Liu Shiaogan lernte
ich vor
einigen Jahren an der Beijing Universität kennen. Es war die Zeit
vor den Ereignissen am Platz des Himmlischen Friedens. Alle meinten,
daß China sich jetzt endgültig öffnen würde und
daß eine zynische Verwendung des Satzes "Tausend Blumen sollen
blühen" nicht mehr möglich wäre. Wer diesen Satz
nämlich früher im seligen Vertrauen auf eine Liberalisierung
Chinas öffentlich geäußert hatte, hatte mit Verhaftung
rechnen müssen.
Vor meiner Abreise nach
China
hatte ich im tief verschneiten südlichen Schwarzwald, in
Rütte, den Grafen Dürckheim besucht. Von seinem vom
Zen-Buddhismus inspirierten Heilmethoden, über die ich schon viel
gehört hatte, wollte ich mich nun selber ein Bild machen. Am Ende
dieses Besuches forderte mich Graf Dürckheim auf, mich
während meiner bevorstehenden China-Reise nach dem Sinn des
berühmten taoistischen Wortes wu
wei zu erkundigen. Es stammt aus dem 5. Jahrhundert vor
Christus, und zwar aus dem Tao Te Ching von Lao tse, und wird zumeist
als "nicht handeln" übersetzt.
Im März 1988 in Beijing führten mich meine Gastgeber durch
das Museum für chinesische Geschichte. Dabei offenbarte sich mir
zum ersten Mal in aller Deutlichkeit meine Ignoranz über die
jahrtausendealte chinesische Hochkultur sowie meine westlich-zentrierte
Sicht der Dinge – ein zweites Mal sollte ich dieses Erlebnis vier Jahre
später in Princeton haben. An der Beijing Universität wurde
ich von mehreren Kollegen, darunter einem Fachmann für Buddhismus
sowie einem Fachmann für Taoismus, Professor Liu eben, empfangen.
Das Gespräch, das sich vorwiegend mit philosophischen Themen
befaßte, erwies sich als schwierig, da die Übersetzer nicht
gewohnt waren, englische Ausdrücke auf diesem Gebiet ins
Chinesische zu übersetzen. Von offizieller Seite, dem Prorektor
der Universität, wurde die Bedeutung der marxistischen Dialektik
für das Verstehen von Natur und Geschichte betont.
Ich versuchte diese Bedeutung zu relativieren, indem ich auf die
Quellen – Hegel und die jüdisch-christliche Tradition – verwies.
Demgegenüber könnte China mit seinen Denktraditionen einen
produktiven Einfluß auf das westliche Denken ausüben. Ich
fragte scherzhaft, ob man die große Mao-Statue vor dem
Gebäude der Universität nicht ein bißchen beiseite
schieben könnte, um Platz für zwei weitere Statuen,
nämlich von Lao Tse und Konfuzius zu schaffen!
Das war auch der Augenblick, in dem ich die Gelegenheit wahrnahm und
Herrn Liu nach dem Sinn des Ausdrucks wu
wei fragte. Er sagte etwas verlegen, vermutlich nicht zuletzt
aufgrund des öffentlichen und offiziellen Charakters der
Unterredung, daß es dazu mehr als tausend Interpretationen
gäbe. Ich bat höflich nur um eine. Da sagte er, daß wu wei nicht etwa "faules
Nichtstun" oder einfach "sich passiv verhalten" bedeute, sondern
gemeint sei unter anderem, daß man nichts gegen die Wege der
Natur unternehmen sollte. Mir schien diese Auffassung im Einklang mit
dem im Westen in Mode gekommenen ökologischen Denken zu stehen,
und
sagte, daß ein solcher Ansatz sich vorzüglich für ein
kulturelles Zwiegespräch eignete.
Als ich mich Jahre später mit Fragen des Zusammenhangs von Technik
und Lebenskunst beschäftigte, las ich in Ernst Schwarz' Einleitung
zum Tao Te Ching (Laudse - Daudedsching, Leipzig: Reclam 1978, 105),
daß wu wei (oder wu we) die Wirkungsweise des Weisen
ist, im Gegensatz zu yo we,
der Wirkungsweise des Herren. Der Weise handelt nicht gegen das Wesen
der Dinge. Der Herr dagegen verstößt gegen die Naturgesetze,
indem er zuviel tut. Politisch bedeutet dieses "viel tun" soviel wie
Krieg oder Knechtung des Volkes. In seinem Beitrag über Taoismus
in Arvind Sharam (ed.): "Our Religions" (HarperCollins 1993) fand ich
später
diese Ansicht durch Herrn Liu bekräftigt und vertieft, indem er
betonte, daß wu wei
mehrere Stufen der Einschränkung menschlichen Handelns
umfaßt, darunter zum Beispiel: so wenig wie möglich handeln,
spontan handeln, warten auf die spontan ihrer Natur entsprechend sich
ergebenden Veränderungen der Dinge... Ins Politische
übersetzt bedeutet dies, daß die scheinbar ohnmächtige
Masse des Volkes aus einer wu-wei-Opposition
stark werden kann. Liu Shiaogan mußte diese Einsicht auf die
Probe stellen. Nach den "Studentenunruhen", also nach den friedlichen wu wei-Demonstrationen – die mit
gutem Grund von den Machthabern im wahrsten Sinne des Wortes als
todernst empfunden wurden und denen mit "viel-tun"-Handeln
begegnet wurde – mußten er, seine Frau und sein Sohn China
verlassen. Sie gingen in die USA, zuletzt nach Princeton, wo ich ihn
vier Jahre später [1992] wieder treffen sollte.
Ich fuhr eines Morgens mit dem Zug von New Brunswick, wo ich an der
Rutgers Universität einen Vortrag gehalten hatte, nach Princeton,
wo ich mich mit Liu Shiaogan verabredet hatte. Es war Oktober.
Princeton war ein Farbenmärchen. Nicht nur der Campus der
Universität mit ihren an Oxford und Cambridge erinnernden
Gebäuden, sondern auch das ganze Städtchen mit seinen
prächtigen Alleen war in den schönsten
Braun-Rot-Gold-Tönen gekleidet. Herr Liu empfing mich mit der
gelösten Freundlichkeit, die ich nicht nur von dem Besuch in
Beijing her, sondern auch aus unseren darauffolgenden Briefen kannte,
und lud mich zum Mittagessen im nahegelegenen chinesischen Restaurant
ein. Anschließend liefen wir zum Campus, und er zeigte mir unter
anderem das Gebäude, wo Einstein gelehrt hatte.
Nicht weit davon entfernt befand sich ein Museum mit wertvollen
Sammlungen westlicher und östlicher Kunst. Wir betrachteten zuerst
die Gemäldegalerie und gingen dann in die Abteilung für
griechische Kunst. Als wir vor einigen großen Vasen mit
mythologischen Darstellungen standen, war mein Staunen groß, als
ich ihm erklären mußte, wer Zeus und Aphrodite und Bacchus
und Odysseus waren.
Kurz danach liefen wir eine Etage tiefer und standen dort vor
wunderschönen Zeugnissen altchinesischer Kunst. Und plötzlich
begriff ich, zum zweiten Mal, wie tief mein eurozentrisches Vorurteil
sitzt. Ich bat Herrn Liu, mir einige der ausgestellten Gedichte zu
übersetzen. Sie standen Pindar, Sappho oder Alkaios in nichts
nach. Aufgrund meiner knappen Kenntnisse über chinesische
Kulturgeschichte konnte ich auch die anderen Exponate nur
bruchstückhaft verstehen. Als wir hinausgingen, lachten wir
über unsere "west-östlichen Lücken".