum omnium con­tin­gen­ti­um") macht.[7]

Am Schluß seiner 1755 verteidigten lateinischen Dis­serta­tion "Neue Erhellung der ersten Grundsätze meta­physischer Er­kennt­nis" zur Erlangung der 'venia docen­di' wird dieser gegenüber der Meinung der Schulmeta­physik kritische Ge­dan­ke weiter aus­geführt.[8] Außerdem vertritt Kant die Ansicht, daß "allen endli­chen Gei­stern eine Art organischer Körper beizu­legen sei", da sie sich sonst nicht verändern würden (Nova dil. Sectio III, Prop. XII, Usus 3).

Diese materialistische Auffassung von (endli­chen) Ver­nunft­wesen, kommt in seiner "Al­lgemeine Naturgeschichte und Theo­rie des Himmels, oder Ver­such von der Verfassung und dem mechani­schen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtoni­schen Grundsätzen ab­gehandelt" (Königsberg und Leip­zig 1755) deutlich zum Ausdruck. Dieser Schrift liegt die Frage: Wie verträgt sich die mechani­sche Natur­erklärung mit der Reli­gion? zu­grunde. Ange­sichts der sowohl räumlich als auch zeit­lich unendlichen Dimen­sionen der "Schöp­fung" ste­llt sich für Kant die Frage nach einem der "Unordnung" widerstehenden "Mittel­punkt des ganzen Welt-Alls", einem "Centro der Schöp­fung" (A 117-118).

Um seinem Staunen vor der Großartigkeit der Welt Ausdruck zu ver­leihen, greift Kant auf die Dich­ter (Pope, v. Haller, Addison), ja seine eigene Spra­che wird selbst poetisch und, mitten in empi­rischen Überlegun­gen, 'geistig': "Wenn denn die Fes­seln, welche uns an die Eitel­keit der Krea­turen gen­küpft halten, in dem Augenblicke, welcher zu der Ver­wan­delung unseres Wesens bestimmt worden, abgefal­len sein, so wird der unsterbliche Geist, von der Abhän­gigkeit  der endli­chen Dinge befreit, in der Gemein­schaft  mit dem unendlichen Wesen, den Genuß der wahren Glüc­k­se­lig­keit fin­den." (A 127) Schopenhauer vorgrei­fend zitiert Kant Addison: "Wenn der­einst der Baum der Welt in sein Nichts zurück ge­eilet..." (A 128) Er läßt seiner Phan­tasie freien Lauf be­züglich der Mutma­ßung eines "flam­menden Körpers" als Mittel­punkt des Uni­versums, ohne diesen aber mit göttlichen At­tributen aus­zustatten, denn "die Gottheit ist in der Unend­lich­keit des ganzen Welt­raumes allenthalben gle­ich gegen­wärtig" (A 141). Dennoch wagt er den Gedan­ken, daß die "ver­schiede­nen Gra­den der Geister­welt" sich zwar nicht, wie Thomas Wright behaup­tet,[9] "aus der physischen Beziehung ihrer Wohn­plät­ze gegen den Mittelpunkt der Schöp­fung" rich­ten, son­dern umgekehrt, "die vollkommensten Klas­sen vernünf­ti­ger Wesen weiter von diesem Mittelpunkt, als nahe bei demsel­ben" zu suchen sind (A 141).[10] Hiermit ent­fernt sich Kant sowohl von einer Ver­gött­li­chung des Kosmos oder eines Himmelskörpers als auch von der Vor­stellung eines unmit­telbaren Eingreifens der "Hand Got­tes" in eine chaoti­sche Natur (A 146).

Seine Überzeugung von einer "mecha­ni­schen Ent­wicke­lung, aus allgemeinen Naturge­setzen" (A 149) ist aber gleich­wohl eine alle Stufen der Schö­pfung umfassen­de Sicht, der die Vorstellung eines "We­sen aller Wesens, eines unendli­chen Verstandes und selb­ständiger Weis­heit" voraussetzt (A 148). Die "Kühnheit" seiner "Mut­maßungen" (A 140) erreicht einen finalen Höhe­punkt in der Frage nach den "Bewohnern der Gestirne". Hier kommt erneut der Gedanke vor, daß "die Entfer­nungen der Himmelskörper von der Sonne gewis­se Verhältnisse mit sich führen, welche einen wesentlichen Einfluß in die verschie­denen Eigen­schaften der denken­den Naturen nach sich zie­hen" (A 173).[11] Der Mensch hat in der "Leiter der Wesen" "die mittelste Spro­sse inne" (A 187), gleich entfernt von den erhabenen Bewohnern Jupiters, wie von den unvollkommeneren der Ve­nus. So gibt es also für Kant sowohl eine "Geisterwelt" als auch eine "der materia­lischen (Wesen, RC) in den Pla­neten" (A 188), wobei er hervorhebt, daß seine Mut­maßun­gen bezüglich der "Bewohner der Gestirne" auf dem Grund einer Analogie mit der Entfernung der Planeten von der Sonne auf­stellt. Über die "Geisterwelt" selbst wird aber nichts genaueres ausge­füht,  da  "diese Mutma­ßungen (si­ch) nicht über die einer physischen Abhandlung vor­ge­zeich­nete Grenzen" erstrecken sollen (A 188).[12]

Wie hängt, so fragt sich Kant zum Schluß, diese Ord­nung des "Weltbaues" mit jenem "mechani­schen Lehr­begriff" des Kos­mos zusammen, den er in den ersten beiden Kapiteln des zweiten Teiles aus­führ­te, und der später zur Kant-Laplace­schen Theorie über den Ursprung des Plane­ten­systems wurde? "Muß nicht die Me­cha­nik aller natürli­chen Bewegungen einen we­sentlichen Hang zu lauter solchen Folgen haben, die mit dem Projekt der höch­sten Vernunft in dem ganzen Umfange der Verbindungen wohl zusammen­stimmet?" (A 194) Die Natur  wird  also nicht durch "Zwang", sondern durch "Ha­ng" in den "Gleise der Ord­nung und der gemein­schaftli­chen Harmonie" gebracht, so daß die "Wech­sel­wirkung der Elemente" sowohl "zur Schönheit der mate­ria­lischen und doch auch zu­gleich zu den Vorteilen der Geister­welt" füh­rt. Die "Ver­wandschaft" der Elemente ent­springt aus ihrer "Gemein­schaft" mit dem (göttli­chen) Ur­sprung (A 194-195).[13]

Angesichts dieser durchaus ernst ge­meinten "Mutma­ßun­gen" ist die Nähe Kants zu den astrotheo­lo­gischen Betrach­tungen eines Thomas Wright, sowie zur dich­te­ri­schen Phanta­sie eines Popes oder von Hallers unver­kenn­bar. In dieser Nähe liegt auch der Grund für sei­nen zehn Jahre spä­ter erfolgten Bruch mit der visionären Astrotheo­logie Swe­denborgs sowie für den Vergleich zwischen der spekulati­ven Metaphysik und den Wahnvortellun­gen. Es ist wahrschein­lich nicht übertrieben zu behaupten, daß Sweden­borg ihn aus sei­nen träumerischen astrotheologi­schen Speku­lationen weck­te. Der Gedanke einer "verbesserten Methode der Physikotheo­lo­gie" gegenüber den metaphysischen Spekulationen kommt auch in der Schrift: "Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer De­mon­stration des Daseins Gottes" (1762/63) deutlich zum Ausdruck. Die Physikotheologie bietet sich als Alternative zur Metaphysik. Der "bodenlose Abgrund der Metaphysik" ist "ein finsterer Ozean ohne Ufer und ohne Leuchtürme, wo man es wie der See­fahrer auf einem unbeschifften Meere anfangen muß, welcher, so bald er ir­gendwo Land betritt, seine Fahrt prüft und untersucht, ob nicht etwa unbemerkte Seeströme seinen Lauf verwirrt haben, aller Behutsamkeit ungeachtet, die die Kunst zu schiffen nur immer gebieten mag" (Vorrede, A 5).

Wenige Jahre nach dieser Schrift verwirft Kant diese Alter­native: Metaphysik und Physikotheologie sind im Grunde nur zwei Seiten derselben dogmatischen Medaille. Die Zeit zwi­schen 1762 und 1770 ist Rousseau, Hume und Swedenborg ge­prägt. Durch Rousseau erwacht im reinen Forschergeist das Gewissen.[14] Hume unterbricht im Jahre 1769 seinen "dog­ma­ti­schen Schlum­mer" (Prolegomena A 12).[15] Dazwischen liegt die Abkehr von der (verbesserten) Physikotheologie. Der Ver­g­leich zwi­schen den metaphysi­schen Speku­lationen und den Hallu­zina­tionen wird durch die Lektüre von Swedenborgs "Ar­cana coelestia" zwingend. Die Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn wird aber schon teilweise durch die Schrift "Ver­such über die Krankheiten des Kopfes" (1764) vorweggenom­men. Die Meta­physik­kri­tik gibt Kant ei­nen Schlü­s­sel für die Ab­gren­zung zwischen Vernunft und Wahnsinn - und umge­kehrt. Zu­nächst zur Metaphysikkritik.


3. Kants Metaphysikkritik in "Träume eines Geistersehers"


Man könnte Kants Metaphysikkritik im ersten Hauptstück der "Träume" als eine 'Dekonstruktion' im Sinne Derridas auf­fassen. Was wird dekonstruiert? Nicht mehr und nicht weni­ger als der Begriff des 'Geistes' bzw. der 'Geister­welt'. Wört­lich heißt der Titel: "Erster Teil, welcher dog­matisch ist. Erstes Hauptstück. Ein ver­wickelter metaphysi­scher Knoten, den man nach Be­lie­ben auf­lösen oder abhauen kann." Die De­konstruktion fängt mit folgendem Satz an: "Wenn alles dasje­nige, was von Geistern der Schulknabe herbetet, der große Haufe erzählt und der Philosoph demonstriert, zusam­mengenom­men wird, so scheint es keinen kleinen Teil von unserem Wissen auszumachen." (Träume, 319) Schulknaben, (dogmati­sche) Philosophen und "der große Haufe" gehören in ihrer Leicht- und Geistergläubigkeit zusammen. Vor der ontologi­schen Frage, ob es Geister gibt, stellt Kant die dekonstruk­tivistische bzw. hermeneutische Frage, was denn eigentlich mit 'Geist' gemeint ist ("ich weiß nicht einmal, was das Wort Geist bedeute." a.a.O.).

Ein Geist, so lau­tet die gemei­ne Definition, ist "ein Wesen, welches Ver­nunft hat" (ibid.) Da Menschen Vernunft haben, folgt man daraus, daß wer Men­schen sieht, auch Geister sieht, wobei der Geist "nur ein Teil vom Menschen" ist (ibid.). Viele Begriffe entsprin­gen "durch geheime und dunkle Schlüs­se bei Gelegen­heit der Er­fahrungen und pflanzen sich naher auf andere fort, ohne Bewußtsein der Erfahrung selbst oder des Schlus­ses, welcher den Begriff über dieselbe er­richtet" (Träume 320, Fußnote). Sie heißen "erschliche­ne" Begrif­fe. Was sind also Geister? Ant­wort: einfache (nicht-materielle, nicht-raumfül­lende, nicht-teil­bare) Sub­stanzen, die Vernunft haben.

Beweise für die Existenz solcher Naturen findet man, so Kant, in den Schriften der "Philosophen", so z.B. bei Baum­gar­ten (Metaphysica § 742), der ausgehend vom Leibnizens 'Prinzip vom zureichenden Grunde' die Existenz einer "mate­ria cogi­tans" für unmöglich erklärt. Daraus folgt die Exi­stenz einer in­tel­lektuel­len Substanz ("spiritus") sowie eines "geistigen Leibes" ("corpus mysticum") oder einer Gemeinschaft der Geister. Kant zeigt sich dabei zwar kri­tisch aber nicht ablehnend, denn das, was als "un­denk­lich" erscheint - nämlich etwas, das wirken kann, ohne Raum zu er­füllen -, muß man nicht für "unmöglich" halten. Der Geist - eine weder be­weisbare noch widerleg­bare Hypothese.

Die meta­physi­schen Fragen in bezug auf die Seele des Menschen häufen sich: Wo ist ihr Ort im Körper? Ist mein Ich in einem Ort? Wie soll man die gemeine Erfahrung interpre­tieren: - "Wo ich emfpinde, da bin ich" (Träume 324)?
- Hat die Seele "ihren Sitz im Ge­hirne" (in einem "unbeschreiblich kleinen Platz") oder ist sie wie "die Spinne im Mittelpunkt ihres Gewebes"? (Träume 325)
- Verschlucken wir dann im Kaffee Atome, "woraus Menschen­seelen werden sollen?!, wie eine Anek­dote über ein Gespräch zwischen Leibniz und einem Freund in einem Kaffee­haus im Leipzig berichtet? (Träume 327).[1
6]

Eine traurige Konsequenz wäre, daß Philosophen kein 'café-au-lait' mit ir­gendjemandem trinken sollten! Wer träumt? Der Idealist oder der Mate­rialist? Kants Antwort, die aufgrund des Kon­textes der Schrift 'cum grano salis' ernstgenommen werden sollte, lautet: "Ich gestehe, daß ich sehr geneigt sei, das Dasein immate­riel­ler Naturen in der Welt zu behaupten und meine Seele selbst in die Klasse dieser Wesen zu versetzen." (Tr­äume 327) Diese positive Stellungnahme zugunsten der idea­listischen Meta­physik wird aber sofort gemildert:

"Alsdann aber wie geheim­nisvoll wird nicht die Gemeinschaft zwischen einem Geiste und einem Körper!" Für dieses Gefühl des Nicht-Verstehens oder des Halb-Verstehens hat er eine skeptische Erklä­rung parat: "Aber wie natürlich ist nicht zugleich diese Unbegreiflich­keit, da unsere Begriffe äußerer Handlun­gen von denen der Materie abgezogen werden und jederzeit mit den Bedingungen des Druckes oder Stoßes verbunden sind, die hier  nicht stat­tfinden!" (Träume 327).

Mit anderen Worten, die idealistische Metaphy­sik ist sich nicht bewußt, daß sie das 'primum analogatum' unserer Begriffe, nämlich die empi­rische Erfah­rung, zu einem Abgeleiteten macht, und somit zu begriffli­chen Ungereimt­heiten und zu unhaltbaren  Existenz­po­stulaten geführt wird. Dennoch wird die metaphysische Frage nach dem Verhältnis zwischen der Seele und den "Ele­mentarteilchen der Materie" durch diese Dekonstruk­tion des metaphysichen Gei­stesbegriffs nicht weniger rätsel­haft. Mit einer bloßen materialistischen Um­kehrung wird sie nicht minder meta­physich-dogmatisch.

Die darauffolgende Kritik des Begriffs der 'Geisterwelt' bildet den Übergang zu Swedenborg und somit zum Vergleich zwischen der metaphysischen Begriffstäuschung und der Täu­schung durch eine krankhafte Einbildung. Sie führt  zur Grun­deinsicht der gesamten Abhand­lung, nämlich: "In gewis­ser Verwand­schaft mit den Träumern der Vernunft stehen die Träu­mer der Empfindung, und unter diese werden gemei­niglich diejenigen, so bisweilen mit Geistern zu tun haben, gezählt, und zwar aus dem nämli­chen Grunde wie die vorigen, weil sie etwas sehen, was kein anderer gesunder Mensch sieht, und ihre eigene Gemein­schaft mit Wesen haben, die sich niemand sonst offenbaren, so gute Sinne er auch haben mag." (Träume 342).


III. Eine Antwort, die auch dem Vortragenden 'frag-würdig' bleibt

Metaphysik als eine dem Wahnsinn vergleichbare Form des Denkens oder vielmehr als "eine Wissenschaft von den Gren­zen der menschlichen Vernunft" (Träume 368).

Diese Antwort bleibt zunächst deshalb dem Vortragenden 'frag-würdig', weil ein kritischer grenzziehender Diskurs über den Wahn­sinn ein äußerlicher Diskurs bleibt. Sodann aber ist die Kantische Grenzziehung, wie jede Grenz­ziehung, immer 'frag-würdig', da sie eine genaue Kenntnis des Landes vor­aussetzt, wovon sie sich abgrenzen will, sowie auch eine ge­naue Kenntnis des eigenen Landes, was wiederum ohne besag­ter Aus­landserfahrung nicht geht. Wir können bekanntlich aus die­sem Zir­kel nicht heraus, aber es fragt sich, ob die Art und Weise, wie wir uns in ihm vernünftig bewegen kön­nen, nur in der Alternative 'dogmatisch oder (transzdental-)kritisch' besteht.

Es ist vielmehr die Frage, ob es nicht andere For­men der Nach­barschaftsbeziehungen gibt, welche, ohne die Diffe­renzen aufzuheben oder zu ver­tuschen, doch von der Bemühung um ein Verhältnis, und nicht so sehr (oder nicht allein) von einer Eingrenzung, geleitet werden. Ich meine, daß diese Frage der Freud­schen Psychoana­lyse zugrun­de­liegt. Zunächst aber zu Kant und Swedenborg.

1. Wer war Emanuel Swedenborg?

Emanuel Swedenborg (1688-1772) wurde in Stockholm geboren. Der Vater, Jesper Swedenborg, war der spätere Bischof von Skra. Die Fami­lie wurde 1719 von Königin Ulrike Eleonore  ge­adelt und trägt von da an den Namen Swedenborg (bis zur Nobi­litierung: Svedberg). Emanuel wächst im Hause eines Lu­theraners, dessen religiö­se Praxis pietis­tische Züge trä­gt: Glaube an direkte Einwirkung der himmlischen auf die irdi­sche Welt und Betonung der tätigen Seite des Christen­tums.

Während seine Studienenjahre in England zeigt Swedenborg großes Interesse an Ma­thematik, Astrono­mie, Physik, Geolo­gie und verschreibt sich ganz den quanti­tativen Wissenschaf­ten. Er betätigt sich als Ingenieur im Bergbau und macht zahlrei­che Erfindungen (Pumpen, Schleusen, Projek­tierung eines Flugzeugs). 1734 erscheint in drei Bänden "Opera Phi­loso­phi­ca et Mine­ralia" und 1744-45 das "Regnum Animale". Um 1745 war Swedenborg ein  berühmter und ergei­zi­ger Ge­lehr­ter, Mitglied der Schw­edi­schen Akade­mie der Wis­sen­schaf­ten und bis zum Tode Karls XII, dessen enger Bera­ter. Er unternahm viele Reisen durch Europa: außer Leib­niz lernte er alle Grö­ßen der Wis­senschaft kennen. Auf die­sem Höhepunkt, bricht er 1745 aufgrund einer Offenba­rung, seine naturwissenschaftli­che Laufbahn ab.[17] "Ex visis et auditis" be­richtet er in den dar­auffol­genden Jahren in 20.­000 Sei­ten.­ Sein Haup­t­werk, "Arcana coele­stia" (8 Bän­de, 1749-175­6), das Kants Neugier weck­te, ist eine Sc­hri­f­t­auslegung (G­enesis, Exo­dus). [18]

Kants Brief an Swedenborg (vor 1763) ist nicht er­halten. Er blieb unbeantwortet. Über die Echtheit eines Briefes an Charlotte von Knob­loch vom 10. August 1763, in dem Kant sich über die hellseherischen Fähigkeiten Swe­den­borgs äußert, gibt es begründe­te Zweifel.[19] In seiner Metaphysik-Vorle­sung (zw. 1762-1764) nimmt Kant ei­ne zwar kritische aber keine spöttische Einstellung gegen­über Swedenborg. [20] Die "Träume" wurden am 31. Januar 1766 gedruckt.[21].
 

2. Kants "Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Vernunft"

 
"Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten", so lautet der erste Satz der Kantischen Schrift. Gleich zu Beginn ist die Rede von "hypochondrischen Dünsten", "Ammen­mär­chen" und "Klosterwun­dern" in einem Atem mit den "Lehr­verfassungen" der Philosophen und dem "heiligen Rom". Und er beklagt sich darüber "ein großes Werk gekauft und, welches noch schlimmer ist, gelesen" zu haben, nämlich Swedenborgs "Arcana coelestia" - "und diese Mühe sollte nicht verloren sein"! (Träume 318). Diese persönliche Kompensation wurde aber auch durch "das ungestüme Anhalten bekannter und unbe­kannter Freun­de" veranlaßt. Dem Autor (die Schrift erschien anonym) ist das Thema offenbar peinlich. Er sucht eine Ab­grenzung mittels Ironie und Spott.

Im schon erwähnten Übergang vom "dogmatischen" zum "histori­schen" Teil der Schrift (I. Teil. 3. Hauptst.: "Antikabbala. Ein Fragment der gemeinen Philosophie, die Ge­meinschaft mit der Geisterwelt aufzuheben"), in dem Kant die Träumer der Ver­nunft mit denen der Empfindung "in gewisser Verwand­schaft" sieht (Träume 342), zitiert er Aristoteles (in Wahr­heit Hera­klit, Fr. 89): "Wenn wir wachen, so haben wir eine gemein­schaftliche Welt, träumen wir aber, so hat ein jeder seine eigene". [22]

Kant unterscheidet zwischen einem Träu­mer, der sich Chimären im Wachen ausdenkt ("ein wachender Träu­me­r"), sie aber von den Gegen­stän­den "außer sich" unter­schei­det, und einem "Gei­ster­seher", der im Wachen Gegen­stände   ­proji­ziert und als äußerlich empfindet, so daß er sie nicht von den tatsächlichen äußeren Ge­gen­ständen unterschei­det. An­hand der Analogie mit dem "focus imaginarius" eines Hohl­spiegels sucht Kant nach einer physiologischen Erklärung dieser Krank­heit, nämlich, daß "gewisse Organe des Gehirnes so verzogen (...) seien, daß die Bewe­gung der Ner­ven, die mit einigen Phantasien harmonisch be­ben, nach sol­chen Rich­tungslinien geschieht, welche fort­gezogen sich außerhalb dem Gehirne durchkreuzen würden" (Träume 346). Der "Wahnsinn" ist, im Gegensatz zum "Wahnwit­ze", eine Kran­kheit der Wahr­nehmung, eine Verwirrung des Sinnes, nicht der Vernunft (Träume 361). [23]

Daher die "Verwandschaft" im Hinblick auf die Erzeugung von Begriffschimären zwi­schen Metaphy­sik und "Wahnsinn", die insofern größer ist als die zwischen Meta­physik und "Wahnwitz", als im Falle des "Wahnsinns" "Schei­n­gründe" im Spiele sind, jeweils im Dien­ste von hallu­zinier­ten oder von spekulativen Vi­sio­nen. Da aber der "Wahn­sinn" keine verstandesmäßige, sondern eine organi­sche Krank­heit ist, lautet Kants therapeu­ti­scher Vor­schlag letztlich nicht "er­läutern", sondern "purgieren" (Trä­ume 348). Die erläu­ternde Therapie für den Metaphysiker wird er erst in der "Kritik der reinen Vernunft" ausführlich entwic­keln. Anstel­le von Metaphysik und "Wahnsinn" tritt, wie spä­ter in der "Kritik der praktischen Vernunft", der "mora­li­sche Glau­be"  ein (Trä­ume 373).
 

Was ist also Metaphysik? Antwort:

"Insofern ist die Metaphy­sik eine Wissenschaft von den Gren­zen der menschlichen Ver­nunft und, da ein kleines Land je­derzeit viel Grenze hat, überhaupt auch mehr dran liegt, seine Besit­zungen wohl zu kennen und zu  behaupten, als blin­dlings auf Eroberugnen auszugehen (...) Ich habe diese Grenze hier zwar nicht genau bestimmt, aber doch insoweit gezeigt, daß der Leser bei weiterem Nachdenken finden wird, er könne sich aller ver­geblichen Nachforschungen überheben in Ansehung einer Frage, wozu Data in einer anderen Welt, als in welcher er empfin­det, anzutreffen sind. Ich habe also meine Zeit verloren, damit ich sie gewönne. Ich habe meinen Leser hintergangen, damit ich ihm nützte, und wenn ich ihm gleich keine neue Einsicht darbot, so vertilgte ich doch den Wahn und das eitle Wissen, welches den Verstand aufbläht und in seinem engen Raume den Platz ausfüllt, den die Lehren der Weisheit und der nützlichen Unterweisung einnehmen könnten." (Träume 368).


3. Von Grenzen und Übergängen

Ernst Cassirer bemerkt, daß "wenn man von den Schriften des Jahres 1763 zu den "Träu­men eines Geistersehers" gelangt, so fühlt man mit der ver­änder­ten literarischen Atmosphäre, in die man hier ein­tritt, auch die Gesamtstimmung des Denkens geändert." Der "neue Stil" ist Zeugnis von einer "neuen Denkart". Die Form ist leicht, aber in Gehalt ist sie der Ab­schluß  einer "schwierigen theoretischen Gedankenentwick­lung".[24] Die Träume der Einbildungskraft sind die Rückseite der rationalistischen Träume. Die Philoso­phie der Aufklä­rung hat im Kampf gegen das Schatten­reich die Schranke der Speku­lation geöffnet. Wenn diese Schranke durch die kriti­sche Philosophie wieder dicht ge­macht wird, dann treten die Fra­gen der Ethik in den Vorder­grund. Das Reich der Gei­ster wird durch das Reich der Zwecke ersetzt. Der Glaube an die Ge­meinschaft der Vernunftwesen braucht aber keine speku­lati­ve Fundierung und keine Bilder. Der Philosophie wird zur Wis­senschaft des Grenzziehens und der Philosoph zum (verbeamteten) Grenzwächter.

In den "Prolegomena" (1783) schreibt Kant: "alle Handlungen vernünftiger We­sen, so fern sie Er­scheinungen sind (in ir­gend einer Er­fah­rung ange­troffen wer­den), stehen unter der Natur­notwen­dig­keit; eben die­sel­be Hand­lungen aber, bloß respective auf das ver­nünfti­ge Sub­jekt, und dessen Vermögen, nach bloßer Ver­nunft zu han­deln, sind frei." (Proleg. A 154)

Und in der "Metaphysik der Sitten" (1785) ("Einleitung zur Tug­endlehre") heißt es:

"Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von ei­ner Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Ge­setz; dieser Zwang mag nur ein äußerer oder ein Selbs­tzwang sein. Der mora­lische Imperativ verkündigt, durch seinen kategorischen An­spruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwa­ng, der also nicht auf vernünftige Wesen überhaupt (deren es etwa auch heilige geben könnte), sondern auf Men­schen als vernünftige Naturwe­sen geht, die dazu unhei­lig genug sind, daß sie die Lust wohl anwandeln kann, das mora­lische Gesetz, ob sie gleich dessen Ansehen selbst anerken­nen, doch zu übertreten und, selbst wenn sie es befolgen, es den­noch ungern (mit Widerstand ihrer Nei­gung) zu tun, als worin der Zwang ei­gentlich besteht." (MdS A 2)

"Ver­nünftige" (sogar "heilige"!) "Wesen", "das venünftige Sub­jek­t", "Ver­nunft­grün­den", "Prin­zipien der Vernunft", "Dinge an sich selb­st", "noumena", "intelligibile Welt"... Offenbar lassen die Kan­ti­schen Grenzbeamte einige Übergän­ge offen, zumin­dest, wenn man amtliche Pässe vorweisen kann.
 

Schluß

An dieser Stelle könnte ein Gespräch über das Verhältnis von Wissenschaft, Metaphysik, Wahnsinn, Esoterik und Mystik beginnen. Ich beschränke mich auf folgende Be­merkungen:

1. Swedenborg ist nicht Johannes von Kreuz oder Theresa von Avila. Das gilt m.E. für die literarische Qualität ihrer Werke, aber auch für die Unterschiede ihrer existentiellen Zeugnisse: Swe­denborg weiß etwas (aufgrund von Visionen), er behauptet allein davon zu wissen, und er verkündet diese Wahrheit zum Heil der Menschen (Sendungsbewußtsein). Der My­stiker erinnert eher an Kant: er weiß nichts ("nada"), er/­sie stellt den Nutzen von Visionen in Frage (sie dienen auf keinem Fall zur priva­ten Wissens­quelle), die mystische Er­fah­rung ist ein Weg der Auflösung des Ich. Ausdruck der mystischen Erfahrung sind - Liebesgedichte. Es kommt darauf an, ob das Verhält­nis zum 'Numino­sen' (ein­schließlich des eigenen 'ich') ein, um mit Heideg­ger zu sprechen, 'ge-lasse­nes' oder ein objektivieren­des (oder gar fetischisie­rendes) ist. [25]

Inwiefern gilt die Kantische Alternati­ve: Metaphysik und Wahnsinn (einschl. Mystik) auf der einen und  kritische (Tra­nszendental-)Phi­losophie auf der anderen Seite? In einem Anhang zur Schrift "Der Streit der Fakultäten" läßt Kant einen Brief von Wil­mans, der eine Arbeit mit dem Titel "De similitu­dine inter Mysticismum purum et Kantianam religionis doc­trinam" geschrieben hatte - abdrucken, indem er zugleich "jene Ähnlichkeit" bestreitet (Streit, A 115-127).

Dazu bemerkt Reiner Wimmer: "Es ist aber gerade fraglich, ob der hier von Kant (und Jachmann) unterstellte Begriff von Mystik allen Überlieferungen inner- wie außerhalb des Chri­stentums, die traditionell der Mystik oder mystischen (nega­tiven) Theologie zugeordnet werden, gerecht wird. Und auch den Gebrauch, den Wittgenstein im Tractatus und den ihn beglei­tenden Tagebüchern von dem Ausdruck 'das Mystische' macht, widerspricht dem von Kant fast ausschließlich ins Auge ge­faßte", nämlich die (Un-)Möglichkeit einer übersinn­lichen Erfahrung.[26] 

2. Wie ist eine Kritik der delirierenden Vernunft möglich? Diese Frage ist doppeldeutig: sie fragt, welche sind die, im Kantischen Sinne, transzendentalen Bedingungen der Möglich­keit der 'gesun­den' Vernunft. Sie fragt aber auch, über Kant hinaus, wie eine solche Kri­tik wiederum möglich sei. Ich ver­weise auf die The­sen von Monique David-Ménard. Sie be­hauptet, daß die Auseinanderset­zung Kant/­Swe­den­borg ein Hauptthema der "Kritik der reinen Vernunft" ist. Ferner zeigt sie, daß die Idee der Realität - und die Frage: was ist die Realität? ist die metaphysische Frage par ex­cellen­ce - nicht, wie bei Kant, Gegenstand einer einzigen Kon­struk­tion werden kann, in der dann die 'objektive' und die hallu­zinie­rende oder 'ob­jektale Reali­tät' vereinigt wären. Das heißt nicht, so David-Ménard, daß man die Frage nach der Realität wiederum einseitig im Rahmen einer psychoanaly­ti­schen Theorie des Glaubens und des Begehrens stellen soll­te.[27]

Die Frage nach der Strukturierung des Ge­gen­standes des Begehrens ersetzt nicht die Frage nach der Stru­kturie­rung des Gegenstandes der Erkenntnis. Die Kanti­schen Antino­mien erscheinen, vor dem Hintergrund der Freud­schen "Ver­neinung", sowohl typogra­phisch als auch inhalt­lich, als ein "paranoisches Verhält­nis". Der Verstand hat Erfolg dort, wo die antinomische Vernunft scheitert. Dem entspricht Freuds Einsicht in bezug auf seinen Verhältnis zu Fließ: "Ich hatte Erfolg dort, wo der Paranoiker scheiter­te". Indem aber Kant seinen Wunsch intellektualisiert, deso­lidarisiert er sich von der Sache und verdrängt sie. Die Kluft zwischen dem un­möglichen Gegenstand des Begehrens und ihrer Substitute blei­bt bestehen. David-Ménard schreibt die Problematik der Realität in die des Glaubens (und Begehrens) ein. Dann ist aber die Vernunft in der Philoso­phie, d.h. dort, wo sie nicht bloß mit 'Problemen', sondern mit dem 'Problemati­schen' zu tun hat, nicht nur mit sich selbst allein.

3. Der Bezug zum delirierenden Diskurs konstituiert die Philosophie als Philosophie. Von Sokrates' Daimon bis Hei­deggers Verborgenheit. Welche Verhältnismöglichkeiten gibt es zwi­schen dem gemeinen Wahnsinn und der gemeinen Vernunft? Wer bestimmt die Grenzen zwischen dem privaten Wahn und der sozia­len Normalität (der "Kommunikationsgemein­schaft") und wie können sie verän­dert werden? Wie ist das Verhält­nis zwi­schen phi­loso­phischen und künst­lerischen, zum Beispiel sur­realistischen, Gren­züber­schrei­tungen? Ist Meta­physik eine Tätig­keit der Grenz­ziehung oder der Grenz­über­schreitung? oder beides zu­gleich?

 
Ich schließe, wie üblich, mit einem Zitat und einer kurzen Bemerkung. Das Zitat stammt von Odo Marquard und lautet:

"Die Metaphysik ist jene kognitive Branche, die Probleme hat, mit denen sie nicht fertig wird; und die Theodizee ist das - wie ich hier partiell mitbelegt zu haben glau­be - in exemplarischer Weise. Probleme zu haben, mit denen man nicht fertig wird, ist wissenschaftstheoretisch ärger­lich, aber menschlich normal. (...) Es existieren mensch­liche Probleme, bei denen es gegen­menschlich, also ein Lebenskunstfehler wäre, sie nicht zu haben, und übermensch­lich, also ein Le­benskunstfehler, sie zu lösen. Die skep­tische Kunst, diese Kunstfehler nicht zu begehen, ist die Metaphysik; und pro­fessionelle Metaphysi­ker sind Leute, die sorgfältig und erfolgreich gelernt haben, mit Proble­men nicht fertigzuwer­den: gerade darin liegt ihr Wert. Freilich: wer auf ein Problem gar keine Antwort gibt, ver­liert schließlich das Problem; das ist nicht gut. Wer auf ein Problem nur eine Antwort gibt, gla­ubt das Pro­blem ge­löst zu haben und wird leicht dogma­tisch: auch das ist nicht gut. Am besten ist es, zu viele Antworten zu geben: das - etwa bei der Theodizee - bewahrt das Problem, ohne es wirklich zu lösen".[28]

Für metaphysische Fra­gen von der Art 'was ist die Reali­tät?', wodurch die men­sch­liche Existenz offengehalten wird, gibt es keine Lösungen, sondern höch­stens 'frag-würdige' "Auf­lösun­gen". Alles Leben ist also nicht, wie Popper meint, Problem­lösen. Metaphysik ist die Kunst des Umgangs mit dem Problematischen, das wir selbst sind. Übergänge zu schaffen ist nicht leichter als Grenzen zu ziehen.

 

Exkurs: Freud und die Philosophie


Paul-Laurent Assoun: Freud, la philosophie et les phi­loso­phes (PUF, 1995)

Philosophie und Paranoia

-> Totem und Tabu

"Die Neurosen zeigen einerseits auffällige und tiefrei­chende Übereinstimmungen mit den großen sozialen Produk­tionen der Kunst, der Religion und der Philosophie, ande­rerseits erscheinen sie wie Verzerrungen derselben. Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems. Diese Abweichung führt sich in letzter Auflösung darauf zurük, daß die Neurosen asoziale Bildungen sind; sie su­chen mit privaten Mitteln zu leisten, was in der Gesell­schaft durch kollektive Arbeit entstand." (S. Freud: Totem und Tabu, Studienausgabe, Bd. IX, S. 363) [29]

Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psy­cho­analyse I, S. 588: 

"Die Philosophie ist der Wissen­schaft nicht gegensätzlich, sie gebärdet sich selbst wie eine Wissenschaft, arbeitet zum Teil mit den gleichen Me­thoden, entfernt sich aber von ihr, indem sie an der Illu­sion fes­thält, ein lückenloses und zusammenhängendes Welt­bild lie­fern zu können, das doch bei jedem neuen Fortschriftt un­seres Wissens zusammenbre­chen muß".

Vgl. a.a.O.: Okkultismus

"Der Okkultismus behauptet die reale Existenz jener "Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen läßt" (Shakespeare, Hamlet, I. Akt, 5. Szene). Nun, wir wollen nicht an der Engherzigkeit der Schu­le festhalten; wir sind bereit zu glauben, was man uns glau­bwürdig macht." (S. 472)

Marmeladenhypothese: (S. 473)

"das Erdinnere sei mit Kohlensäure gesättigtes Wasser, also eine Art Sodawasser" "wir werden gewiß sagen, das ist sehr unwahrscheinlich"

"Aber nun kommt ein anderer mit der ernsthaften Behaup­tung, der Erdkern bestehe aus Marmelade!" (S. 473)

"Eine ganze Anzahl der okkultistischen Behauptungen wirkt auf uns ähnlich wie die Marmeladenhypothese, so daß wir uns berechtigt glauben, sie ohne Nachprüfung von vornher­ein abzuweisen. Aber es ist doch nicht so einfach. Ein Vergleich wie der von mir gewählte beweist nichts, beweist so wenig wie überhaupt Vergleiche."

Mystik (a.a.O. Neue Folge)

"daß es gewissen mystischen Praktiken gelingen mag, die normalen Beziehungen zwischen den einzelnen seelischen Be­zirken umzuwerfen, so daß z.B. die Wahrnehmung Verhält­nisse im tiefen Ich und im Es erfassen kann, die ihr sonst unzu­gänglich  waren. Ob man auf diesem Weg der letzten Wei­shei­ten habhaft werden wrd, von denen man alles Heil erwartet, darf man getrost bezweifeln. Immerhin wollen wir zugeben, daß die therapeutischen Bemühungen der Psychoana­lyse sich einen ähnlichen Angriffspunkt gewählt haben. Ihre Absicht ist ja, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organi­sation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneig­nen kann. Wo es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuyder­see." (S. 516)


Philosophie und Animismus (a.a.O. Neue Folge)

"Sie wissen, wie schwer etwas untergeht, was sich einmal psychischen Ausdruck verschafft hat. Sie werden also nicht überrascht sein zu hören, daß viele Äußerungen des Animis­mus sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben, meist als sogenannter Aberglaube, neben und hinter der Religion. Aber mehr nocht, Sie werden das Urteil kaum abweisen kön­nen, daß unsere Philosophie wesentliche Züge der animisti­schen Denk­weise bewahrt hat, die Überschätzung des Wort­zaubers, den Glauben, daß die realen Vorgänge in der Welt die Wege gehen, die unser Denken ihnen anweisen will. Es wäre freilich ein Animismus ohne magische Handlungen." (S. 593)


Freud und Kant


Jenseits des Lustprinzips, Kap. IV: die reizaufnehmende Rindenschicht hat sich (bei den hochentwickelten Organismenen in die Tiefe des Körperinnern zurügezogen, zugleich aber sind Anteile von ihr an der Ober­fläche unmittelbar unter dem allgemeinen Reizschutz zurück­gelassen: die Sinnesorgane. Diese können nur geringe Quanti­täten des äußeren Reizes verarbeiten (nur  Stichpro­ben:)


"Vielleicht darf man sie Fühlern vergleichen, die sich an die Außenwelt herantasten und dann immer wieder von ihr zurückziehen. Ich gestatte mir an dieser Stelle ein Thema flüchtig zu berühren, welches die gründlichste Behandlung verdienen würde. Der Kantsche Satz, daß Zeit und Raum notwendige For­men unseren Denkens sind, kann heute infolge gewisser psy­choanalytischer Erkenntnisse einer Diskussion unterzo­gen werden. Wir haben erfahren, daßdie unbewußten Seelen­vorgänge an sich "zeitlos" sind. Das heißt zunächst, daß sie nicht zeitlich geordnet werden, daß die Zeit nichts an ihnen ver­ändert, daß man die Zeitvorstellung nicht an sie heranbrin­gen kann. Es sich dies negative Charaktere, die man sich nur durch Vergleichung mit den bewußten seeli­schen Prozessen deutlich machen kann. Unsere abstrakte Zeitvorstellung sche­int vielmehr durchaus von der Arbeits­weise des Systems W-Bw hergeholt zu sein und einer Selbst­wahrnehmung derselben zu entsprechen." (S. 238)


Vgl. Notiz über den "Wunderblock"

Wachstafel                               Ubw     

-------------

Wachspapier                            Bw      

 

Zelluloid                                    Wahrnehmung

(Reizschutz)

-------------

Außenwelt

- Fühler des Ubw

- Kein Reizschutz nach Innen

- Neigung sich so zu verhalten, als ob die Reize, die vom Ubw kommen, von Außen kämen: Projektion (wenn die inneren Erregungen zu große Unlust verursachen)

- Trauma: Durchbrechung des Reizschutzes, Überschwemmung des seelischen Apparates.

"Es wäre so, als ob das Unbewußtse mittels des Systems W-Bw der Außenwelt Fühler entgegenstrecken würde, die rasch zu­rückgezogen werden, nachdem sie deren Erregungen verko­stet haben. (...)

Ich vermute ferner, daß diese diskontinuierliche Arbeits­weise des Systems W-Bw der Entstehung der Zeitvorstellung zugrunde liegt. Denkt man sich, daß während eine Hand die Oberfläche des Wunderblocks beschreibt, eine andere peri­odisch das Deck­blatt desselben von der Wachstafel abhebt, so wäre das eine Versinnlichung der Art, wie ich mir die Funk­tion un­seres seelischen Wahrnehmungsapparats vorstel­len wollte" (S. 369)


Freud und Schopenhauer


Die Traumdeutung

"Für eine Reihe von Autoren wurde der Gedankengang maßge­bend, den der Philosoph Schopenhauer im Jahre 1851 ent­wickelt hat. Das Weltbild entsteht in uns dadurch, daß unser Intellekt die ihn von außen treffenden Eindrücke in die Formen der Zeit, des Raums und der Kausalität umgießt. Die Reize aus dem Inneren des Organismus, vom sympatischen Ner­vensystem her, äußern bei Tag höchstens einenunbewußten Einfluß auf unsere Stimmung. Bei Nacht aber, wenndie über­täubende Wirkung der Tageseindrücke aufgehört hat, vermö­gen jene aus dem Innern heraufdringenden Eindrücke sich Aufmerk­samkeit zu verschaffen - ähnlich wir wir bei Nacht die Quel­len rieseln hören, die der Lärm des Tages unver­nehmbar mach­te." (S. 61) [3 0]

Assouns Thesen

- der Philosoph geht von den Dingen zu den Worten. Philo­so­phen sind Fetischisten: sie interessieren sich für die Klei­der der Frauen, nicht für deren Leiber. (S. 32, in An­schluß an Freuds Beschreibung eines Falls von Fetischis­mus)

- psychologistische (materialistische) Deu­tung Kants (auf der Basis der Philosophie Schopenhauers): Die Seele wäre letztlich ausgedehnt (Grenzidee) (S. 221)



  
    
  

Anmerkungen

[1] G.W. Leibniz: Metaphysische Abhandlung. In: ibid.: Philo­sophische Schriften, Hrsg. H.H. Holz (Darmstadt: Wiss­.Bu­chges. 1985) S. 57.

[2] Vgl. v.Vf.: Ein Grinsen ohne Katze, a.a.O. S. 97.

[3] G.W. Leibniz: Neues System der Natur und des Verkehrs der Sub­stanzen sowie der Verbindung, die es zwischen Seele und Kör­per gibt. In: ibid.: Philosophische Schriften, Hrsg. H.H. Holz (Darmstadt: Wiss.Buchges. 1985) S. 219.

[4] Leibniz' "prästabilierte Harmonie" zwischen Seele und Körper schließt sowohl den "Weg des Einflusses" als auch den des gött­lichen "Beistandes" aus (ibid. S. 245). Er ver­gleicht diese Harmonie mit der zwischen zwei aufein­ander einge­stellten "Pen­del­uhren", die sich weder gegen­seitig durch einen "natür­lichen Einfluß" einstimmen, noch durch einen "ge­schickten Arbeiter" ständig überwacht werden, son­dern mit "so viel Kunst und Genauig­keit" herge­stellt werden ("de faire d'abord ces deux pendules avec tant d'art et de justes­se"), "daß man in de Folge ihrer Über­einstimmun­gen sicher sein ka­nn." (a.a.O. S. 239).

[5] G.W. Leibniz: Monadologie. In: ibid.: Philosophi­sche Schriften, Hrsg. H.H. Holz (Darms­tadt: Wiss.Buchges. 1985) S. 81.

[6] Ch. Wolff: Deut­sche Me­taphysik ("Ver­nünf­tige Ge­danken von Gott, der Welt und der Seele des Men­schen, auch allen Din­gen über­haupt" (Hal­le 1720), A. Baumgarten: Metaphysica (1766).

[7] Um­gekehrt heißt es auch, daß Dinge, die nicht in dieser Welt in ei­nen wirk­li­chen Verhältnis mit den anderen Dingen stehen, zwar nicht zu dieser Welt gehören, aber doch in einer an­deren Welt exi­stieren könnten. Denn "es ist würk­lich mög­lich, daß Gott viel Millionen Welten, auch in recht meta­physi­scher Bedeu­tung genom­men, erschaffen habe; daher ble­ibet es unentschie­den, ob sie auch würklich existie­ren, oder nic­ht." vgl. § 11: wo Kant die Möglichkeit "vieler Wel­ten" für eine spätere Untersuchung offen läßt.

[8] Es können nämlich Substanzen, die "an keinem Ort sind und in gar keinem Verhältnis bezüglich der Dinge unseres Alls"  bestehen. Diese Mög­lichkeit hängt nämlich von der göttlichen Willkür ab. Das "Zugleich­sein" ("coexisten­tia") der Substanzen bedeutet also nicht zu­gleich ihre "Verknüpf­ung" ("nexus") mit unserer Welt, son­dern sie können eine Welt für sich al­lein  ("mu­ndum soli­tarium") bilden. "Und darum ist es nicht unge­reimt, daß es auch im metaphysischen Sinn meh­rere Welten geben könnte, wenn es Gott so gefallen hät­te." (Nova dilucidatio,  Prop. XI­II.).

[9] Kant hatte bereits 1751 über die astronomischen Spe­ku­la­tionen des Engländers Thomas Wright aufgrund einer An­zeige in den Hamburger "Freyen Urteilen und Nachrichten" erfahren, die ihm zu seiner Fixstern-Theorie verhalfen. Vgl. K. Vorlän­der: Imma­nuel Kant (Hamburg: Meiner 1992) S. 73
.
[10] Er begründet diese Auffas­sung mit dem Argument, daß "die Voll­kommenheit der mit Ver­nunft begab­ten Geschöpfe" von der "Fei­nigkeit des Stoffes" abhängt, und daß diese wie­derum nicht im Mittel­punkt der Schö­pfung zu finden ist, wo "die dichtesten und schwersten Sorten der Materie" sich befinden. Die "Voll­kommenheit der Geister­welt" wächst also "wie eine bestän­dige Leiter" gegenüber ihrer Entfernung "vom allgemei­nen Centro", wobei aber aufgrund der Unend­lichkeit der Gott­heit, die "ver­nünftigen Kreaturen" die­ser sich annähern, aber nicht errei­chen können.

[11] Kant bedient sich eines satyrischen Tons, um die Vorstel­lung von der "notwen­digen Bevölkerung aller Erdkör­per" lächerlich zu ma­chen (A 176). Der Mensch steht "unend­lich weit von der obersten Stufe der Wesen" (A 178), gleich­wohl wird bei ihm "das Universum vermittelst des Körpers, in seiner Seele er­regt" (A 180). Kant beschreibt die 'condi­tio humana' in pla­stischen Worten: die Entfaltung seiner körper­lichen und gei­stigen Fähigkeiten, den Kampf mit den Leiden­schaften, die "Trägheit seiner Denkungs­kraft" auf­grund sei­ner Abhängigkeit von einer "groben und ungelenk­samen Mate­rie" (A 183), die Gebrechlich­keit des Alters... Demnach, d.h. in Abhängigkeit von der Materie, hätten die Bewohner der Venus und die des Jupiter eine grobere bzw. flüchtigere Materie als die des Menschen, aber auch als die der "Tiere und Gewäch­se" (A 185).

[12] Dafür läßt er sich aber in den letzten Seiten auf die Qua­si-Unsterb­lichkeit der Bewoh­ner der "oberen Himmels­gegen­den"! "Das Verderben und der Tod können diesen treffli­chen Ge­schöp­fen nicht so viel, als uns niedrigen Naturen anha­ben" (A 192).

[13] Die "Voll­kom­menheiten Gottes" haben sich "in unsern Stufen deutlich offenba­ret" (A 196). Pope zitierend umfaßt für Kant diese "Kette", die ihren Anfang bei Gott hat, "von himmli­schen und irdischen, von Engeln, Menschen bis zum Vieh, Vom Seraphim bis zum Gewürm" (A 196), ja diese "Mut­maßungen" erlauben sich "noch eine Ausschweifung" aus dem "Pfade einer vernünftigen Glaub­würdigkeit" "in das Feld der Phantasie", indem er, den Naturforscher (Begründer der neue­ren Physiolo­gie) und Dichter Al­brecht von Haller (1708 - 1777) zitiert:
"Die Sterne sind vielleicht ein Sitz verklär­ter Geister,
Wie hier das Laster herrscht, ist dort die Tugend Meister".

[14] Wendung um 1762 durch Rousseaus "Emile". Bis dahin war Kant stolz ein Forscher zu sein, und "ich verachte den Pöbel, der von nichts weiß" "Rousseau hat mich zurecht ge­bracht." Jener "verblendete Vorzug verschwindet. Ich lerne die Men­schen ehren und würde mich viel unnützer fin­den als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, daß diese Be­trach­tung allen übrigen einen Wert geben könne, die Rechte der Mensch­heit herzustellen." (Vorländer S. 117)

[15] "Das Jahr 69 gab mir großes Licht" (Erdmann, bei Vorländer S. 251). Vgl. Prolegomena, A. 12: "Ich gestehe frei: Die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jah­ren zuerst den dogmati­schen Schlummer unterbrach, und meinen Untersu­chungen im Felde der spekula­tiven Philosohie eine ganz andre Rich­tung gab." Die Pro­lego­mena erschienen 1783: "vor vielen" d.h. vor 14 Jahren.

[16] Die Anekdote befindet sich bei Hansch (ein Freund des Leib­niz) in seinem "Principia philosophiae more geome­tri­co demon­strata" (1728): "Ita memini Leibnitium, cum Lip­siae me conveniret et puto Cafée cum lacte, quo quam maxime de­lecta­baatur, uteremur ambo, in discursu de hoc argumen­to inter alia dixisse: se determinare non posse, annon in hoc vascu­lum, e quo potum hauriebat calidum, Monades ingrederen­tur, quae suo tempore futurae sint animae humanae."

[17] Swedenborg berichtet von einer Christusvision und daß ihm in derselben Nacht (in London) die Hölle und der Himmel geöff­net wurden.

[18] Swedenborg beeinflußte den schwäbischen Pietis­mus. Vgl. Ernst Benz: Swedenborg in Deutschland. F.C. Oetin­gers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs (Klostermann 1947).

[19] Dieser Brief ist als Beilage II in der Biographie von Bo­rowski unter der Überschrift "Wie dachte Kant über Sweden­borg im Jahr 1758?" erschienen. Vgl. Kants Briefwech­sel, AA, Bd. X, Zweite Abteilung: Brie­fwech­sel, Bd. I, 1747-1788; 2. Aufl. Berlin, Leipzig 1922. Das von Borowski ange­gebene Datum (1758) kann nicht stimmen, da der Brand von Stockholm 1759 stattfand. Vgl. F. Courtès: In­troduc­tion, in: E. Kant: Rêves d'un visionaire (Traduits et pré­sentés par F. Courtès, Vrin 1989)

[20] Vgl. AA Bd. XXVIII (nach Herder): "vielleicht wirk­lich Phantast, aber doch nicht alles zu verachten". Vgl. R. Mal­ter, S. 107-108.

[21] Der Buch­händler Kanter äußert sich über die äußeren Umstände der Entstehung der Schrift Vgl. AA Bd. II, I, 2, S. 501). In einem Brief an Mendels­sohn vom 7. Februar 1766 schr­eibt Kant über seine Schrift, sie sei "eine gleich­sam abge­drunge­ne S­chri­ft, sie ent­hält mehr einen flüc­htigen Entwurf von der Art, wie man über der­glei­chen Fragen urthei­len solle als die Aus­füh­rung selber" (AA Brief 38).

[22] Die Stelle wird auch in der An­thropologie § 37, ohne Autorangabe zietiert. Erhalten ist sie bei Plutarch. Kant ver­wechselt Heraklit mit Ari­stoles, der für Prosa und Arbeit (vs. Platon: Dich­tung, Träu­me) steht vgl. "Von einem neuer­dings..."; da­her auch seine (und Aristoteles) Her­ab­set­zung der Dialektik.

[23] Kants Terminologie schwankt. In der Schrift über die "Krank­heiten des Kopfes" unterschei­det er zwischen einer guten und einer krankhaften Art von "Phanta­sterei". Von der ersten sagt er, daß "niemals ohne denselben in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden" ist, während "ganz anders ist es mit dem Fanatiker (Visionär, Schwärmer) bewandt" (A 25-26). Während der "Fanatiker" (oder "Phantast") aus fal­schen Vorstellungen richtig schließen kann, leidet  der "Wah­nsinnige" an einer Störung des Verstandes. Der "Phan­tast" heißt in den "Träumen" ein "Wahnsinniger" und der "Wahnsin­ni­ge" ein "Wahn­witziger".

[24] E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philoso­phie und Wissenschaft der neueren Zeit, Berlin 1911, Bd. 2 S. 601 ff.

[25] Ich ver­weise auf die These des französischen Psy­choanalytikers Henri Ey ("Traité des Hallucina­tions" (Paris 1973, S. 678), wonach der Unterschied zwischen mysti­schen und hal­luzinierenden Erfah­rungen nicht in ihren In­halten, sondern in ihrem Sinn und ihrer Funktion innerhalb der Exi­stenz eines Men­schen besteht. In bezug auf Kant schreib er: "c'est par les rêveries de Swedenborg que le statut de la Raison pure a par lui été requis et a été fondé" (S. 680).

[26] R. Wimmer: Kants kritische Religionsphilosophie (Berlin: de Gruyter 1990) S. 213.

[27] Monique David-Ménard: La folie dans la raison pure. Kant lec­teur de Swe­den­bor­g. Paris: Vrin 1990, S. 10.

[28] O. Marquard: Apologie des Zufälligen. Stuttgart: Re­clam 1987. S. 28-29.

[29] vgl. Das Unbehagen in der Kultur, IX, S. 213: "Wer in zweiwelter Empörng diesenWeg zum Glück (nämlich des Ere­miten, der dieser Welt den Rücken kehrt)" benimmt sich "wie der Para­noiker, der "eine ihm unleidliche Seite der Welt durch eine Wunschbildung korrigiert und diesen Wahn in die Rea­lität ein­trägt."
Totem und Tabu, S. 383: "Bei den Wahnerkrankungen (der Para­noia) ist die Systembildung das Sinnfälligste, sie be­herrscht das Krankheitsbild, sie darf aber auch bei den anderen Formen von Neuropsychosen nicht übersehen werden."

[30] Vgl. "Wo Es war soll Ich werden", d.h. daß wir der Reize des Ubw mehr Raum im Bw verschaffen sollten! Nic­ht: das Ich sollte sich von ihnen bemächtigen, oder das Ich sollte im Es verschwinden
.

Literatur


Kant, I.
: "Träume eines Gei­s­terse­hers, erläu­tert durch T­räu­me der Metaphy­sik" (17­66) (Ham­burg: Meiner 1975).

Burkhardt, H. / Smith, H. (eds.): Handbook of Metaphysics and Ontology, 2 vol. (München: Philoso­phia Ver­lag 1991).

Hogrebe, W.: Prä­dikation und Genesis. Metaphysik als Fun­damen­talheuristik im Ausgang von Schellings "Die Wel­tal­ter" (stw 1989).

Kaulbach, F.: Einführung in die Metaphysik (Darmstadt: Wiss. Buchges. 1989, 4. Aufl.).

Marquard, O.: Apologie des Zufälligen (Stuttgart: Re­clam 1987).

Oelmüller, W. Hrsg.: Metaphysik heute?  (Paderborn: Schö­ningh, 1987).

Röd, W.: Metaphysik ohne Evidenz. Information-Philosophie 5, 1994, 5-11.

Steinvorth, U.: Warum überhaupt etwas ist. Kleine demi­ur­gi­sche Metaphysik (Hamburg: Rowohlt 1994).

Strawson, P.F.: Analyse und Metaphysik. Eine Einfüh­rung in die Philosophie (dtv 1994).



letztes Update: 3. Juni  2023

 

 
    

Copyright © 2005 by Rafael Capurro, all rights reserved. This text may be used and shared in accordance with the fair-use provisions of U.S. and international copyright law, and it may be archived and redistributed in electronic form, provided that the author is notified and no fee is charged for access. Archiving, redistribution, or republication of this text on other terms, in any medium, requires the consent of the author.


 
Zurück zur digitalen Bibliothek 
 
Homepage Forschung Veranstaltungen
Veröffentlichungen Lehre Interviews