WANDEL DER MEDIZIN

IN DIGITALEN INFORMATIONSGESELLSCHAFTEN


Rafael Capurro
   
 
  
 
Dieser Beitrag erschien in: Imago Hominis. Quartalschrift für Medizinische Anthropologie und Bioethik, 2010, 17/2, 113-120. Es handelt sich um eine (hier leicht modifizierte)  Übersetzung, Überarbeitung und Aktualisierung des in Spanish verfassten Aufsatzes: Medicina 2.0. Reflexiones sobre una patología de la sociedad de la información (Humanitas. Humanidades Médicas, 47, 2010, 1-15).
Siehe auch der Beitrag Leben in der message society. eine medizinethische Perspektive in:
Joachim Hruschka und Jan C. Joerden, Hrsg. Jahrbuch für Recht und Ethik Bd. 23, Berlin 2015, 3-15.

 


Einführung

Wir leben in Gesellschaften, deren Selbstverständnis und Möglichkeiten in den Bereichen Wissen, Produktion und Handeln in grundlegender Weise durch digitale Informationstechnologien bestimmt werden, worauf der Ausdruck digitale Ontologie hinweisen soll. Siehe [13].
Nach Michel Foucault lassen sich Technologien folgendermaßen unterscheiden:
  1. Technologien der Produktion, die zur Erzeugung und Umformung von Dingen dienen;
  2. Technologien von Zeichensystemen, wodurch wir Zeichen und Symbole manipulieren können;
  3. Technologien der Macht, die zur Bestimmung menschlichen Verhaltens zu Herrschaftszwecken dienen;
  4. Technologien des Selbst, womit Foucault jene Operationen meint, die den Individuen ermöglichen "mit sich selbst oder mit Hilfe anderer, Operationen mit ihren Leibern und Seelen, ihren Gedanken, ihrem Verhalten und Seinsweisen zu vollziehen, um zu bestimmten Zuständen von Glück, Reinheit, Weisheit oder Unsterblichkeit" zu gelangen. [1]
Dem Gedankengang Foucaults folgend sind Technologien von Zeichensystemen in den digitalen Informationsgesellschaften eng mit den Technologien des Selbst verknüpft. [2] Das gilt auch für die klassischen Technologien der Zeichenübermittlung wie Schrift und Druck. [3] Allerdings beeinflussen digitale Technologien in zunehmendem Ausmaß sowohl die Technologien der Macht wie auch jene der Produktion.
Die heutigen Informationsgesellschaften – und ich spreche immer von "Informationsgesellschaften" im Plural, da es unterschiedliche Ausformungen derselben je nach Kultur, technischer Entwicklung usw. gibt – lassen sich aus vier in unterschiedlichen Formen vorkommenden und in sich paradoxen Perspektiven charakterisieren:


Informationsüberflutung


Ich nenne das eine paradoxe Eigenschaft, weil es eine Informationsüberflutung genau genommen nicht geben kann, zumindest wenn man unter Information das Ergebnis eines Selektionsprozesses versteht, der sich auf das richtet, was wir gerade zu benötigen glauben. Paradox is, dass die Menge der potentiell zugänglichen Information eine (unüberschaubare) Vermehrung der Auswahlmöglichkeiten mit sich bringt. Eine Gesellschaft, in der das Informationspotential und die damit verbundenen Auswahlmöglichkeiten immer umfassender werden, muss sich dem großen Problem hinsichtlich der Kriterien von Wahrhaftigkeit, Relevanz und Qualität der Information stellen.


Interaktivität


Das zweite Kennzeichen heutiger Informationsgesellschaften liegt in der Interaktivität. Diese trennt uns von bisherigen, durch Massenmedien hierarchisch aufgebauten Informationsgesellschaften insofern, als der Benutzer bisher vorwiegend ein Empfänger und nicht zugleich ein Sender war. Die Interaktivität, die sich seit dem Auftreten des Internets rasant entwickelt hat
siehe E-Mail, Blogs und andere Instrumente der digitalen Sozialisation – bedeuten eine klare Zunahme an Wahlmöglichkeiten und bewirken eine Ausweitung der individuellen und kollektiven Freiheit. Paradoxerweise sind einige dieser Dienste aber schwer kontrollierbar und können auch schädliche und zerstörerische Handlungen wie bei Viren und SPAM – missbraucht werden.

Selbstdarstellung

Drittens haben Individuen und Gruppen in digitalen Informationsgesellschaften ein großes Feld an Möglichkeiten zur Selbstdarstellung eröffnet, die über diejenigen in orts- und zeitgebundenen politischen, sozialen und kulturellen Strukturen weit hinausgehen. Diese lokalen Rahmenbedingungen sind zwar nicht verschwunden, sie unterliegen aber ihrerseits einem beschleunigten Wandel, der durch verschiedene Arten globaler Vernetzung bestimmt wird.

Materialität

Digitale Informationsgesellschaften erzeugen zwar immaterielle Kommunikationsprozesse, haben aber materielle Voraussetzungen. Alle digitalen Mittel
von den Rohmaterialien bis hin zu den Prozessen für Produktion, Anwendung und Wiederaufbereitung – sind notwendigerweise an biologische Vorgänge gebunden, welche positiver oder negativer Art sein können. Die ökologische Debatte angesichts des gewaltigen Anfalls elektronischen Mülls, der häufig in Entwicklungsländer exportiert wird, [4] ist äußerst aktuell. Die digitale Weltvernetzung vermittelt nicht nur alles, was digitalisierbar ist, sondern sie durchdringt den physischen Alltag von Millionen von Menschen. Man kann dafür den schillernden Begriff des Cyborgs verwenden, um diese Hybridisierung unserer individuellen und sozialen Existenz zu kennzeichnen, die eine doppeldeutige ist: Wir leben eingebettet im digitalen Medium, und dieses dringt immer stärker in unseren Leib und unser Leben ein, ohne letztlich die Opazität menschlicher Leiblichkeit und die Endlichkeit menschlichen Existierens aufheben zu können. Diese Durchdringung verursacht nicht nur neue Formen des Krank- und Gesundseins, sondern es verändert auch das Arzt-Patient-Verhältnis und das ärztliche Selbstverständnis, worauf jetzt umrisshaft eingegangen werden soll.


Wandel der Medizin

Die obige Beschreibung heutiger Informationsgesellschaften beansprucht nicht vollständig zu sein, zeigt aber doch klar, dass sie auch zu einem Wandel der Medizin führen muss. Die digitalen Medien werden immer mehr zu einem entscheidenden Lebens- und Leidensfaktor. [5] Eine künftige Pathologie der Informationsgesellschaften müsste sowohl leiblich-seelische alsu auch existenzielle Aspekte umfassen. Sie ist Voraussetzung für eine Änderung des aus dem 20. Jahrhundert stammenden Selbstbildes des Arztes/der Ärztin und des Patienten. Die Informationsgesellschaften befinden sich am Anfang eines Weges, ohne genau zu wissen, ob die eine oder andere Richtung besser wäre, nicht zuletzt, weil die durch Digitalisierung und Biotechnologien ermöglichten lokalen und globalen Wechselwirkungen sich kaum in ihren konkreten Auswirkungen im Voraus ahnen und bewerten lassen.

Georg Mackmann, von der Abteilung für medizinische Ethik der Universität Tübingen und Kenneth Goodman, Direktor des Bioethik-Programms der University of Miami, stellen folgende Fragen im Zusammenhang mit der Zukunft der Medizin und des Arzt-Patienten-Verhältnisses in einer von der digitalen Technologie geprägten Kultur:
  • Welche sind die angemessenen Anwendungen von Gesundheitsinformationssystemen?
  • Wer sollte derartige Systeme nutzen?
  • Welche Vorteile und welche Risiken bergen diese Technologien für den Patienten?
  • Inwiefern ändert die Informationstechnologie die Beziehung zwischen Arzt und Patient?
  • Inwieweit verändert sich (auch künftig) die ärztliche Entscheidungsfindung?
  • Inwiefern verändern digitale Informationstechnologien die Konstruktion von Körper und Krankheit aus medizinischer Sicht? [6]
Die letzte Frage bezieht sich auf die Konstruktion des menschlichen Körpers im Sinne von Körper ("body") und Leib ("embodiment"). Die digitale Informationstechnologie ermöglich nämlich eine Konstruktion des Leibes als digital erfassbare Daten ("body as data"). Diese Fragen bestimmen den Bereich dessen, was ich Medizin 2.0 bezeichne, d.h. einen Paradigmenwechsel derselben, auch bezüglich der Auffassung des menschlichen Leibes als Forschungsgegenstand mittels digitaler Technologien und die entsprechenden Vorstellungen über Gesundheit und Krankheit. Beginnen wir zunächst mit der Darstellung einiger Auswirkungen der oben beschriebenen Merkmale von Informationsgesellschaften auf die Medizin.

Informationsüberflutung im medizinischen Bereich

Informationsüberflutung ist ein Phänomen, das Ärzte, Patienten und auch die medizinische Forschung selbst angeht. Ärzte und Patienten stehen vor der paradoxen Situation einer Informationsfülle, etwas über eine bestimmte Krankheit, ohne jedoch die Datenfülle anhand des konkreten Falles differenzieren und selektieren zu können. Das kann zu einer Verunsicherung und Fehlinformation dese Patienten führen, aber auch zu einer Art Machtverlust des Arztes gegenüber dem gut informierten und selbstaufgeklärten Patienten.

In ähnlicher Weise wirkt sich die Informationsflut in der Forschung und medizinischen Praxis aus. Denken wir beispielsweise an die "evidence-based medicine" (EBM), die tendenziell die Relevanz einer Information ausschließlich auf empirische Evidenz stützt und dabei möglicherweise wichtige Informationen in Form von Erzählungen, die aus der Lebenswelt des Patienten stammen
– man könnte dementsprechend von "story-telling based medicine" sprechen – verliert. Beide Methoden ergänzen sich gegenseitig, und sie lassen sich auch auf vielfältige Weise digital vermitteln.

Die Informationsüberflutung beeinflusst die medizinische Ausbildung, sowohl für Studenten als auch für Professoren, eine Situation, die fast überall im Hochschulbereich stattfindet. Pharmaindustrie und ihre Partner wie Apotheken und selbst Ärzte werden sich immer mehr bewusst, wie komplex das digitale Umfeld mit seiner zweideutigen Fülle und seinem Auswahlzwang ist. Diese Situation beeinflusst notwendigerweise sowohl die Entscheidungsfindung des Arztes, wie auch die des Patienten.

Die Arzt-Patient-Beziehung

Als zweites wollen wir den Aspekt der Interaktivität betrachten, der die Beziehung zwischen Arzt und Patient sowohl in der Sprechstunde als auch im Krankenhaus direkt prägt. Für eine Generation, die im Umfeld interaktiver digitaler Informationsgesellschaften aufgewachsen ist, ist es beispielsweise kaum nachvollziehbar, dass ihnen in einem Krankenhaus kein interaktives Patienteninformationssystem angeboten wird. Schließlich verstehen sich diese als mündige Patienten, als Partner, die erwarten, mit dem medizinischen Personal interaktiv in Kontakt treten zu können und Informationen über ihre Krankheit, den Genesungsprozeß etc. zu bekommen. Was dieser Patient heute in seinem Zimmer vorfindet, ist bestenfalls ein Fernsehapparat. Denkt man an die vielfach geforderte Unterschrift einer informierten Zustimmung, stellt sich die Frage, was ein interaktives System für die Arzt-Patien-Beziehung bieten sollte, wie beispielsweise eine Selektion von relevanten, personenbezogenen Informationen in einer entsprechenden Qualität, die es dem Patienten erlaubt, von seinem Recht, wissen oder nicht wissen zu wollen, Gebrauch zu machen oder auch nicht.


Privatsphäre und Sicherheit

Es liegt auf der Hand, dass interaktive Prozesse eng mit der Privatsphäre und folglich mit allen auf die Sicherheit des Patienten bezogenen Aspekten verknüpft sind. Es geht also um Vermeidung einer Datennutzung in böser Absicht ("security") und um Fälle unbemerkter nachteiliger Folgen ("safety")
– wobei sowohl das medizinische Personal wie auch die befasste Institution betroffen sind. Letztlich ist auch zu beachten, dass interaktive digitale Netze nun auch Beziehungen der Patienten untereinander ermöglichen, was einen positiven sozialen Rückhalt mit sich bringen kann (z.B. Selbsthilfegruppen), die aber paradoxerweise auch zu einer größeren Verwirrung führen können, etwa durch scheinbar ausreichende Informationen, die aber zu verfehlten praktischen Schlussfolgerungen führen können. Die Frage des Datenschutzes und der Datensicherheit sind jetzt und in Zukunft ein hoch sensitives medizinethisches, -rechtliches und -politisches Thema. Denn: Datenmanipulationen kann sich nicht nur auf den Leib, sondern auch auf die gesamte Existenz des Patienten auswirken, vor allem sofern sie Teil einer externalisierten und digital-vernetzten Privatsphäre ist. [7]


Arzt und Patient im 21. Jahrhundert

Die verschiedenen Ausformungen von digitalen Informationsgesellschaften wirken sich auf das Selbstbewusstsein und Selbstverständnis des Arztes und auch des Patienten aus. Wie bereits festgehalten sind Patienten ebenfalls handelnde Personen, d.h. sie können und sollen sich angepasst an die Umstände und in entsprechendem Ausmaß aktiv einbringen. Natürlich gibt es auch den mehr oder weniger passiven oder ferngesteuerten Patienten, dessen Passivität von persönlichen Interessen, Situationen und Optionen abhängt. Genauso gibt es auch Ärzte, die ihr Wissen während des therapeutischen Prozesses nicht mit dem Patienten teilen und interaktive Momente auf die kurze tägliche Visite reduzieren wollen, möglichst nur, um die Unterschrift einer informierten Zustimmung zu erhalten, der ihre ärztliche Behandlungsermächtigung für allenfals eintretende Eventualitäten erweitert bzw. dazu dient, zweitaufwändige und die Geduld strapazierende Diskussionen mit dem Patienten von vornherein zu verhindern.

Personalisierte Medizin

Die Digitaltechnik revolutioniert die medizinische Wissenschaft bereits seit Jahren im Bereich der Diagnostik und der Therapien. Im Zusammenhang mit der Nanomedizin geht man von einer Tendenz zu personalisierter Medizin aus, wobei die Arzt-Patient-Beziehung mehr und mehr in Richtung Vorherrschaft des Patienten tendiert. Der Ausbau des autonomen Handelnden kann freilich paradoxerweise ehe zu Problemen statt zu Verbesserungen führen, da die Fähigkeiten des Patienten zu einer richtigen Interpretation der auf seinen Fall bezogenen Daten oft sehr beschränkt sind. [8]
Die Entwicklung der Medizin und der Arzt-Patient-Beziehung umfasst auch das Feld der Anwendung von Steuerungs- und Kontrollsystemen für leibliche Prozesse mit digitalen Implantaten, deren Auswirkungen zum Beispiel auf die Persönlichkeit des Patienten gravierend sein können. [9] Eine Überforderung durch Informationen bei mangelnder Klarheit der Daten könnte paradoxerweise eine Möglichkeit der Einschränkung der Patientenautonomie bewirken. [10]

Der menschliche Leib aus digitaler Perspektive

Abschließend wollen wir den Einfluss digitaler Informationsgesellschaften hinsichtlich der Auffassung des menschlichen Leibes und der Konzepte von Gesundheit und Krankheit erörtern. Unter der Prämisse der von mir oben angedeuteten Begriff der digitalen Ontologie sind wir nur in der Lage, in dem Ausmaß etwas zu verstehen, in  dem wir es in und aus dem digitalen Medium heraus betrachten können. Das bedeutet, dass der menschliche Leib wesentlich als ein Paket digital einsehbarer, durch digitale Methoden, Instrumente und/oder Netze manipulier- und steuerbarer Daten verstanden wird. Es ist einsichtig, dass das Auswirkungen auf die Beziehung der Medizin zum menschlichen Leib hat, die einen rechtlichen Schutz dieser Daten erfordern und die den "corpus" des klassischen "habeas corpus" in ein "habeas data" umwandeln [11]
Diese digitale Sicht des menschlichen Leibes eröffnet auch Möglichkeiten zur Veränderung desselben, die über die medizinische Behandlung mittels digitaler Technik hinausgehen und verschiedene Formen der Hybridisierung von Leib und digitalen Bausteinen umfassen, wie z.B. digitale Implantate [12] und mögliche Verbesserungen ("enhancements") von empfindungs-, wahrnehmungs- und emotionsbezogenen Vorgängen. Der amerikanische Philosoph Don Ihde hat den Ausdruck "bodies in technology" geprägt. [13] Wir können von "technology in bodies" sprechen. Die Konzepte von Gesundheit und Krankheit werden ihrerseits als Informationsprozesse verstanden.
Der menschliche Leib selbst wird nun nicht mehr als perfektionierbar angesehen im Rahmen bestimmter natürlicher, mehr oder weniger unveränderlicher Voraussetzungen mittels konventioneller Verfahren (wobei bestimmte Ideale und Vollkommenheitsvorstellungen epochen- und kulturbezogen veränderlich sind), sondern der Leib wird als ein dank digitaler Technologie, z.B. im Zusammenwirken mit der Molekularbiologie, exakt nach individuellen Interessen zu entwerfendes Etwas betrachtet, wobei sich im Fall einer Vererbarkeit solcher Umwandlungen evtl. Folgen für künftige Generationen ergeben können. Die aktuellen legalen Grenzen im Zusammenhang mit dem Verbot von Veränderungen des menschlichen Genoms enthüllen diese Interaktionsmöglichkeiten zwischen biologischen Vorgängen, möglichen individuellen und sozialen Wünschen und der fortschrittlichen digitalen Technologie des 21. Jahrhunderts ex negativo.


Ausblick

Das Grundproblem digitaler Informationsgesellschaften liegt in einer rastlosen Vermehrung von digitalen Boten und Botschaften und deren möglichen Auswirkungen auf das Leben von Ärztinnen, Ärzten und Patienten in den, wie ich sie nennen möchte, message societies. Das ist eine dystopische Sicht der Informationsgesellschaften, die sowohl utopische als auch heterotopische Alternativen voraussetzt oder hervorruft. [15] In beiden Fällen können und sollten Ärztinnen und Ärzte eine ethisch-kritische Sicht einnehmen, zum einen um auf mögliche Illusionen bezüglich der Perfektivilität des menschlichen Leibes und Lebens aufmerksam zu machen. Man denke zum Beispiel an den heutigen hype des sog. Transhumanismus mit einen vielfältigen Glücksversprechungen über enhancements aller Art. [16] Zum Anderen aber ist es eine ethische Pflicht, sowohl der Präventivmedizin als auch der Therapeutik, auf Orte und Zeiten außerhalb des mainstream der Informationsgesellschaften hinzuweisen, die dem Patienten erlauben, von ihrer rastlosen Boten- und Botschaftsflut, heterochronisch und heterotopisch Abstand zu nehmen.
Wir müssen uns digital-freie Räume und Zeiten leisten. Miriam Meckel spricht mit Recht vom "Glück der Unerreichbarkeit."[17] Ohne individuelle und soziale Lebensstrategien des Widerstands gegen den Bio- und Infotech-Terrorismus des Glücks werden wir wohl den Anforderungen und Wucherungen der message societies im 21. Jahrhundert nicht gewachsen sein, weder als Patienten noch als Ärztinnen oder Ärzte. Das gilt ganz besonders in Bezug auf die Auswirkungen digitaler Informationstechnologien auf die ältere Generation. [18] Es gehört zu den berufsethischen Verpflichtungen einer Ärztin und eines Arztes im 21. Jahrhundert dazu beizutragen, dass diese möglichen psychischen und leiblichen Auswirkungen thematisiert und offen in dere Arztpraxis erörtert werden.
Katherine Hayles spricht in Anschluss an Michel Foucault von "embodiment" im Sinne eines leiblichen und existenziellen Eingebettetsein in einem nicht völlig beherrschbaren oder rational steuerbaren Prozeß, im Gegensatz zu "body" als bloßes Vorhandensein eines Körpers. [19] Dieser Unterscheidung liegt auch der von Franck erwähnten Phänomenologie zugrunde sowie dem vom Schweizer Psychiater Medard Boss zusammen mit Martin Heidegger erarbeiteten "Grundriss der Medizin und der Psychologie". [20] Dabei wird vor allem ersichtlich, dass wir leiblich mit anderen eine Welt, d.h. ein Netz von Bedeutungs- und Verweisungszusammenhängen , teilen, so dass vom Du eines isolierten Menschen, wie Franck irrtümlicherweise mit Bezug auf Heidegger behauptet, keine Rede sein kann. [21] Eine Fortschreibung und Aktualisierung des Ansatzes von Medard Boss, der sich ausdrücklich auf die "moderne Industrie-Gesellschaft" bezieht, und der von ihm gegründeten Schule der Daseinsanalyse wäre in Bezug auf digitale Informationsgesellschaften dringend notwendig. Dabei müsste gezeigt werden:
  • welche möglichen hypertrophen Formen des Leiblich-seins, des Sich-Einräumens und des Sich-Zeitigens des heutigen digitalen bzw. hybriden In-der-Welt-seins es gibt,
  • welche Störungen durch eben diese hybride Welt im Gestimmt-Sein des Menschen auftreten,
  • und ob und wie die digitale Weltvernetzung das Offenständigsein und die Freiheit des "Da-Seins" fördert oder beeinträchtigt.
Ich stimme dem Ansatz von Alice Holzhey-Kunz, einer kritischen Schülerin von Medaard Boss, zu, wenn sie schreibt, dass das Leibliche sowohl "vernehmend-offener Art" ist als auch eine "Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit" hat. [22] Auf diese Eigengesetzlichkeit leiblicher Prozesse zu achten, ist eine ethische Pflicht des medizinischen Berufs. Zugleich aber müssen Ärztinnen und Ärzte darauf achten, dass die lebensweltliche Einbettung solcher Prozesse nicht aus dem Blick verloren geht, zumal, wenn die Lebenswelt aufgrund ihrer jetzigen und künftigen Hybridität mit den digitalen Informationstechnologien deine direkte oder indirekte Aus- und Einwirkung auf die autonom verlaufenden Lebensprozesse hat. Das gilt genauso für den Zusammenhang zwischen den leiblichen, den psychischen und den existentiellen Ebenen eines Patienten. Wir müsssen, schreibt Holzhey-Kunz, "nicht die Krankheit, sondern den kranken Menschen ins Zentrum des therapeutischen Bemühens" stellen. [23]

Man kann noch weiter gehen und sagen: Wir müssen nicht nur den kranken Menschen, sondern die digitalen Informationsgesellschaften und deren verstopfte Informationsprozesse ins Zentrum der Medizin im 21. Jahrhundert stellen. Der Leib wird dann nicht bloß im Gegensatz zum Körper gesehen, sondern schließt sowohl autonom verlaufende organische Prozesse als auch einmalige kulturelle und historische Prägungen ein, die sich in ihrer Bedeutsamkeit nicht naturwissenschaftlich erschließen lassen.


Referenzen

[1] Martin L. H., Gutman H., Hutton P.H. (Hrsg.), Technologies of the Self. A Seminar with Michel Foucault, The University of Massachusetts Press, Amherst (1988), S. 18

[2] Capurro R. Leben im Informationszeitalter, Akademie Verlag, Berlin (1995)

[3] Capurro R., siehe Ref. 2

[4] Faulhaber M., Zehle S. (Hrsg.), Ethics of Waste in the Information Society, Int Rev Inf Ethics (2009); 11:1-2

[5] Vgl. v.Vf.: Medicina 2.0. Reflexiones sobre una patología de la sociedad de la información, in: Humanitas. Humanidades Médicas, 47, 2010, 1-15.

[6] Marckmann G., Goodman K.W., Ethics of Information Technologie Healthcare, Int. Rev Inf Ethics (2006); 5:1-5, hier S. 3: What are appropriate uses of health information systems? Who should use these systems? What benefits and risks do these technologies have for patients? How does information technology change the physician-patient relationship? How does (and will) medical decision-making change? Perhaps most fundamentally: How does (and will) information technology transform the medical construction of the human body and of disease?”

[7] Nagenborg M, El-Faddagh M., Genetische Informationen: Eigentumsansprüche und Verfügbarkeit, in: Int Rev Inf Ethics (2006; 5:40-47.

[8] EGE (European Group on Ethics in Science and New Technologies), Ethical Aspects of Nanomedicine, Opinion No. 21, EGE, Brussels (2007)

[9] Clausen J., Ethische Aspekte von Gehirn-Computer-Schnittstellen in motorischen Neuroprothesen, Int Rev Inf Ethics (2006); 5: 33-39.
Hildt E., Electrodes in the brain: Some anthropological and ethical asspects of deep brain stimulation, in: Int Rev Inf Ethics (2006); 5: 33-39.
EGE (European Group on Ethics in Science and New Technologies), Ethical Aspects of ICT Implants in the Human Body, Opinion No. 20, EGE, Brussels (2005).

[10] EGE, siehe Ref 9

[11] EGE, siehe Ref 9, S. 29

[12] EGE, siehe Ref.9

[13] Ihde, D., Bodies in Technology, The University of Minnesota Press, Minneapolis (2002). Capurro R., Einführung in die Digitale Ontologie, in: Banse G., Grunwald A. (Hrsg.) Technik und Kultur. Bedingungs- und Beeinflussungsverhältnisse, KIT Scientific Publishing, Karlsruhe, (2010), S. 217-228.

[14] EGE, siehe Ref. 9

[15] Grimm P, Capurro R. (Hrsg.), Informations- und Kommunikationsutopien, Franz Steiner Verlag, Stuttgart (2008).

[16] Schöne-Seifert B., Talbot D. (Hrsg.), Enhancement. Die ethische Debatte, Mentis Verlag, Paderborn (2009)

[17] Meckel M., Das Glück der Unerreichbarkeit. Wege aus der Kommunikationsfalle, Murmann Verlag, Hamburg (2007)

[18] Mordini E., Stacei M. (Hrsg.), Including Seniors in the Information Society. 28 World Leading Expert Talks on Privacy, Ethics, Technology and Aging. with a Foreword by Viviane Reding, CIC Edizioni Internationali, Rom (2008)

[19] Hayles N.K. How We Became Posthuman. Virtual bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, The University of Chicago Press, Chicago (1999), S. 193 ff.

[20] Boss M., Grundriss der Medizin und der Psychologie. Ansätze zu einer phänomenologischen Physiologie, Pathologie, Therapie und zu einer daseinsgemäßen Präventiv-Medizin in der modernen Industrie-Gesellschaft, Huber Verlag, Bern (1975).

[21] Franck G., Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, Hanser-Verlag, München (1998), S. 244.

[22] Holzhey-Kunz A., Leiden am Dasein. Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik psychopathologischer Phänomene, Passagen-Verlag, Wien (2001), S. 64.

[23] Holzhey-Kunz A., siehe Ref. 22, S. 65



Letzte Änderung:  5. Juli  2017



 
    

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