INFORMATIONSGERECHTIGKEIT

Ein Nachtrag
 

Rafael Capurro
  
 
 
 
Diskussionsbeitrag zum Forum am 21. August 2001 auf Einladung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Arbeitsgruppe Informationsgerechtigkeit (Frau Niombo Lomba) Vgl. v. Vf.: Informationsgerechtigkeit. In: medien praktisch. Zeitschrift für Medienpädagogik Heft 4/98, S. 42-44. 
 

 
 
Übersicht
 
1. Visualisierung der geographischen Verteilung der Informationstechnologien 
2. Statistiken 
3. Informationsgerechtigkeit begrifflich 
4. Informationsgerechtigkeit praktisch 
5. Politische Deklarationen und Action Plans 
6. UN  
7. ICIE 
8. Workshop zur Informationsethik 
9. Informationsökologie 
10. Fazit: Grüne Wege zur digitalen Informationsgerechtigkeit
 
11. Literatur 

  
 
 
 

1. Visualisierung der geographischen Verteilung der Informationstechnologien 

 
Cybergeography
 

2. Statistiken  

  • Von rund 6.000 Millionen Menschen sind etwa 6% online 
  • Warum nehmen die Menschen nicht am Internet teil? Statistische Daten aus einer internationalen Studie durch Ipsos-Reid's Global Express, im Nov./Dez. 2000; Anzahl der Interviews im Durchschnitt: 500, bei USA und Deutschland: 1000 Interviews; Indien: 1.700 Interviews, Türkei: 1.200 Interviews): 
    • kein Bedarf (40%) 
    • kein Computer (33%)
    • kein Interesse (25%)
    • kein Wissen, wie man es nutzt (16%)
    • kein Geld (12%)
    • in den am wenigsten entwickelten Ländern: keine Infrastruktur 
    • Rußland: 83% der Befragten haben keinen Internet-Anschluß
    • In vielen Ländern (darunter: Malaysia, Indien, Mexico, Südafrika): zu wenig Zugangsmöglichkeiten
    • 98% der Befragten haben ein Fernsehen, 51% ein Handy, 48% ein Homecomputer (aber nur 36% Internet-Zugang)

3. Informationsgerechtigkeit begrifflich 

  • Allgemeine Gerechtigkeit:

Betrifft die Frage der Chance selbstbestimmer individueller und sozialer Lebensentwürfe in einer durch die digitale Vernetzung (mit-)geprägten Welt: 
 
    • Vertieft die digitale Globalisierung die Kluft zwischen Armen und Reichen?
    • Wie ist eine soziale Informationwirtschaft zu konzipieren?
    • Wie kann eine sinnvolle Aneignung der IT in der Dritten Welt stattfinden? 
    • Wie kann informationelle Selbstbestimmung gewährleistet werden?
    • Wie kann informationelle Autonomie (Medienkompetenz) gewährleistet werden? 
    • Wo reichen moralische Normen (z.B. Verhaltenskodizes) aus? (Stichwort: Informationsethos).
    • Wo läßt man den digitalen Informationsfluß durch den Marktmechanismus sich selbst regulieren und wo sind der Ökonomisierung Grenzen zu setzen?
    • An welchen sozialen Praktiken müssen die Menschen teilhaben können, damit der Zugang zur digitalisierten Information einen (Teil-)Sinn davon macht? (Frohmann 2001) 
     
  • Partikulare Gerechtigkeit:

Betrifft die Frage der gerechten Verteilung von und des Zugangs zu informationellen Gütern, einschließlich der Möglichkeit zu ihrer Produktion und Nutzung: 
    • ausgleichende Gerechtigkeit: Wer soll warum informationell kompensiert werden? (Stichwort: Chancengleichheit im Netz)
    • austeilende Gerechtigkeit: Wer darf an welchen informationellen Gütern -  einschl. ihrer Produktion, Verteilung und Nutzung -, teilhaben? (Stichwort: Ungleichheit im Überfluß)
     
  • "Informationelle Gerechtigkeit" nach Karsten Weber:
    • Karsten Weber stellt folgende "informationelle Gerechtigkeitsgrundsätze" auf: 

"1. Jedermann soll gleiches Recht auf Zugang zum umfangreichsten System von Informationen und Wissen haben, das mit dem gleichen System für alle anderen vereinbar ist.  
2. Informationelle Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen." (Weber 2001, 168) 
Angesichts von Monopolisten à la Microsoft ist der 1. Grundsatz im Sinne der Open Source-Bewegung folgendermaßen zu präzisieren: "Jedermann soll gleiches Recht auf Zugang zum umfangreichsten System von Informationen und Wissen haben, das mit dem gleichen allen potentiellen TeilnehmerInnen öffentlich-zugänglichen System - einschließlich seines Quellcodes - für alle anderen vereinbar ist." 
Ferner ist zu bedenken, dass das Internet nicht bloß ein System von Informationen und Wissen darstellt, worauf Jedermann ein Empfänger-Recht auf Zugang haben sollte, sondern ebensosehr ein System ist, wo jeder - in verschiedenen Konstellationen: one-to-one, one-to-many, many-to-many, many-to-one -, das Recht haben sollte, ein Sender zu sein. Wir leben in einer message society: R. Capurro: Theorie der Botschaft (2001).  
Das bedeutet auch ein Strukturwandel der Oligopole der Massenmedien bei der Herstellung medialer Öffentlichkeit: R. Capurro: Strukturwandel der medialen Öffentlichkeit (2000a) 
Der zweite Grundsatz bedarf zu seiner Verwirklichung einer institutionell verankerten austeilenden und ausgleichenden Gerechtigkeit. Stichwort: Soziale Informationswirtschaft. 
    "Ebenso wie die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze bei Rawls wesentlich darauf bauen, dass sich alle Personen - zumindest im Prinzip - auf sie einigen können, weil sie im Zustand des Schleiers des Nichtwissens ihre Position im gesellschaftlichen Gefüge nicht kennen, basieren die hier formulierten informationellen Grundsätze auch darauf, dass die Akteure im Internet sich im Zustand einer spezifischen Unwissenheit für Regelungen des Internets entscheiden müssen. Diese bezieht sich allerdings nicht so sehr auf die Präferenzen der Akteure; sie sind ihnen durchaus - zumindest weitgehend - bekannt; das ist ein wesentlicher Unterschied zur Rawl'schen Konzeption. Auch wissen alle Akteure - oder können wissen -, welche Handlungen möglich sind; das sichert der eingeschränkte Handlungsrahmen des Internets, ein Faktor, der bei Rawls nicht von Belang ist. Doch es ist nur sehr schwer möglich zu wissen, welche Hintergrundmöglichkeiten den Akteuren zur Verfügung stehen. Dies wird vor allem bei dem Differenzprinzip des 2. informationellen Gerechtigkeitsgrundsatzes deutlich. Diese Unsicherheit bzw. Unwissenheit wird rationale Akteure dazu bewegen, dass sie sich auf die beiden informationellen Gerechtigkeitsgrundsätze einigen. Sie können sich aufgrund der Unwissensheit unparteiisch verhalten." (Weber 2001, 169-170).

Die Frage ist, ob dies tatsächlich der Fall sein wird, oder wir hier nicht mit einer Fiktion von "rationalen Akteuren" argumentieren. Das gilt m.E. auch dann wenn die Internet-Akteure weitgehend in einem de facto Zustand großer Unwissenheit sind, worauf Weber anschließend aufmerksam macht: 
 
    • "Die Akteure im Internet können als fiktiv aufgefasst werden, doch sind sie ebenso als reale Personen denkbar, denn diese befinden sich bezüglich ihrer Situation im Internet als eingeschränktem Handlungsrahmen auch real in einem Zustand großer Unwissenheit. Damit wird eine tatsächlich gegebene Situation für rationale Akteure im Internet zum Anlass, die informationellen Gerechtigkeitsgrundsätze zu akzeptieren." (Weber 2001, 169)
     
  • Rechtlicher Rahmen:

    • UDHR (Allg. Deklaration der Menschenrechte) (Art. 19): "Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfaßt die Freiheit, Meinungen unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten."

    • Ferner: Art. 26 (Recht auf Bildung); Art. 27 (Beteiligung am kulturellen Leben); Art. 2 und 7 (Chancengleichheit vor dem Gesetz) 
       
    • Grundgesetz (Art. 5): "(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung."
 
  • Soziale Indikatoren ('IsICTometrics') (Menou 2001):

    • Wie läßt sich die konkrete Auswirkung der IT auf soziale Verhältnisse messen und auswerten? Wer braucht wofür Zugang zum Internet?
    • Herkömmliche technische Indikatoren: Art der Information, Institutionen (z.B. Bibliotheken, Fachinformationszentren), Kommunikationsmittel, Technologien
    • Soziale Indikatoren (social information controlling): Welche Veränderungen haben aufgrund der IT stattgefunden? unter welchen ethischen Standards? Wie hat sich das Privatleben, das soziale Leben, das bürgerliche Leben, das professionelle Leben, das wirtschaftliche Leben... aufgrund der IT verändert? Wie waren die Erwartungen?

4. Informationsgerechtigkeit praktisch 

 
Dritte Welt
    Global Trade Watch
     
  • Christoph Albrecht: Freidenkzonen ohne Steuer. Nach Genua: Weltweite Dialektik der Globalisierungsangst. In: F.A.Z. 1. August 2001, Nr. 176, S. N 5: Albrecht stellt die Ausschreitungen während des G-8-Gipfels in Genua in Zusammenhang mit der immer wieder auftauchenden Angst vor dem Neuen und die (üblichen) Folgen, nämlich Steuererhöhungen! In Anschluß an Jean Delumeau verweist er auf die Studentenbewegung der sechziger Jahre und deren "globaler Angst" vor der Zerstörung der Erde durch Technik und Bürokratie. Heute scheint sich die Welt in ein globales Kasino zu verwandeln, wobei viele Länder ausgeschlossen bleiben. Vorbild des Aufschwungs ist Indien. Einige Nationen im Nahen Osten (Dubai, Ägypten, Jordanien) versuchen, durch Technologieparks und Freihandelszonen ihm nachzuahmen: "Die Dialektik der Globalisierung ist den Namen dieser Freidenkzonen schon eingeschrieben. Wie die lokale Presse in Jordanien bemerkte, signalisiert die dortige "Free Media Zone", daß der Rest des Landes nicht so frei ist, wie es die Computer-Gebildeten heute voraussetzen."

  •  
  • Dialektik der Globalisierung: Davos oder Porto Alegre?
  • OFFIZIELLE WEBSITES: 

     
    Davos Webforum
     
    World Social Forum
     
    LINKS: 
    Davos 2001 The public eye on Davos, coordinated by the Berner Declaration 

    ferner: 
    AECEP Association européenne pour une citoyenneté et une économie plurielles 
    Attac: Site über Kampagnen gegen internationale Verschuldung u.v.m. 
    Bicusa (Bank Information Center): Unabhängige Information über Projekte int. Org. 
    CIRIEC International 
    CPN Civic Practices Network 
    CRID Centre de recherche et d'information sur le développement 
    IFG International Forum on Globalisation 
    Samizdat 
    Via Campesina Internationaler Bauernverband 
     

     
    Dritte Welt
     
    Vgl. R. Capurro: Soziale, rechtliche, politische und ethische Aspekte der Informationsgesellschaft (Skript 2001) 
     

5. Politische Deklarationen und Action Plans 

6. UN 

  • UNDP: Der neue Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen 
  •  
    UNDP
     
    • UNESCO: Observatory of the Information Society:  Informationspolitik, Privatheit und Vertraulichkeit, Inhaltsregulierung, universeller Zugang
     
    UNESCO Observatory
     
    • ITU: The World Summit on the Information Society (WSIS) (Genf, Dezember 2003)
     
    WSIS
     

    7. ICIE (International Center for Information Ethics) 

    Meetings, Bibliographie, Virtuelle Bibliothek, Lehre & Forschung, Mailing List 
    ICIE
     

     8. Workshop: Informationsarmut - Informationsreichtum (1996) 

    Workshop
     

    9. Informationsökologie 

    Capurro, R.: Towards an Information Ecology (1989) 
    -: Vom Buch zum Internet: Nachhaltige Wissenstradierung (2001a) 

     

    10. Fazit: Grüne Wege zur digitalen Informationsgerechtigkeit

    Wie kann eine grüne Internet-bezogene Informationspolitik aussehen? Ich glaube, dass sie eine schonende Informationspolitik sein sollte. Damit meine ich eine Abschwächung globaler Ziele mit ihren jeweiligen Machtansprüchen durch die Förderung lokaler grass-roots Projekte, wie das Beispiel der lateinamerikanischen Tele-centers zeigt. Dabei wird man vor Ort mit folgenden Problemen konfrontiert:  
    - Keine Ausbildungspolitik  
    - Keine nachhaltige Technik 
    - Keine Sicherheitsstrategien bei der Nutzung des Internet 
    - Kein ausreichendes Informationsmanagement 
    - Keine ausreichende Fähigkeit, eigene Inhalte zu produzieren 
    - Keine nachhaltige Finanzierung 
    - Kein strategischer Einfluß im politischen und privatwirtschaftlichen Handeln 
    - Keine Kompatibilität mit bestehenden kulturellen Praktiken 

    Zu diesen Problemen lassen sich auch entsprechende Lösungsansätze entwickeln wie die Pläne beim I Encuentro Regional de Telecentros de América Latina y el Caribe (Quito, Ecuador, 30. Juli - 2. August 2001) zeigen. 
    Vgl. v.Vf.: Perspectivas de una cultura digital en Latinoamérica (2000b) 

    Dem "schwachen Denken" des italienischen Philosophen Gianni Vattimo entsprechend, wäre es adäquater, will man eine schonende Informationspolitik betreiben,  von "Verwindung" anstatt von "Überwindung" des digital divide zu sprechen. 
    Vgl. v.Vf.: Emanzipation oder Gewalt (2001c) 

     

    11. Literatur 

    Albrecht, Chr. (2001): Freidenkzonen ohne Steuer. Nach Genua: Weltweite Dialektik der Globalisierungsangst. In: F.A.Z. 1. August 2001, Nr. 176, S. N 5. 

    Capurro, R.: (2001): Theorie der Botschaft 
    - (2001a): Vom Buch zum Internet: Nachhaltige Wissenstradierung  
    - (2001b): Soziale, rechtliche, politische und ethische Aspekte der Informationsges. 
    - (2001c):  Emanzipation oder Gewalt 
    - (2000): Ethical Challenges of the Information Society in the 21st Century 
    - (2000a): Strukturwandel der medialen Öffentlichkeit 
    - (2000b): Perspectivas de una cultura digital en Latinoamérica 
    - (1989): Towards an Information Ecology
    - (1995): Leben im Informationszeitalter. Berlin

     
    Frohmann, B. (2000): Cyber Ethics: Bodies or Bytes? In: International Information and Library Review, 32, 423-435. 

    Ipsos Reid (2001): Why Aren't More People Online? June 13 

    Menou, M. (2001): IsICtometrics: Toward an alternative vision and process. Lisbon. 

    Siegle, J.A. (2001):  Zwischen Hype und Hoffnung. Die Online-Entwicklung in Südamerika. In: Internet Professionell. August, 112-114. 

    Weber, K. (2001): Informationelle Gerechtigkeit. Herausforderungen des Internets und Antworten einer neuen Informationsethik. In: H.F. Spinner, M. Nagenborg, K. Weber: Bausteine zu einer neuen Informationsethik. Berlin/Wien, 129-188.   


    Letzte Änderung: 8. September  2017

     
     
     
       

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