Zuerst
veröffentlicht in: XIV. Deutscher Kongreß für
Philosophie, 21.-26. September 1987 (Giessen). Rahmenthema: Einheit und
Vielheit. Kurzfassungen der Vorträge hrsg. von Odo Marquard und
Peter Probst. Giessen, August 1987, S. 16-17.
Wenn vom "Wandel
des Vernunftbegriffs" die Rede ist (vgl. H. Poser, Hg., Wandel des
Vernunftbegriffs, Freiburg 1981), dann stellt sich die Frage, ob dieser
Wandel nicht nur etwa die Selbsterfahrung der Vernunft betrifft,
sondern, ob durch die moderne Informationstechnologie sich ein weiterer
tiefgreifender Wandel ankündigt, wodurch die mögliche Einheit
der menschlichen Vernunft in der Vielheit technischer Intelligenz ihre
vermeintliche Sonderstellung einbüßt.
Das Mittelalter
stellt diese rage "sub specie aeternitatis": Soll der göttliche
Geist die einigende Einheit aller seelischen Substanzen darstellen
(Averroes) oder wird die Idee menschlicher Vernunft durch ihre
materielle Inkarnation in einer Vielheit von Individuen verwirklicht
(Thomas v.A.) bzw. ist sie bereits in der bestimmten Einzelform
individuiert (D. Scotus).
Die Moderne stellt
diese Frage "sub specie machinae": Soll man der menschlichen Vernunft
eine Sonderstellung bei allen Naturerscheinungen zubilligen oder
läßt sie sich in ihren Prinzipien und Regeln so
ergründen, daß sie auf "künstlichem" Wege nachgeahmt,
variiert ja u.U.sogar überboten werden kann? Mit anderen Worten:
Ist Intelligenz die ausschließliche Eigenschaft des biologischen
Systems "Mensch" oder können wir sie in einem anderen Substrat
"einprogrammieren"?
Seit der Entstehung
der "Künstlichen-Intelligenz-Forschung" (KI) in den 50er Jahren
ist diese Frage nicht bloß das Ergebnis einer
"mißglückten" Übersetzung ("intelligence" =
Intelligenz), sondern sie betrifft die Sache selbst.
Die Kontroverse um
die Tragweite des KI-Paradigmas hat in letzter Zeit eine Zuspitzung
bekommen, die in den an die Hermeneutik anknüpfenden Ansätzen
von H.L. Dreyfus (Die Grenzen künstlicher Intelligenz,
Königstein/Ts. 1985) und T. Winograd u. F. Flores (Understanding
Computers and Cognition, New Jersey 1986) zum Ausdruck kommt. Für
Dreyfus bildet die entscheidende Schwäche der KI die Deutung
menschlicher Intelligenz als eines durch Regeln geleiteten Verfahrens,
während der Mensch in Wahrheit, wie die Hermeneutik zeigt, durch
das "In-der-Welt-sein" charakterisiert ist, so daß Intelligenz
immer inkarniert (in einem Leib und in einer Situation) zugleich aber
immer schon über die Situation hinaus ist. Dieses "Hinaus-sein" (=
Horizonthaftigkeit, Transzendenz) läßt sich aber weder
formalisieren noch programmieren. Winograd und Flores ziehen aus der
Hermeneutik praktische Konsequenzen in bezug auf das "computer design":
Der rationalistische Vergleich Mensch/Computer ist eine Falle. Es geht
stattdessen darum aufzuzeigen, welche Rolle einprogrammierbare
Intelligenz bei einem u.a. durch die Seinsweise der "Geworfenheit"
(Heidegger) bzw. Faktizität gekennzeichneten Wesens, spielen kann.
KI soll im hermeneutischen, d.h. zugleich theoretischen und praktischen
Verstehensprozeß so eingebettet werden, daß die
prinzipielle Offenheit dieses Prozesses erhalten bleibt. Die Blindheit
Künstlicher Intelligenz kann nur durch Hervorhebung des offenen
Horizonts unseres Vorverständnisses zum Ausdruck gebracht werden.
Diese Ansätze
führen m.E. die Frage nach der Einheit und Vielheit der Vernunft
über sich selbst hinaus. Es ist der intersubjektive,
geschichtliche und sprach-bedingte Weltbezug,
der den "gebrochenen" Horizont menschlichen Denkens und Fühlens
darstellt, so daß der Intellekt, ob "natürlich" (durch sich
selbst) oder "künstlich" (durch einen anderen) ohne diesen Bezug
weder zu sich selbst kommen noch die Vielheit anderer Formen zur
vorläufigen Einheit führen kann.
Letzte
Änderung: 17. Juli 2017