1.
Geschichtlicher Hintergrund
Das
neunzehnte
Jahrhundert
war fasziniert von der Natur und der Geschichte. Uns faszinieren die
Künstlichkeit
und die Kommunikation. Was ist jedoch heute genau der Sinn des
Künstlichen
und insbesondere der elektronischen Geräte, Systeme und Produkte?
Wie sind die Beziehungen zwischen dem Künstlichen und anderen
Arten
von Seiendem wie die Natur, das Göttliche, die Mathematik und –
natürlich, uns selbst? Die Bedeutung der Künstlichkeit wie
die Deutung dieser
Beziehungen haben sich im Laufe der Geschichte gewandelt.
Die
Unterscheidung zwischen
dem Künstlichen und dem Natürlichen geht auf die griechische
Philosophie zurück. Für die Griechen gab es, ganz allgemein
gesprochen,
Dinge, die als Hervorbringung der Natur entstanden (physis) und
Dinge, die vom Menschen hervorgebracht wurden (poiesis), wie
Werkzeuge,
Maschinen oder Kunstwerke. Indem der Künstler Dinge hervorbringt,
ahmt er die Natur nach (mimesis), d.h. er ahmt eben nicht die
Produkte
der Natur, sondern das nach, wie die Natur diese Dinge hervorbringt.
Die
Natur handelt in einer paradoxen Weise, nämlich in einer spontanen
und einer „zweckvollen“ Weise. Im Gegensatz zur Natur muss der
Künstler
über den Zweck und über die Weise nachdenken, wie er ein
Objekt
hervorbringen kann, um eben diesen Zweck zu erreichen. Aufgrund seines
technischen Wissens (techne) verleiht er seinen Werken einen in
gewisser Weise vom Zweck befreiten Charakter oder Schönheit. Das
Besondere
an der griechischen Auffassung von Künstlichkeit besteht im
Zusammenfallen
des Guten oder Nützlichen (agathos) und des Zweckfreien
oder
Schönen (kalos).
In
seinem
Dialog „Timaios“
beschreibt Platon die schöpferische oder technisch-poietische
Tätigkeit
des göttlichen Künstlers. Der Demiurg bringt die Natur in
einer
ähnlichen, aber weitaus vollkommeneren Weise hervor als der
menschliche
Künstler zum Beispiel eine Statue hervorbringt. Während der
Demiurg
die Urbilder aller Dinge, die göttlichen Formen, zu seiner
Verfügung
hat, benutzen wir diese materiellen Kopien als Original, so dass wir
Abbilder
von Abbildern herstellen.
Für
die
jüdisch-christliche
Tradition ist die Vorstellung des göttlichen Künstlers (deus
opifex) offenkundig eine christliche Version des platonischen
Demiurgen.
Sie enthält aber den nicht griechischem Begriff der
„Schöpfung
aus dem Nichts“ (creatio ex nihilo). Alle Vorgänge, durch
welche
die Natur oder der Mensch neue Dinge zuwege bringen, indem sie dem, was
schon existiert, eine Form geben, stellen „Informationsprozesse“ dar.
Der
christliche Gott ist als Einziger mächtig, Dinge aus dem Nichts zu
erschaffen. Diese Unterscheidung zwischen informatio und creatio
bleibt eine wesentliche durch das ganze Mittelalter. Obwohl dies eine
christliche
Unterscheidung ist, ist sie doch tief in der platonischen und
aristotelischen
Philosophie verwurzelt, insbesondere in den Begriffen der morphe,
des eidos, der idea und des typos (Capurro
1978).
In
der
Renaissance und der
Neuzeit wird der schöpferische Mensch als ein autonomes Wesen oder
als Genie, der die Charakteristik des göttlichen Schöpfers
annimmt,
immer wichtiger. Das Genie ist ein Mensch, der nicht nur allein
fähig
ist, Dinge gemäß einer vorgegebenen Regel zu reproduzieren,
sondern auch neue Regeln erzeugen kann. Kant entwickelte diese Idee, um
zwischen der produktiven und der reproduktiven Vorstellungskraft zu
unterscheiden.
Ein Genie ist jedoch kein Träumer, da es den Unterschied zwischen
dem Unaussprechlichen oder Nicht-Darstellbarem und dem bloß
symbolischen
Charakter seines Werkes kennt.
Der
Akt, neue
Regeln zu erzeugen,
verlangt, dass das Genie in irgendeiner Weise mit den metaphysischen
Dimensionen
in Berührung kommt, nämlich mit Gott als dem Erschaffer von
Regeln.
Dies heißt nach Kant aber nicht, dass das Genie irgend etwas
über
diese Dimension in theoretischer Weise wüsste (Capurro 1996). Die
ästhetische Tätigkeit als die höchste der menschlichen
künstlerischen
Tätigkeiten vermittelt zwischen der theoretischen und der
praktischen
Vernunft. Diese Vorstellung wurde durch die Romantik, insbesondere
durch
Friedrich Schiller, weiterentwickelt.
Während
des 19. Jahrhunderts
wurde die künstliche Tätigkeit des Menschen mehr und mehr
naturalisiert,
d.h. von ihren metaphysischen Ansprüchen getrennt (Nietzsche,
Marx,
Feuerbach). Dieser Vorgang hatte seinen Höhepunkt in der ersten
Hälfte
des 20. Jahrhunderts. Der industrialisierte Arbeiter und der
säkularisierte
Künstler stellen die beiden Hauptfiguren der Künstlichkeit in
diesem Zeitabschnitt dar. Der industrielle Arbeiter bildet die Natur um
und beherrscht sie vor allem mit Hilfe von Maschinen, wie dies von
Ernst
Jünger in seinem Essay „Der Arbeiter“ (1932) beschrieben wird. Das
Werk des Künstlers wird entweder unter einem rein profanen Aspekt
oder unter einem politischen Blickwinkel betrachtet. Im ersten Fall
folgt
dies der Hegelschen Vorstellung, dass die Rolle der Kunst als einer
Vermittlung
zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen beendet ist. Im
zweiten
Fall kann Kunst (gerade noch) als Propaganda dienen.
2.
Zu einer
zeitgemäßen Deutung von Künstlichkeit
Durch
die
Entwicklung des
Computers in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich die Bedeutung von
Künstlichkeit verändert. Ich möchte diese
Veränderung
unter den folgenden Gesichtspunkten analysieren:
2.1.
Wirklichkeit als
rechnerische Künstlichkeit
2.2.
Existentielle
Künstlichkeit
2.3.
Mythen
der Künstlichkeit
2.1.
Wirklichkeit
als rechnerische Künstlichkeit
Traditionellerweise
ist das
Künstliche weniger real als das Natürliche. Diese
Begrifflichkeit
verändert sich in der Moderne, da das Künstliche (die
Maschine)
hauptsächlich dazu verwendet wird, die Natur zu beherrschen. Wir
benutzen
jedoch heutzutage eine Maschine, nämlich den Computer, nicht nur
zur
Steuerung oder zur Regelung, sondern auch dazu, alle möglichen
Arten
von Seiendem zu simulieren. Diese Fähigkeit zur Simulation
trägt
mehr und mehr zu einer neuen Bedeutung von Künstlichkeit in ihrer
Beziehung zur Natur bei. Begriffe wie virtuelle Realität,
Künstliche
Intelligenz und Künstliches Leben sind Anzeichen für diesen
Wandel.
Im
19.
Jahrhundert vollzog
Nietzsche eine Umkehrung des platonischen Schemas, welches das
Metaphysische
oder Übersinnliche an die Spitze und das Physikalische oder
Sinnliche
ebenso wie das Künstliche auf der untersten Ebene ansiedelte.
Nietzsche
war jedoch von der Natur und der Geschichte fasziniert. Seine
Vorstellung
des Künstlers als dem Schöpfer und Vermittler von immer sich
verändernden Perspektiven blieb der Vorstellung von der ewigen
Wiederkehr
der Natur untergeordnet. Natur sollte sich selbst durch diese
Perspektiven
manifestieren.
Heute
arbeiten
wir paradoxerweise
unter einer anderen Art von Wiederkehr. Wir ziehen mehr und mehr in
Betracht,
dass die Virtualität von Computersimulationen das Wirkliche
wäre.
Und in der Tat, Realität wird zu einer möglichen
Aktualisierung
errechneter Künstlichkeit. Dies ist in gewisser Weise eine
Unkehrung
der aristotelischen Beziehung zwischen dem Virtuellen (dynamis)
und dem Aktuellen (energeia). Reine Aktualität enthält
keine der sinnlichen Wahrnehmung fähige Materie. Ich denke, dass
diese
Umkehrung deshalb paradox ist, weil sie die vormoderne Dominanz des
Übersinnlichen
wieder einführt. Die Bedeutung von Virtualität ist jedoch
heute
nicht göttlicher, sondern technischer Art. Im Gegensatz zu Plato
sind
die reinen mathematischen Formen (Ideen) nun im Herzen der
techno-logischen
Maschine, dem Computer, angesiedelt.
Von
unserem
menschlichen
Standpunkt aus betrachtet, wird der Computer im Großen und Ganzen
zur externalisierten Intelligenz und Imagination. Er ist der Spiegel,
in
dem wir sehen, wie die Realität zu etwas wird, das einen
geringeren
Status als die Virtualität des Künstlichen aufweist. Wir
kennen
diesen paradoxen Effekt aus dem Kino. Der reale Schauspieler oder die
Schauspielerin
ist die Blaupause des Kinostars. Was real ist, ist gerade das, was wir
durch diesen technologischen Spiegel zu fassen bekommen, und dadurch
simulieren
und manipulieren können. Das Bild im Spiegel stellt sich als das
Original
der Projektion oder als eine weitere mögliche Konstruktion dessen
heraus, was es offenkundig erzeugte. Real zu sein bedeutet fähig
zu
sein, virtuell auf einem Computer vorgestellt und implementiert zu
werden.
Die Objekte, worauf sich die künstliche Simulation beziehen,
können
entweder andere technische Produkte („Technoide“) oder natürliche
Produkte („Naturoide“) sein (Negrotti 1995). Nicht nur Kognition, wie
Pylyshyn
(1986) behauptet, sondern auch Imagination ist Berechnung
(„computation“).
Aber noch allgemeiner gilt: Sein bedeutet „digitales Errechnet-werden“.
Esse est computari könnten wir in Anlehnung an
Bischof Berkeley
(1965, S. 62) sagen. Errechnete Künstlichkeit ist, in Heideggers
Begrifflichkeit
ausgedrückt, der gegenwärtige Sinn von Sein.
Rechnerische
Künstlichkeit
ist eine Art von Superkategorie, so wie die metaphysischen Kategorien
der
Substanz oder Subjektivität, welche alle Arten des Seienden
umfassen.
Es gibt in der Metaphysik der Substanz Grade von Realität, die der
Fähigkeit der dauerhaften Existenz oder der Widerständigkeit
der verschiedenen Arten von Substanzen (wie Materie, Leben,
menschlicher
Geist, göttlicher Geist) gegen das Vergehen von Zeit entsprechen.
Die
Metaphysik
der Künstlichkeit
sieht alle Phänomene insofern als real an, als sie Ausdrücke
der rechnerischen Formen (Algorithmen oder Programme) sind. Die
errechnete
Form hat einen höheren ontologischen Rang als die sogenannte
Realität,
da sie diese ändern und in anderer Form reproduzieren kann.
Realität
ist lediglich ein Ausdruck für errechnete Virtualität. Das
Künstliche
ist das Wirkliche. Die Theorie der Fraktale beabsichtigt, so etwas wie
die Form aller möglichen errechenbaren Formen zu berechnen. Das
ist
eine technische Version des platonischen Konzepts der Form der Form.
Rechnerische
Künstlichkeit imitiert nicht die Natur. Sie simuliert sie noch
nicht
einmal. Es ist genau umgekehrt – das Natürliche scheint gerade
eine
mögliche Simulation des Künstlichen zu sein.
2.2.
Existentielle
Künstlichkeit
In
seinem Werk
„Sein und
Zeit” charakterisiert Heidegger das menschliche Leben durch die
Tatsache, dass wir in einem Feld gegebener und offener
Möglichkeiten
leben (Heidgger 1976). Weder unsere Seele noch unser Leib, sondern
unsere besondere
Weise
zu sein, unsere Existenz oder unser „Dasein“, macht den Unterschied
zwischen
unserem Leben und der Weise, wie zum Beispiel ein Werkzeug oder ein
Tier
existiert, aus. Diese Vorstellung wurde mit unterschiedlichen
Bedeutungen
und Variationen auch von anderen Denkern unserer Zeit wie José
Ortega
y Gasset oder Jean-Paul Sartre entwickelt. Es war jedoch Giambattista
Vico,
der in großartiger Weise den Begriff der menschlichen Welt als
eine
künstliche Welt analysierte.
Als
menschliches Wesen zu
existieren bedeutet, dass wir unser Leben konstruieren müssen.
Unser
Leben ist nicht etwas Gegebenes, es ist kein Programm, das auf einer
Hardware
laufen soll, sondern es muss von uns selbst teilweise geschrieben
werden.
„Teilweise“ bedeutet hier, dass wir mit natürlichen und kulturell
vorgegebenen Bedingungen (Familie, Geschlecht, Land, Epoche, Sprache
etc.)
auf die Welt kommen. Obwohl wir uns in unserem täglichen Leben
meist
auf diese Bedingungen beziehen, haben wir doch Optionen in einem Feld
nicht
fixierter Möglichkeiten. Für diese Entscheidungen sind wir
verantwortlich.
Mit anderen Worten: Unser Leben ist nicht nur ein natürliches,
sondern
ebenso ein künstliches, oder wie die Tradition es nennt, ein
ethisches
Leben. Unsere Weise des Existierens ist der Sinn, den wir der
Künstlichkeit
mit Blick auf uns selbst geben. Unsere mimetische, nachahmende
Beziehung
zu den ethischen Idealen und Werten ist eine künstliche, nicht
nur,
weil wir sie wählen, sondern auch, weil wir sie ändern und
sogar
neue hervorbringen können.
Nur
weil wir
selbst künstlich
sind, sind wir fähig, künstliche Dinge zu erzeugen. Im
Begriffraster
der Existenzphilosophie können wir sagen, dass unsere Offenheit
zum
Sein (oder zum Nichts) eine Bedingung der Möglichkeit für die
Erzeugung künstlicher Dinge ist. Diese Möglichkeit ist im
Falle
anderer natürlicher Wesen eine sehr beschränkte oder analoge.
Heidegger
spricht davon,
dass nur der Mensch „weltbildend“ ist, während Tiere „weltarm“ und
ein Stein „weltlos“ ist (Heidegger 1983).
Worin
aber
besteht die Beziehung
zwischen existentieller und errechneter Künstlichkeit? In einer
gewissen
Hinsicht scheint das Künstliche heutzutage einige der
ontologischen
Merkmale von Tieren, menschlichen Wesen wie auch nichtlebender Objekten
aufzuweisen, in anderer Hinsicht kann man es aber auch die Sache gerade
umgekehrt sehen. Dies schafft einen neuen
Horizont
für ein Verständnis alles Seienden, einschließlich
unserer
eigenen Existenz.
Nehmen
wir von
der rechnerischen
Künstlichkeit einmal an, dass sie in der Lage wäre, sich ihre
eigene Welt zu schaffen, die weder die eines Tieres noch die eines
verantwortlichen
handelnden moralischen Wesens ist. In den einfachsten Fällen kann
man dies gerade als Werkzeug auffassen, das die Grundeigenschaften des
„Vorhandenen“ wie die des „Zuhandenen“ aufweist, wie sie in Heideggers
„Sein und Zeit“ beschrieben wurden. Es gibt jedoch andere Fälle,
bei
denen wir geneigt sein könnten, ihnen Leben und selbst Intelligenz
zuzuschreiben. Obwohl dies eher eine Metapher als ein Faktum ist,
könnten
wir nicht über die rechnerische Künstlichkeit spekulieren,
dass
sie in einer Weise sei, die auf irgend eine Art Weltoffenheit und
Weltkonstruktion
enthält, die weder die eines Tieres noch eines menschlichen Wesens
ist?
In
seinen
Vorlesungen über
„Un know-how per l'etica“ zeigt Francisco Varela, dass rechnerische
Künstlichkeit,
sofern sie kognitive Fähigkeiten hervorbringen soll, auf der
Grundlage
eines selbstorganisierenden Systems funktionieren muss, dessen
dynamisches
Verhalten nur möglich ist, wenn es kein festes Programm oder kein
stabiles Selbst gibt. Für dieses dynamische Verhalten ist nicht
die
Berechnung, sondern die Wechselwirkung mit seiner Umgebung eine
notwendige
Bedingung. Die hinreichende Bedingung jedoch ist die Offenheit oder
„das
Ganze“ zwischen dem System und seiner Umwelt. Diese Offenheit erlaubt
es
dem System, sich seine eigene Welt zu schaffen.
Nach
Varela
basiert dieser
Prozess auf dem Körper des Organismus. Er plädiert
dafür,
eine Ethik aufgrund von Praktiken unserer körperlichen Erfahrung
von
Offenheit zu entwickeln, wie bei der buddhistischen Meditation. Diese
Form
von Wahrnehmung erlaubt es uns, flexibel zu handeln. Wir werden dadurch
der Zuwendung zu anderen fähig, und wir können kreativer und
flexibler handeln.
Wenn
diese
Einsicht zutrifft,
kann die Bedeutung der rechnerischen Künstlichkeit auf die
bloße
Simulation dessen eingeschränkt werden, was Varela die
regelgeleitete
Handlung oder die Gewohnheiten nennt. Wird rechnerische
Künstlichkeit
so verstanden, dass sie den neuronalen Netzen ähnliche Netzwerke
aufbaut,
dann wird die Frage nach den nicht programmierten Wechselwirkung mit
der
Umwelt entscheidend. Nur unter dieser Bedingung könnten wir davon
sprechen, dass künstliche Systeme in der Lage wären, ihr
eigenes
Leben zu formen. Künstliche Existentialität wäre dann
die
Simulation einiger wesentlicher Grundzüge existentieller
Künstlichkeit.
Rechnerische
Künstlichkeit
strahlt zurück in die existentielle Künstlichkeit, in unser
Selbst,
in uns selbst und in die Weise, wie wir unser Leben verstehen. Unser
In-der-Welt-sein
wird mehr und mehr sowohl durch Computernetzwerke wie durch alle Arten
elektronischer Einrichtungen bestimmt. So weit diese Systeme unser
Leben
als Ganzes zu bestimmen scheinen, sollten wir Praktiken entwickeln und
kultivieren, die es uns ermöglichen, diese und andere
Konventionen
zu bewältigen, nicht um sie zu verlassen oder ihnen unsere
Verachtung
zu zeigen, sondern, wie Varela bemerkt, um die Gewohnheit, vorgegebenen
Regeln zu folgen, zu verlernen. Diese Haltung ist ähnlich jener
der
schöpferischen Vorstellungskraft, wie sie Kant analysiert hat.
Michel
Foucault nennt diese Praktiken „Technologien des Selbst“ (Capurro
1996a).
2.3.
Mythen der
Künstlichkeit
Seit
alters her
hängen
die menschliche Vorstellungskraft und ihre künstlichen
Hervorbringungen
eng mit unseren Träumen und besonders mit der Weise zusammen, wie
wir diese Träume bewusst verarbeiten, den Mythen. Unsere
Träume,
nicht so sehr unsere Rationalität, sind der Ursprung unserer
Künstlichkeit.
Jean
Brun hat
die engen Beziehungen
zwischen Träumen und Maschinen untersucht (Brun 1992). Die
conditio
humana, insbesondere unsere körperliche Natur, die Tatsache des
Voneinander-Getrennt-Seins
durch Zeit, Raum sowie durch den Tod, die Vielfältigkeit des
Seienden,
der Zeiten und der Orte verleihen den menschlichen Handlungen und all
ihren
künstlichen Hervorbringungen einen mythologischen Grundzug. Sie
werden
als Träume, die diese Bedingung überwinden sollen, als
Machtträume,
aufgefaßt.
Doch
manchmal,
wenn die Vernunft
schläft, aber auch wenn sie träumt, wird das Künstliche
eher zum Alptraum als zur Wohltat. Dies ist beispielsweise der Fall,
wenn
die Vernunft einige ihrer künstlichen Alpträume einen
positiven
Sinn zu geben versucht. Wenn die Vernunft ihre Grenzen vergißt,
dann
lässt sie Mythen entstehen, zum Beispiel den Mythos des
technischen
Fortschritts. „Der Traum / Schlaf der Vernunft gebiert Monster“ („el
sueño
de la razón engendra monstruos“) (Francisco Goya).
Die
Mythen des
Künstlichen
sind heute Legion, nicht nur in Science - Fiction Geschichten wie „Star
Treck“ oder „2001: A Space Odyssee“, sondern auch in Form von
wissenschaftlichen
Mythen. Ein Beispiel dafür ist die Vorstellung, dass die
natürliche
Evolution fortschreite und durch Roboter, unseren „mind children“
übernommen
wird (Moravec 1988). Wie bereits erwähnt, strahlt das
Künstliche
zurück und wir erscheinen als ein Teil davon, als ein
evolutionäres
Vorspiel für eine höhere Form von Existenz.
Der
Mythos der
höheren
Intelligenzen (Engeln), losgelöst von den Bedingungen eines
sterblichen
Körpers, ist Teil vieler religiösen und philosophischen
Überlieferungen.
Ich habe vorgeschlagen, dass die technologische Form dieses Mythos eine
anthropologische Funktion habe (Capurro 1995). Die Leerstelle der
göttlichen
höheren
Intelligenzen, die der Prozess der Säkularisierung
hinterlassen
hat, wird nun in unserer technischen Gesellschaft durch die Vorstellung
einer höheren vom Menschen geschaffenen Intelligenz, einer Art
Super
KI (Künstliche Intelligenz) ausgefüllt. Während in der
Vergangenheit
unser Platz auf der Skala der Wesen zwischen Tier und Engeln
angesiedelt
war, nimmt nun in einer säkularisierten und technologischen
Zivilisation
der Mythos der Super KI den Platz engelischer Intelligenzen ein. Das
ist
eine moderne Form von Gnosis (Capurro 1995).
Diese
kritischen Bemerkungen
bedeuten jedoch nicht, dass wir unser Leben und unseren Körper im
Sinne der rechnerischen Künstlichkeit nicht deuten beziehungsweise
umwandeln könnten oder sollten. Wir werden in der Tat immer mehr
in
neue Formen errechnender Künstlichkeit eingebettet. Aber dieser
Vorgang
ist keine blinde Nemesis. Als Schöpfer künstlicher Dinge und
als Wesen, das sein eigenes Leben formt, spielen wir eine strategische
Rolle in der Gestaltung des Künstlichen. Unsere rationalen
Strategien
hiefür sind die Technikfolgenabschätzung und die
philosophische
Kritik. Unsere ästhetische Strategie überbietet die
technologische
Vorstellungskraft durch die ästhetische Vorstellungskraft. Dies
ist
einer der wichtigen Beiträge der elektronischen Kunst zur Kultur
des
Künstlichen. Elektronische Kunst ist eine Sublimierung der
elektronischen
Gnosis.
Künstliche
Maschinen
erzeugen, wie Negrotti bemerkt, eine neue Vielfalt in der
natürlichen
wie in der kulturellen Welt. Das Künstliche wird zuweilen dem
Natürlichen
und manchmal der konventionellen Maschine oder der Elektronik selbst
ähnlicher.
Die Grenze zwischen Natur, konventioneller Technologie und – so
möchte
ich hinzufügen – Existenz sind nicht verschwunden, sondern sie
sind
subtiler. Zu glauben, dass wir künstliches Leben ohne einen
Selektionsprozess
reproduzieren könnten, ist ein Mythos. Ebenso ist es ein Mythos zu
glauben, dass die Verwendung von verschiedenen Materialien und/oder
Prozessen
bei der Imitation anderer Lebewesen keinen Unterschied zwischen dem
Natürlichen
und dem Künstlichen ausmacht. Die Frage nach der
Kompatibilität
zwischen Natur, Künstlichkeit und konventioneller Technik ist
keine
leichte Frage (Negrotti 1995, 1999).
3.
Schlussbemerkungen
Die
Gestaltung
unseres Lebens
durch elektronische Netzwerke wie das Internet kann als ein wichtiger
Beitrag
zu einer global-vernetzten Kultur angesehen werden, für die sich
die
Machtfrage in einer neuen Weise stellt – ebenso wie im Falle der
geographischen
Grenzen oder der bisherigen Transport- und Kommunikationsmedien
(Fleissner
et al. 1995).
In
einer
solchen Situation
brauchen wir mehr denn je Praktiken und im besonderen körperliche
Erfahrungen, durch die wir in Berührung mit der Kontingenz unseres
Lebens wie auch mit der Kontingenz der natürlichen und
künstlichen
Welt kommen. Wir können dann lernen, nicht nur auf den Spiegel,
sondern
auch jenseits (nicht durch oder hinter!) von ihm zu schauen.
Transzendieren
bedeutet darüber
hinaus gehen. Es mag sein, dass wir entdecken, dass es jenseits der
Künstlichkeit
nichts gibt, so wie es auch jenseits von Natur und Existenz nichts
gibt,
außer gerade der einfachen Tatsache zu sein. Wir benutzen
künstlich
wie natürlich Seiendes (einschließlich unser Leben), um eine
solche Dimension zu verbergen. Sich dessen gewahr zu werden, ist der
Hauptbeitrag
der philosophischen Übungen, welche gerade in früheren Zeiten
aufs Engste mit körperlichen Erfahrungen verbunden waren (Capurro
1995).