1.
Es scheint,
daß die
KI-Forschung den Kernbereich der Informatik nicht darstellt. Denn die
Informatik befaßt sich zwar mit der Entwicklung von Hard- und
Software, aber die KI-Hard- und Software-Entwicklung bilden lediglich
eine zu hoch eingeschätzte Teilentwicklung, ja sogar eine
Randerscheinung der Informatik.
2.
Außerdem ist die
Informatik eine solide moderne wissenschaftliche Disziplin. Die
KI-Forschung dagegen verfolgt unrealistische Ziele, die eher in den
Bereich der science fiction
fallen.
3.
Außerdem ist der
Gegenstand der KI-Forschung, wie es bei Joseph Weizenbaum heißt
(J. Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft,
Kap. 8), ethisch nicht zu verantworten. Also sollte sie nicht
weiterverfolgt werden.
4.
Außerdem stellt die
KI-Forschung, wie es bei T. Winograd und F. Flores heißt (T.
Winograd, F. Flores: Understanding Computers and Cognition, Part I und
II) eine durch die "rationalistische Tradition" bedingte Verzerrung von
Grundbegriffen dar, die dem menschlichen Wirklichkeitsbereich eigen
sind. Also begeht die KI-Forschung eine metabasis eis allo genos und kann
deshalb nicht zum Kernbereich der Informatik gehören.
5.
Außerdem geht die
KI-Forschung, wie es bei H.L. Dreyfus hießt (H.L. Dreyfus: Die
Grenzen künstlicher Intelligenz, 1985, Vorwort), von falschen
methodischen Voraussetzungen (Darstellung von Regeln und Merkmalen)
aus. Also kann sie methodisch den Kern der Informatik nicht darstellen.
Aber
dem steht
entgegen, daß
es heißt (Aristoteles, Politik I, 4, 1253b), daß
"jeder
Diener
gewissermaßen ein Werkzeug ist, das viele andere Werkzeuge
vertritt. Wenn nämlich jedes einzelne Werkzeug auf einen Befehl
hin, oder einen solchen schon voraus ahnend, seine Aufgabe
erfüllen könnte, wie man das von den Standbildern des
Daidalos oder den Dreifüßen des Hephaistos erzählt, von
denen der Dichter sagt, sie seien von selbst zur Versammlung der
Götter erschienen, wenn also auch das Weberschiffchen so webte und
das Plektron der Kithara schlüge, dann bedürften weder die
Baumeister der Gehilfen, noch die Herren der Sklaven."
Die
Schaffung
solcher Diener ist
die Hauptaufgabe der Informatik und Gegenstand der KI-Forschung. Also
bildet die KI-Forschung den Kernbereich der Informatik.
Ich antworte, man müsse sagen, daß zur Bestimmung einer
Wissenschaft zwei Bedingungen erfüllt werden müssen,
nämlich ihr Worüber oder Gegenstand und ihr Worunter, d.h.
der besondere Gesichtspunkt, unter dem der Gegenstand betrachtet wird.
Außerdem muß geklärt werden, ob der Gegenstand
eigentlich oder nur nebenbei zu dieser Wissenschaft gehört.
Zunächst aber ist festzustellen, daß die Informatik eher den
Status einer Kunst (techne, ars) als den einer Wissenschaft
besitzt. Das gilt vor allem im Software-Bereich, da hier noch keine
grundlegenden Theorien für diese Tätigkeit gefunden wurden.
Was
den
Gegenstand der Informatik
anbelangt, ist zu sagen, daß diese Wissenschaft, so wie die
anderen auch, sich in einem geschichtlichen Prozeß der
Selbstbestimmung befindet, in dem außer den Phasen der
Normalität "Revolutionen" (Th.S. Kuhn), d.h. Neubestimmungen auf
das Worüber und Worunter, stattfinden. Mir scheint, daß eine
solche Neubestimmung sich zur Zeit in der Informatik vollzieht: Ihr
Gegenstand soll nicht mehr primär der Computer und die Software,
sondern - der Mensch sein.
Anzeichen dafür ist u.a. die zentrale Bedeutung, die dem Nutzer bei der Planung, Entwicklung
und Beurteilung von Informationssystemen zukommt. Nun, ist der Mensch
bekanntlich auch Gegenstand anderer Wissenschaften, etwa der
Anthropologie, Soziologie, Psychologie, Medizin, Jurisprudenz usw.
Die
besondere
Hinsicht, worunter
die Informatik den Menschen betrachtet, scheint mir die der Mitteilung
von Wissen, sei es zur gegenseitigen Unterrichtung - was also mit dem
Begriff "Information" ausgedrückt wird -, sei es zur Gestaltung
der gemeinsam "mit-geteilten" Welt, sofern dabei primär der
Computer eingesetzt wird, zu sein (Vgl. v.Vf.: Hermeneutik der
Fachinformation, Freiburg/München 1986). So soll also nicht der
Mensch und seine Welt dem Computer und seiner Software, sondern diese
jenem angenähert bzw. dienstbar gemacht werden. Würde sich
die Künstliche-Intelligenz-Forschung sowohl in ihrem 'engen
Anspruch' (narrow claim) -
nämlich gewisse menschliche Tätigkeiten, die zu ihrem Vollzug
"Intelligenz" erfordern, zu simulieren - als auch in ihrem 'weiten
Anspruch' (wide claim) -
nämlich auf einen anderen Weg als den der natürlichen
Reproduktion, Grundweisen menschlichen Existierens, wie etwa Sprache,
Bewußtsein, Intentionalität, Gewissen, Liebe, metaphysische
Bedürfnisse, Vorwissen des eigenen Todes usw. unser
"In-der-Welt-sein" also, an einem Produkt so erscheinen zu lassen,
daß sie das Sein desselben ausmachen würden - als der
eigentliche Versuch einer solchen Annäherung oder
In-Dienst-Stellung verstehen, könnte sie dann mit Recht den
Kernbereich der Informatik bilden.
Die
Gefahr
besteht natürlich
dabei, daß nicht der Mensch und die von ihm verantwortlich zu
gestaltenden (bisher meistens dadurch zerstörten) (Um-) Welt in
den Mittelpunkt der Informatik rückt, sondern das Hirngespinst
eines Menschenersatzes, wodurch also sowohl das ausgesprochene
Worüber und Worunter der Informatik ad absurdum geführt
wären. Unter dem Vorwand eines falsch verstandenen Humanismus,
könnte die Informatik ihrerseits lediglich den "natürlichen"
Menschen in ihren Mittelpunkt rücken wollen. Der "natürliche"
Mensch ist aber derjenige der "unfertig" ist, bzw. der stets sich und
seine Welt gestaltet und dabei bedacht sein muß, sie eben nicht
zu zerstören, sondern zu neuen Formen und Erscheinungen zu
verhelfen.
So
gehört
also die
Künstliche-Intelligenz-Forschung gewissermaßen zur Spitze
oder zum Kern dieses Bereiches, der seinen Gegenstand sozusagen in der
zweiten Potenz reflektiert. Hier wie in den anderen Disziplinen, in
denen der Mensch den Gegenstand bildet, ist die fachspezifische
Reflexion nicht nur von einer "fachübergreifenden", sondern auch
von einer "fachüberschreitenden", d.h. philosophischen Reflexion
untrennbar. Erst eine solche Metareflexion kann zumindest auf der
theoretischen Ebene gewährleisten, daß der "künstliche"
Mensch sich weder in die Utopie seiner angeblichen "Natur" noch in die
meistens totalitäre Vorstellung eines super man flüchtet. So
gesehen, wäre die Informatik und ihr Kern, die
Künstliche-Intelligenz-Forschung, nicht nur eine Wissenschaft,
sondern eine Kunst, die den Menschen stets im Raum seiner offenen
Möglichkeiten, also in seiner Freiheit, betrachtet, eine "ars
liberalis" also, die auch in ihren kühnen "mechanischen"
Entwürfen stets die Grenze zu einer "ars magica" zu wahren vermag.
Auf
das Erste
ist also zu sagen,
daß die Informatik dadurch entweder weiter innerhalb des alten
"Paradigmas" - in dem der Computer bzw. die Software den Kern bildeten
- bleibt, oder die KI-Forschung lediglich bei sich duldet. In beiden
Fällen vermag sie nicht ihrem sich jetzt abzeichnenden Gegenstand
gerecht zu werden.
Auf
das Zweite
ist zu sagen,
daß die Gegenüberstellung zwischen einer "modernen
wissenschaftlichen Disziplin" und der KI-Forschung als bloße science fiction selbst
unwissenschaftlich bzw. vorurteilsbeladen ist. Das Argument entspricht
einer Immunisierungsstrategie, worunter sich nicht selten handfeste
lebenspraktische Interessen (etwa Besetzung von Lehr- bzw.
Leerstühlen, Diffamierung des "Gegners" usw.) verbergen.
Auf
das Dritte
ist zu sagen,
daß die ethische Verantwortung gegenüber unserem Tun im
Bereich der Informatik durch philosophische Reflexion stets
geschärft werden muß. Das geschieht nicht zuletzt indem
nicht etwa eine Maschine, sondern der Mensch in den Mittelpunkt dieser
Wissenschaft rückt. Weizenbaums Mahnung bezüglich des
"Vergessens" "fachübergreifenden" Reflexion in diesem (sowie in
anderen) Bereich(en), sollte stets berücksichtigt werden (vgl.
v.Vf.: Die Verantwortbarkeit des Denkens. Künstliche Intelligenz
aus ethischer Sicht, 1988).
Auf
das Vierte
ist zu sagen,
daß Winograd/Flores' Kritik der "rationalistischen Tradition2 der
Entlarvung mechanistischer Kategorien in ihrer inadäquaten
Anwendung auf die Weisen menschlichen In-der-Welt-seins dient. Es
bleibt dabei die Frage offen, inwiefern unsere Hard- und
Software-Systeme sich am Maßstab dieses In-der-Welt-seins
"messen" lassen, d.h. inwiefern der Mensch durch einen
"künstlichen" Einblick in sich selbst jene Grundlosigkeit seines
Daseins im technologischen Zeitalter zu erfahren vermag (vgl. v.Vf.:
Von der Künstlichen Intellingez als einem ästhetischen
Phänomen, 1988).
Auf
das
Fünfte ist zu sagen,
daß Dreyfus selbst die Möglichkeit "intelligenter Computer"
offen läßt. Seine methodische Kritik zielt letztlich auf die
Anwendung des herkömmlichen Paradigmas der Informatik
(regelgeleitete Software) als Leitfaden für die KI-Forschung.
Gerade wenn der Mensch Gegenstand einer Wissenschaft wird, kommen die
unausrottbaren Schwächen des Reduktionismus deutlich hervor.
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Letzte Änderung: 10. August 2017