KONTROLLE IST GUT, VERTRAUEN IST BESSER

Zum Begründungsverhältnis zwischen Moral und Ökonomie

 
Rafael Capurro
  
 
 
  
Einführungsreferat zum IV. HdM-Symposium zur Medienethik: Medien Wirtschaft Ethik: Eine Frage des Vertrauens? 7.-8. Dezember 2004. Die Proceedings erschienen in: Petra Grimm, Rafael Capurro (Hrsg.): Wirtschaftsethik in der Informationsgesellschaft. Eine Frage des Vertrauens? Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007. Siehe dazu die Einleitung von Petra Grimm zu diesem Band (S. 7-10) sowie unseren Dialog Unternehmensethik in der Diskussion (S. 11-21).



  

Für gewöhnlich denken wir, dass Vertrauen gut ist, dass aber aufgrund der schlecht bestellten menschlichen Natur, Kontrolle besser sei. Diese Kernfrage einer moralischen Theorie lässt sich mit einer optimistischen an Rousseau sich anlehnenden Auffassung umkehren: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Was stimmt? Und vor allem was stimmt im Hinblick auf die Wirtschaft. Was ist profitabler? Und was stimmt im Hinblick auf die Gesellschaft insgesamt – national, international, global? Lässt sich eine Gesellschaft allein auf Kontrolle gründen? Wir leben zwar in einem Rechtstaat aber welche sind seine Antriebskräfte? Handeln wir rechtmäßig nur weil wir Strafen befürchten? Lässt sich überhaupt eine menschliche Rechtgemeinschaft allein auf rechtlicher Kontrolle aufbauen? Wir können aber auch die Gegenfrage stellen: Lässt sich eine menschliche Gemeinschaft generell und ein Wirtschaftsunternehmen insbesondere allein auf Vertrauen aufbauen? Wir schätzen Kollegen und Mitarbeiter, auf die man sich verlassen kann, die also die ihnen anvertrauten Aufgaben gewissenhaft, das heißt aus eigenem Antrieb erfüllen. Inwieweit können wir uns aber aufeinander verlassen? Die Tageszeitungen belehren uns leider jeden Tag eines Besseren und zwar nicht nur in Bezug auf die Wirtschaft. Wie viel Vertrauen können wir uns noch leisten? Wieviel Vertrauen sollten wir uns leisten?

Wie man leicht merken kann, stehen hier die Begriffe Vertrauen und Kontrolle für das, was die philosophische Tradition Freiheit und Herrschaft nennt. Die Frage ob menschliches Zusammensein auf Freiheit oder auf Herrschaft basiert, ist nicht nur eine Kernfrage der politischen Philosophie, sondern auch der Wirtschaftsethik. In der Ökonomie haben wir bekanntlich mit Tauschprozessen zu tun, bei denen menschliche Freiheit nur in ihrer verdinglichten Form, nämlich als eine Bedingung von Herstellungs-, Vermittlungs- und Kaufprozessen, vorkommt. Ökonomische Prozesse richten sich, um mit Luhmann zu sprechen, nach dem Code Gewinn oder Verlust. Das System der Ökonomie ist, so gesehen, moralisch neutral. Der Wirtschaftsethik kommt die Aufgabe zu, beide Systeme, Ökonomie und Moral, in ihren Wechselwirkungen zu beobachten. Oder zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus. Denn in Wahrheit gibt es kein reines Beobachten, sondern alles Beobachten, ob bloße Meinung, empirisches Können oder methodisches Wissen, um an eine klassische Wissenstypologie zu erinnern, ist immer zugleich ein Handeln.

Wir nennen Wirtschaftsethik jene Form reflektierender und methodisch geleiteter Beobachtung des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Moral, die zwar keine Handlungsanweisungen, wohl aber Handlungsanleitungen und Argumentationshilfen anbietet, um die Gültigkeit und im gewissen Sinne auch die Nützlichkeit moralischer Ziele im Wirtschaftssystem zu prüfen und zwar gerade weil sie außerhalb dieses Systems liegen. Diese Paradoxie soll zumindest auf der Ebene der Reflexion gerade verhindern, dass diese Systeme einfach nebeneinander bestehen, anstatt miteinander zu kommunizieren. Das eigentliche Ziel ethischer Reflexion ist aber das moralische Handeln selbst. Dieses Handeln speist sich letztlich nicht allein aus den durch die ethische Reflexion dargelegten guten Gründen, wie eine einseitig orientierte intellektualistische Ethik behaupten könnte. Ethische Werte unterscheiden sich, so Aristoteles, von dianoetischen Werten, also von den Verstandesfähigkeiten, dadurch, dass sie auf die Formung des Charakters zielen (Aristoteles 1985). Wir sollten das griechische Wort ethos nicht bloß individuell, sondern gesellschaftlich verstehen, sofern der Charakter eines Individuums wesentlich vom Ethos der Gemeinschaft, in der es lebt, mit geprägt wird. Das gilt, mutatis mutandis, für einzelne Gemeinschaften wie zum Beispiel für Wirtschaftsunternehmen. In diesem Sinne ist es legitim von einer Institutionenethik zu sprechen (Hubig 1993).

Vertrauen ist das Fundament der Tugenden, und zwar sowohl der ethischen als auch der dianoethischen, denn auch der Skeptiker vertraut letztlich auf den Wahrheitsgehalt seiner eigenen Skepsis. Vertrauen ist jene Haltung, wodurch wir über uns hinaus gehen und uns dem anderen öffnen. Vertrauen ist die Antriebskraft der Moral. Denn moralisch nennen wir jene Verhaltensform, wodurch wir sozusagen über uns selbst hinauswachsen. Wie könnten wir das aber tun, ohne etwas oder jemandem zu vertrauen. Kant bezeichnet moralische im Unterschied zur ästhetischen Freundschaft,

„das völlige Vertrauen zweier Personen in wechselseitiger Eröffnung ihrer geheimen Urteile und Empfindungen, so weit sie mit beiderseitiger Achtung gegeneinander bestehen kann.“ (I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 2, Tugendlehre, § 47).

Der Grund dieses wechselseitigen Vertrauens liegt zwischen den sich Anvertrauenden und somit jenseits von beiden. Deshalb kann jeder das Vertrauen des anderen missbrauchen oder sogar brechen oder das Verhältnis einseitig auslegen, indem er oder sie sich blindlings dem anderen anvertraut oder ein blindes Vertrauen des anderen für sich beansprucht. Vertrauen im Sinne von Eröffnung ist ein Affekt wodurch wir uns von der Offenheit der Verhältnisse – eines anderen Menschen, der Gesellschaft oder der physischen Umwelt überhaupt – getragen fühlen,  wobei wir stets gewahr werden, dass wir uns nicht völlig dieser Offenheit anvertrauen können, da sie von einem endlichen Erkennen nicht vollständig aufgeklärt werden kann. So gesehen ist das Misstrauen ein Affekt, wodurch wir uns dieser Grenze stets wissentlich versichern und vor blinden Vertrauensidealen kritisch schützen. Das gilt auch für jene technische Medien, die diese Offenheit prägen, indem sie Öffentlichkeit herstellen wie im Falle der klassischen Massenmedien oder jenes interaktiven Netzwerkes, das wir Internet nennen. Scheinbar neutrale technische Entscheidungen über die künftige Struktur der digitalen Weltvernetzung entpuppen sich im Wahrheit als quasi-juristischer Rahmen der Weltgesellschaft, wie unlängst Lawrence Lessig in seinem Buch „Code und andere Gesetze des Cyberspace“ (Berlin 1999) gezeigt hat.

Was für das Internet als Ganzes gilt, gilt auch für die vielfältigen Formen digital vermittelter Kommunikation (Ess, Sudweeks 2001, Frühbauer, Capurro, Hausmanninger 2005) und somit für die tägliche Arbeit von InformatikerInnen im allgemeinen und von WirtschaftsinformatikerInnen insbesondere. Die von der Gesellschaft für Informatik (GI) erarbeiteten „Ethischen Leitlinien“ haben genau diesen Sinn, nämlich einen Reflexions- und Kommunikationsraum zwischen Informatik und Moral zu öffnen.

Von hier aus lässt sich besser verstehen, warum Vertrauen in die Offenheit jener Tauschverhältnisse, die wir die ökonomischen nennen, im wahrsten Sinne des Wortes, eine tragende Kraft darstellt. Ohne Vertrauen sind keine Kaufverträge möglich. Vertrauen ist das Kapital der Wirtschaft wie unlängst in einem Vortragszyklus der Lessing-Hochschule Berlin zum Ausdruck kam:

„Vertrauen ist ein »Wert an sich« – ein »Wert für alle anderen Werte«. […] Vertrauen sichert die Effizienz. Seine Zerstörung schafft nicht allein ein Klima des Misstrauens, sondern verursacht außerdem volkswirtschaftliche Kosten. Einmal zerstört, ist die Ressource Vertrauen zudem nur schwer wieder nutzbar zu machen. Wie kann eine Vertrauenskrise in der Wirtschaft überwunden werden? Welche Perspektiven eröffnen sich für eine Mitwirkung von Politik, Gesellschaft und insbesondere der Ökonomie?“ (Lessing-Hochschule)

Vertrauen ist, so können wir aus dem Gesagten schließen, eine moralische Kategorie die eng mit der Reputation eines Unternehmers und eines Unternehmens zusammenhängt. Sie lässt sich nicht politisch diktieren und auch nicht durch rechtlichen Zwang (wieder-)herstellen, sondern kann nur von den Akteuren und den Institutionen selbst in Eigenverantwortung und im offenen Wettbewerb gewonnen werden, wie die von der Financial Times geführte Umfrage über die "World's most respected companies" (20. Januar 2004) zeigt. Ein Nachdenken über Vertrauensmaßstäbe wirtschaftlichen Handelns in der globalisierten Mediengesellschaft tut offenbar not.

Was ist jedoch konkret unter Integrität (integrity) und soziale Verantwortung eines Unternehmens/eines Unternehmers (corporate social responsibility als Kern von corporate governance) zu verstehen? Wie werden Vertrauenskrisen eines Unternehmens/eines Unternehmers sowohl unternehmensintern als auch gegenüber der Gesellschaft medial vermittelt? Inwieweit schließt die moralische Verantwortung eines Unternehmens auch ökologische Aspekte ein? Wie lassen sich die Vertrauensmehrwerte einer Unternehmenskultur konkret messen und medial vermitteln? Inwieweit stellen sich diese Fragen bei einem Unternehmer anders als bei einem Manager? Wie stellen sie sich auf den unterschiedlichen Ebenen eines Unternehmens in ihrer jeweiligen Wechselwirkung dar? Wie ist das Verhältnis zwischen Individual- und Institutionenethik bei global agierenden Unternehmen / Unternehmern aufzufassen? Welche Rolle spielen Instrumente wie Wertemanagement-Systeme, Ethikkodizes, Ethik-Beratung und Ethikräte oder öffentliches Ranking bei der Lösung dieser Probleme? Welche Rolle spielt der Universalisierungsansatz der Moderne (Kant) im Unternehmenshandeln und inwieweit muß ein Unternehmen die Folgen seiner Handlungsmaximen für die Gesellschaft und die Umwelt im Sinne von Max Webers Verantwortungsethik mit bedenken? Wo bleibt der Anspruch der jeweiligen Situation – zwischen der Abstraktheit der universalisierbaren Maximen und der Partikularität von Lebensstilen – mit ihren konkreten Verbindlichkeiten? Wie lassen sich diese ermitteln, legitimieren und medial vermitteln? Wie lassen sich die zu gewinnenden Vertrauensmehrwerte in einem Unternehmen nachhaltig verankern? Inwieweit lassen sich lokale Werte in einer globalen corporate identity integrieren ohne in Kulturkolonialismus zu verfallen? Was passiert, wenn ein Unternehmen mit unterschiedlichen Wertmaßstäben an verschiedenen Standorten agiert und wie wird eine solche Strategie gegenüber dem Vorwurf der Doppelmoral jeweils begründet? Was geschieht im Falle eines Konflikts zwischen den individuellen Wertmaßstäben eines Managers und denen seiner/ihrer Firma?  Kurz: Wo ist die Schnittmenge zwischen Moral und Ökonomie in einer globalisierten und medialisierten Wirtschaft? Welche Schlussfolgerungen sind schließlich in Bezug auf die Ausbildung von künftigen Unternehmern und Managern zu ziehen oder wie sollte Wirtschafts- und Unternehmensethik gelehrt werden und mit welchen Zielen?

Im Gespräch mit Helmut Schmidt äußerte sich Horst Köhler zum Thema Wirtschaft und Vertrauen folgendermaßen:

"Wirtschaft braucht ethische Fundierung. Unternehmertum ist Wert schaffen auf der Basis moralischer Werte. Deshalb wird der Bundespräsident als Ökonom auch über Ethik reden. Nehmen wir den Schutz des menschlichen Lebens. Die Verantwortung hat die Politik. Aber der Bundespräsident kann und muss in dieser Frage um Chancen, Risiken und Grenzen eine Meinung haben." (Köhler 2004)
Auf dem Punkt gebracht heißt das mit Robert Bosch Worten: „Lieber Geld verlieren als Vertrauen“ (Hofmann 2004).


Literatur

Aristoteles (1985). Nikomachische Ethik. Hamburg: Meiner (Übers. E. Rolfes, Hrsg. von Günther Bien).

Lessig, Lawrence (2001). Code und andere Gesetze des Cyberspace. Berlin: Berlin Verlag.

Ess, Charles;  Sudweeks, Fay (Eds.) (2001). Culture, Technology, Communication. Towards an Intercultural Global Village. State University of New York.

Ethische Leitlinien der Gesellschaft für Informatik

Frühbauer, Johannes; Capurro, Rafael; Hausmanninger, Thomas (Eds.) (2007). Localizing the Internet. Ethical Issues in Intercultural Perspective. München: Fink.

Hofmann, Gunter (2004). Stuttgarter Neoklassik. In: DIE ZEIT,  Nr. 50, S. 10.

Hubig, Christoph (1993). Technik- und Wissenschaftsethik. Ein Leitfaden. Berlin: Springer.

Kant, Immanuel (1977). Die Metaphysik der Sitten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Werkausgabe Bd. VIII (Hrsg. W. Weischedel).

Köhler, Horst (2004). Deutschland vom Pessimismus Befreien. Horst Köhler im Gespräch mit Helmut Schmidt. In:  DIE ZEIT Nr. 13, 18. März 2004, 59. Jg.

Lessing-Hochschule Berlin (2004). Wirtschaft und Vertrauen.

The Financial Times (2004). The World's Most Respected Companies. 20. Januar 2004.

 Letzte Änderung: 24. Mai  2016

 

 
    

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