WEST-ÖSTLICHE LÜCKEN

Rafael Capurro


 
  
Erschienen in: West & Ost. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit herausgegeben von Volker Friedrich (ISSN 0949-1171) Ausgabe 3 - Oktober 1995, 73-75. Liu Shiaogan ist Honorary Director des Research Centre for Chinese Philosophy and Culture der Chinese University of Hong Kong, Shatin.NT.


 
  
Liu Shiaogan lernte ich vor einigen Jahren an der Beijing Universität kennen. Es war die Zeit vor den Ereignissen am Platz des Himmlischen Friedens. Alle meinten, daß China sich jetzt endgültig öffnen würde und daß eine zynische Verwendung des Satzes "Tausend Blumen sollen blühen" nicht mehr möglich wäre. Wer diesen Satz nämlich früher im seligen Vertrauen auf eine Liberalisierung Chinas öffentlich geäußert hatte, hatte mit Verhaftung rechnen müssen.

Vor meiner Abreise nach China hatte ich im tief verschneiten südlichen Schwarzwald, in Rütte, den Grafen Dürckheim besucht. Von seinem vom Zen-Buddhismus inspirierten Heilmethoden, über die ich schon viel gehört hatte, wollte ich mich nun selber ein Bild machen. Am Ende dieses Besuches forderte mich Graf Dürckheim auf, mich während meiner bevorstehenden China-Reise nach dem Sinn des berühmten taoistischen Wortes wu wei zu erkundigen. Es stammt aus dem 5. Jahrhundert vor Christus, und zwar aus dem Tao Te Ching von Lao tse, und wird zumeist als "nicht handeln" übersetzt.

Im März 1988 in Beijing führten mich meine Gastgeber durch das Museum für chinesische Geschichte. Dabei offenbarte sich mir zum ersten Mal in aller Deutlichkeit meine Ignoranz über die jahrtausendealte chinesische Hochkultur sowie meine westlich-zentrierte Sicht der Dinge – ein zweites Mal sollte ich dieses Erlebnis vier Jahre später in Princeton haben. An der Beijing Universität wurde ich von mehreren Kollegen, darunter einem Fachmann für Buddhismus sowie einem Fachmann für Taoismus, Professor Liu eben, empfangen. Das Gespräch, das sich vorwiegend mit philosophischen Themen befaßte, erwies sich als schwierig, da die Übersetzer nicht gewohnt waren, englische Ausdrücke auf diesem Gebiet ins Chinesische zu übersetzen. Von offizieller Seite, dem Prorektor der Universität, wurde die Bedeutung der marxistischen Dialektik für das Verstehen von Natur und Geschichte betont.

Ich versuchte diese Bedeutung zu relativieren, indem ich auf die Quellen – Hegel und die jüdisch-christliche Tradition – verwies. Demgegenüber könnte China mit seinen Denktraditionen einen produktiven Einfluß auf das westliche Denken ausüben. Ich fragte scherzhaft, ob man die große Mao-Statue vor dem Gebäude der Universität nicht ein bißchen beiseite schieben könnte, um Platz für zwei weitere Statuen, nämlich von Lao Tse und Konfuzius zu schaffen!

Das war auch der Augenblick, in dem ich die Gelegenheit wahrnahm und Herrn Liu nach dem Sinn des Ausdrucks wu wei fragte. Er sagte etwas verlegen, vermutlich nicht zuletzt aufgrund des öffentlichen und offiziellen Charakters der Unterredung, daß es dazu mehr als tausend Interpretationen gäbe. Ich bat höflich nur um eine. Da sagte er, daß wu wei nicht etwa "faules Nichtstun" oder einfach "sich passiv verhalten" bedeute, sondern gemeint sei unter anderem, daß man nichts gegen die Wege der Natur unternehmen sollte. Mir schien diese Auffassung im Einklang mit dem im Westen in Mode gekommenen ökologischen Denken zu stehen, und sagte, daß ein solcher Ansatz sich vorzüglich für ein kulturelles Zwiegespräch eignete.

Als ich mich Jahre später mit Fragen des Zusammenhangs von Technik und Lebenskunst beschäftigte, las ich in Ernst Schwarz' Einleitung zum Tao Te Ching (Laudse - Daudedsching, Leipzig: Reclam 1978, 105), daß wu wei (oder wu we) die Wirkungsweise des Weisen ist, im Gegensatz zu yo we, der Wirkungsweise des Herren. Der Weise handelt nicht gegen das Wesen der Dinge. Der Herr dagegen verstößt gegen die Naturgesetze, indem er zuviel tut. Politisch bedeutet dieses "viel tun" soviel wie Krieg oder Knechtung des Volkes. In seinem Beitrag über Taoismus in Arvind Sharam (ed.): "Our Religions" (HarperCollins 1993) fand ich später diese Ansicht durch Herrn Liu bekräftigt und vertieft, indem er betonte, daß wu wei mehrere Stufen der Einschränkung menschlichen Handelns umfaßt, darunter zum Beispiel: so wenig wie möglich handeln, spontan handeln, warten auf die spontan ihrer Natur entsprechend sich ergebenden Veränderungen der Dinge... Ins Politische übersetzt bedeutet dies, daß die scheinbar ohnmächtige Masse des Volkes aus einer wu-wei-Opposition stark werden kann. Liu Shiaogan mußte diese Einsicht auf die Probe stellen. Nach den "Studentenunruhen", also nach den friedlichen wu wei-Demonstrationen – die mit gutem Grund von den Machthabern im wahrsten Sinne des Wortes als todernst empfunden wurden und denen  mit "viel-tun"-Handeln begegnet wurde – mußten er, seine Frau und sein Sohn China verlassen. Sie gingen in die USA, zuletzt nach Princeton, wo ich ihn vier Jahre später [1992] wieder treffen sollte.

Ich fuhr eines Morgens mit dem Zug von New Brunswick, wo ich an der Rutgers Universität einen Vortrag gehalten hatte, nach Princeton, wo ich mich mit Liu Shiaogan verabredet hatte. Es war Oktober. Princeton war ein Farbenmärchen. Nicht nur der Campus der Universität mit ihren an Oxford und Cambridge erinnernden Gebäuden, sondern auch das ganze Städtchen mit seinen prächtigen Alleen war in den schönsten Braun-Rot-Gold-Tönen gekleidet. Herr Liu empfing mich mit der gelösten Freundlichkeit, die ich nicht nur von dem Besuch in Beijing her, sondern auch aus unseren darauffolgenden Briefen kannte, und lud mich zum Mittagessen im nahegelegenen chinesischen Restaurant ein. Anschließend liefen wir zum Campus, und er zeigte mir unter anderem das Gebäude, wo Einstein gelehrt hatte.

Nicht weit davon entfernt befand sich ein Museum mit wertvollen Sammlungen westlicher und östlicher Kunst. Wir betrachteten zuerst die Gemäldegalerie und gingen dann in die Abteilung für griechische Kunst. Als wir vor einigen großen Vasen mit mythologischen Darstellungen standen, war mein Staunen groß, als ich ihm erklären mußte, wer Zeus und Aphrodite und Bacchus und Odysseus waren.

Kurz danach liefen wir eine Etage tiefer und standen dort vor wunderschönen Zeugnissen altchinesischer Kunst. Und plötzlich begriff ich, zum zweiten Mal, wie tief mein eurozentrisches Vorurteil sitzt. Ich bat Herrn Liu, mir einige der ausgestellten Gedichte zu übersetzen. Sie standen Pindar, Sappho oder Alkaios in nichts nach. Aufgrund meiner knappen Kenntnisse über chinesische Kulturgeschichte konnte ich auch die anderen Exponate nur bruchstückhaft verstehen. Als wir hinausgingen, lachten wir über unsere "west-östlichen Lücken".


Letzte Änderung: 18.5.2017


 
    

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