INFORMATION UND MORALISCHES HANDELN

IM KONTEXT DER DIGITALEN INFORMATIONS- UND KOMMUNIKATIONSTECHNOLOGIEN


Rafael Capurro

 
 


Beitrag zum
VII Encontro Internacional de Informação, Conhecimento e Ação, Universidade Estadual Paulista (UNESP), Marília (São Paulo, Brasilien), 31. Okt. - 3. Nov. 2011. Übersetzung aus dem Spanischen v.Vf.



 


Einleitung

Der Titel dieses Beitrags erweckt den Eindruck eines scheinbar selbstverständlichen Verhältnisses zwischen Information und moralischem Handeln, wenn man unter moralischem Handeln ein begründetes und deshalb verantwortbares Handeln versteht. Unbegründetes, d.h. auf Desinformationen oder auf falschen Informationen beruhendes Handeln ist verantwortungslos und somit unmoralisch. Bedeutet dies nun, dass in einer Welt in der dank der digitalen Informations- und Kommunikations- technologien (IKT) kein Mangel an Information herrscht, es im Prinzip kein verantwortungsloses Handeln mehr geben kann, es sei denn, der Handelnde weigert sich oder versäumt, sich zu informieren? Jeder und jede Handelnde, der wie im Falle des Menschen fähig ist, über die Folgen seines oder ihres Handelns nachzudenken, hat die moralische Verantwortung sich zu informieren. Die digitalen IKT ermöglichen somit die Vollendung des Traums der Aufklärung, der moralisches Handeln als begründet in der informierten Autonomie des Subjekts sich erhoffte. Daher der Kampf der Aufklärer gegen politische und religiöse Zensur und ihr Bestreben, das in Bibliotheken und Enzyklopädien externalisierte Wissen für alle Bürger jenseits ökonomischer und sozialer Unterschiede zugänglich zu machen.

Heute ermöglicht das Internet  die allgemeine Zugänglichkeit des Wissens jenseits der raum-zeitlichen Bedingungen, die dem Buch und den auf ihm fußenden Institutionen zugrunde liegen. Mehr noch, das digitale Netz erlaubt nicht nur den allgemeinen raum-zeitlich entgrenzten Zugang zum externalisierten Wissen, sondern auch die interaktive Kommunikation zwischen den Wissenden, wodurch ein Mehrwert gegenüber dem bloßen Informationsprozess gegeben ist. Moralisches Handeln gründet dann nicht nur auf der Informiertheit des autonomen Subjekts, sondern auch auf der Möglichkeit dieses Subjekts, mit anderen zu kommunizieren, die in vielen Fällen die Urheber jener Information sind. Dadurch kann es erfahren, ob die anderen sowohl seine Interpretation der Information als auch unter Umständen seine Ansicht hinsichtlich ihrer Relevanz für den jeweiligen Sachverhalt teilen. Die digitalen IKT ermöglichen somit einen kritischen Dialog, wodurch das moralische Subjekt sich nicht nur informieren, sondern auch zusammen mit anderen räsonieren kann. Immer vorausgesetzt, dass der Handelnde, als Individuum oder als Gruppe, offen ist für Kritik, d.h. bereit ist, seine Meinung zu ändern, wenn ihm die Argumente der anderen überzeugender erscheinen als die eigenen. Dieser Dialog kann sich sowohl auf die Information selbst als auch auf die Vorurteile des Handelnden beziehen, die oft nur aus einer externen Perspektive erkannt werden können. Wenn diese Argumentation stimmt, haben wir allen Anlass zu glauben, dass wir in einer Welt leben oder leben könnten, in der einige der Grundbedingungen für moralisches Handeln gegeben sind.

Aber diese schematische und vereinfachte Darstellung des Verhältnisses zwischen Information, moralischem Handeln und digitalen IKT sieht sich einer komplexeren Welt gegenüber gestellt. Und dies nicht nur in Bezug auf die digitalen IKT selbst, insbesondere was ihre Verteilung und ihren Zugang betrifft, was man gewöhnlich mit dem Ausdruck “digitale Spaltung” bezeichnet, sondern auch im Hinblick auf die Frage der Informationsselektion mittels Suchmaschinen sowie auf die schier grenzenlose Vielfalt der Informationsquellen mit unterschiedlichen Graden an Glaubwürdigkeit und Seriosität. Das Problem ist allerdings noch schwieriger. Die digitalen IKT sind wie jede Technologie nicht neutral, d.h., sie sind kein bloßes Instrument, dessen sich ein individuelles oder kollektives Subjekt bedient, um in guter oder böser Absicht in der Welt zu handeln. Stattdessen verändern sie das Wesen des Verhältnisses zwischen Welt und Mensch und somit auch das Selbstverständnis des Handelnden selbst. Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet: Worin besteht diese Veränderung im Falle der digitalen IKT besonders in Bezug auf das moralische Handeln?

Im ersten Teil dieses Beitrags werde ich am Beispiel von Axel Honneths Buch “Das Recht der Freiheit” zeigen (Honneth 2011), wie und mit welchen Konsequenzen eine aktuelle sozialphilosophische Analyse dieses Schülers von Jürgen Habermas meint, fast gänzlich von den digitalen IKT absehen zu können und dabei die durch diese Technologien bewirkte Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses im Allgemeinen und des moralischen Handelns im Besonderen  aus den Augen verliert. Im zweiten Teil skizziere ich, worin meiner Ansicht nach diese Veränderung menschlichen Handelns besteht und deute auf die Aufgabe der Informationsethik in Bezug auf das Phänomen menschlichen Handelns im Horizont digitaler Kommunikation.

 

Das Recht der Freiheit nach Axel Honneth
 

Die philosophische Anthropologie sucht eine Antwort auf die Frage “Was ist der Mensch?”, die nach Kant drei Fragen in sich zusammenfasst, nämlich “Was kann ich wissen?”, “Was soll ich tun?” und “Was darf ich hoffen?”, mit denen sich jeweils die Metaphysik, die Moral und die Religion befassen (Kant 1975, A 25, 448). Kant unterscheidet zwischen dem Menschen als Person mit Moralautonomie und den anderen weltlichen Seienden. Die Frage: “Was ist der Mensch?” bezieht sich wenngleich implizit nicht auf ein ‚was’, sondern auf ein ‚wer’. Ich bezeichne die Differenz zwischen ‚was’ und ‚wer’ als die ethische Differenz. Eine Handlung ist dann moralisch, wenn sie auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung und Wertschätzung zwischen Personen basiert, die eine gemeinsame Welt teilen. Kant unterscheidet ferner zwischen dem Menschen als natürliches (“homo phaenomenon”) und moralisches Wesen (“homo noumenon”). In diesem letzteren Sinne ist der Mensch Mitglied des “Reichs der Zwecke”, dem auch andere “noumenale” Wesen angehören (Kant 1977, A 65, 550). Für Kant hat ‚Ich’ eine doppelte Bedeutung, denn ‚Ich‘  meint zum einen das Subjekt als Teil der empirischen Welt, zum anderen aber den Menschen als ein moralisches Wesen, Mitglied der noumenalen Welt, wovon aber die theoretische Vernunft nichts wissen kann.

Kants Dualismus wurde vom Deutschen Idealismus und insbesondere von Hegel in Frage gestellt. Dieser beschreibt in der “Phänomenologie des Geistes” die Dialektik zwischen Identität und Differenz im Prozess der Genese der sozialen Welt oder der “Sittlichkeit” mit ihren Institutionen, Familie, bürgerlicher Gesellschaft, Staat. Zu Beginn findet ein “Kampf” der gegenseitigen Anerkennung zwischen dem Selbstbewusstsein des Herren und dem  des Knechtes statt (Hegel 1975). Diese Tradition, die durch Karl Marx aufgenommen und transformiert wurde, setzt sich in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule bei Denkern wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Axel Honneth fort.

In seinem frühen Werk ”Kampf um Anerkennung” stellt Honneth die Entstehung und die Grundlage des Rechtsstaates als einen Prozess dar, in dem die autonomen Subjekte sich gegenseitig als freie anerkennen. Dadurch sind sie fähig, sich universale oder universalisierbare Gesetze zu geben, denen sie sich frei unterwerfen, ohne aber das Problem der unterschiedlichen Identitäten zu lösen, das die Ursache dieses Kampfes ist (Honneth 1994). In seinem kürzlich erschienenen Buch “Das Recht der Freiheit. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte” weist er darauf hin, dass die “Sittlichkeit” auf grundlegenden Werten basiert, worunter “die Freiheit im Sinne der Autonomie des einzelnen” der wichtigste in der modernen Gesellschaft ist (Honneth 2011, 35). Die Idee der Autonomie oder der Selbstbestimmung ist der Knoten, in dem sich die Beziehung zwischen sozialer Gerechtigkeit und den Individualinteressen verknüpft. Es gibt keine soziale Gerechtigkeit ohne den universalen Respekt gegenüber der Autonomie des Subjekts. Diese bildet den Kern seiner persönlichen Identität. Honneth übernimmt den Kantischen Autonomiebegriff, stellt ihn aber im Kontext der Intersubjektivität vor dem Hintergrund des Habermasschen Denkens dar. Für Honneth können das “Ich” und das “Wir” ihre Selbstbestimmung nur dann vollziehen “wenn sie in der gesell- schaftlichen Realität institutionelle Verhältnisse vorfinden” (Honneth 2011, 70). Die Identität des Subjekts ist nicht etwas Vorgegebenes, sondern sie ist ein Produkt sozialer Informationsprozesse, innerhalb derer sich für ihn “soziale Freiheit” einschreibt. Diese Form von Freiheit geht über die liberalen und individualistischen Ideen subjektiver Selbstverwirklichung hinaus, die er “reflexive Freiheit” nennt (Honneth 2011, 72). Diese betrachtet die Autonomie, ohne auf ihre Abhängigkeit von der sozialen Realität, die sie ermöglicht, zu achten.

Für Honneth aber, Hegel folgend, ist die Autonomie des Subjekts undenkbar ohne eine offene Beziehung zu einer Pluralität von Subjekten. Die Sprache ist sowohl für Hegel als auch für Honneth das Medium, das den Individuen gestattet, sich auf der Suche nach gegenseitiger Anerkennung auszudrücken. Nur Handelnde, die fähig sind sich auszudrücken und ihre Ziele und Wünsche zu respektieren, können sich mittels Institutionen auf der Grundlage “normierter Verhaltenspraktiken” frei assoziieren, wodurch sie eine Sittlichkeit bilden (Honneth 2011, 86). Vor  diesem Hintergrund erscheint moralisches Handeln als wesentlich von einem informationellen Prozess wechselseitigen freien Verstehens und gemeinsamen Regulierens abhängig. Honneth, dabei Hegel und Marx folgend, stellt sich auf die Seite einer “starken Lesart” des Wesens der Freiheit, wonach es nicht genügt zu behaupten, dass die Freiheit ein soziales Fundament hat. Dies ist die “schwache Lesart”. Das “starke ontologische Erfordernis” impliziert die Gegenüberstellung eines autonomen Subjekts gegenüber der “Objektivität” einer Pluralität von “Mitsubjekten” mit eigenen Wünschen und Interessen (Honneth 2011, 91). Den Normen und sozialen Institutionen gehen also nach der “starken Lesart” Verhältnisse gegenseitiger Anerkennung voraus. Das Resultat ist kein absolutes und endgültiges soziales System, sondern “ein relativ stabiles, habitualisiertes System von Bestrebungen” (Honneth 2011, 92). Damit stellt Honneth die Basis bereit für das, was ich interkulturelle Informationsethik nenne, d. h. ein interkultureller Dialog über Normen, Werte, Sitten und Gebräuche, der in einer relativ stabilen Form die Kommunikationsprozesse einer Gesellschaft so wie die Beziehungen zwischen Individuen, Gesellschaften, Staaten und Kulturen im digitalen Netz regelt (Capurro 2008). Es ist nicht von ungefähr, dass in dem Augenblick, in dem eine neue Kommunikationstechnologie entsteht, lokale Werte und Sitten früher oder später in eine Krise geraten, die Anlass zu diesem globalen ethischen Diskurs gibt.

Honneth beschreibt die Formen der “sozialen Freiheit”, nämlich das “Wir” der persönlichen Beziehungen (Freundschaft, Intimbeziehungen, Familien), das “Wir” marktwirtschaftlichen Handelns (Markt, Konsumsphäre, Arbeitsmarkt) und das “Wir” der demokratischen Willensbildung (demokratische Öffentlichkeit, demokratischer Rechtsstaat, politische Kultur).  Aber auch wenn er sich der Bedeutung der ”Medientechnologie” und der politischen ”Kommunikationsräume” für die Entwicklung der ”politischen Öffentlichkeit” bewusst ist, eines Prozesses, der mit der Französischen Revolution einsetzt (Honneth 2011, 487), muss man kritisch anmerken, dass er während dieser minutiösen Analyse der sozialen Realität einschließlich ihrer institutionellen und normativen Bedingungen kaum auf jene Veränderungen eingeht, die durch die digitalen Kommunikations- technologien hervorgebracht worden sind. Daraus kann man schließen, dass für ihn diese Technologien keine fundamentale Veränderung menschlichen Selbstverständnisses bewirken, insbesondere in Bezug auf die “soziale Freiheit” und die “demokratische Öffentlichkeit”, oder zumindest nicht in dem Maße, wie dies im Falle des Buchdrucks und der Massenmedien des 20. Jahrhunderts speziell es Rundfunks und Fernsehens geschehen ist. Das kann man deutlich nicht nur auf jenen wenigen Seiten erkennen, die der Autor am Schluss seines über sechshundert Seiten umfassenden Buches dem Internet widmet, sondern auch in der fast vollständig fehlenden Problematisierung der Rolle des Internet bei den persönlichen Beziehungen (Freundschaft, Intimbeziehungen, Familien) sowie beim “Wir” des marktwirtschaftlichen Handelns und bis zu einem gewissen Grad sogar beim “Wir” des demokratischen Willensbildungsprozesses.

Erst gegen Ende des Buches geht Honneth auf das Internet als ein Instrument für die Konstruktion “transnationaler Kommunikationsgemeinschaften” (Honneth 2011, 565) ein, weit entfernt davon es als eine neue Form “sozialer Freiheit” in all ihren Dimensionen und mit all den Ambiguitäten, die menschlichen Handeln eigen sind, zu begreifen. Er schreibt, dass das Internet “das einzelne Individuum in seiner physisch isolierten Existenz vor dem Computer in die Lage [versetzt], instantan mit einer großen Gruppe von Personen auf der ganzen Welt zu kommunizieren, deren Anzahl im Grunde nur durch die eigene Verarbeitungskapazität und Aufmerksamkeitsspanne begrenzt ist” (Honneth 2011, 560-561). Das ist eine sehr eingeschränkte Sicht der digitalen Kommunikation, so wie sie heute in den meisten Gesellschaften gelebt wird. Was es gerade nicht (mehr und allein) gibt, sind isolierte Individuen, die vor einem Computer sitzen und mit einer großen Anzahl von Personen kommunizieren. Honneth denkt in Kategorien der Massenmedien, d. h. im Bild eines Senders, der mit einer großen Gruppe von Personen kommuniziert.  Erstaunlicherweise weist er darauf hin, dass  sowohl bei Hannah Arendt als auch bei Jürgen Habermas eine fast vollständige Abwesenheit von Reflexion über die Kommunikationsmedien zu verzeichnen ist. Wenn sie darüber sprechen, dann meistens abwertend. Für beide gilt, dass der “Strukturwandel der Öffentlichkeit”, der die Kommunikationsmedien mit sich bringt, ein Prozess der “Reprivatisierung der politischen Öffentlichkeit” bedeutet (Honneth 2011, 523).

Arendt und Habermas sind Kinder des Buches, während Honneths Sozialisierung sich anhand der Massenmedien vollzog. Honneth weist wie schon Habermas darauf hin, dass die Massenmedien “eine(r) wachsende(n) Abhängigkeit von privaten Produktionsformen und der Werbeindustrie” mit sich bringen (Honneth 2011, 542). Es ist paradox, dass Honneth im selben  Augenblick, in dem er betont, dass das Empfangen von Information mittels der Massenmedien notwendig aber nicht ausreichend für den Prozess der politischen Meinungsbildung ist und dieser durch eine aktive Bürgerbeteiligung ergänzt werden muss, er zugleich eine eingeschränkte und negative Sicht des Internet als politisches Instrument vorlegt. Für ihn gibt es  eine große Anzahl von digitalen öffentlichen Räumen verschiedener Art mit nicht genau definierten Formen der Mitgliedschaft, meistens auf Englisch, ohne Kontrollfunktionen und mit anonymen Mitgliedern. Wörtlich schreibt er, dass das Internet “Platz für allerlei apokryphe und antidemokratische Einzelmeinungen und Sammelbewegungen” bietet (Honneth 2011, 562). Der mediatische Absentismus und Skeptizismus, den er Arendt und Habermas vorwirft, kommt in seinem eigenen Denken in Bezug auf die digitalen IKT erneut hervor.

Es fällt sehr schwer zu glauben, dass für Honneth das Internet als etwas aufgefasst werden könnte, das einen Strukturwandel der demokratischen Öffentlichkeit hervorbringen würde, von einer neuen Selbstdeutung moralischen Handelns sowohl der Individuen als auch der Institutionen ganz zu schweigen. Das Internet hat aber immerhin für ihn mit transnationalen politischen Prozessen sowie mit der Möglichkeit der Schaffung einer “Gegenöffentlichkeit” gegenüber nicht-demokratischen Regierungen zu tun (Honneth 2011, 564). Im Falle demokratischer Rechtsstaaten meint er, dass das Internet “zentrifugale Spannungen” in Foren und interaktiven Netzwerken verursacht, jenseits der demokratischen Willensbildung des Nationalstaates. Da diese Netzwerke nicht durch Raum und Zeit beschränkt sind, könnte “die digital ermöglichte Ausweitung und Entgrentzung des politischen Kommunikationsraumes die paradoxale Folge haben [könnte], jene politische Kultur in den gewachsenen Demokratien zu zerstören oder zumindest zu schwächen, die die bislang moralische Anstrengungen einer Einbeziehung aller Bürger in den Raum der kollektiven Selbstgesetzgebung motiviert hat” (Honneth 2011, 565-566). Mehr noch, das Internet könnte zu einer Konfrontation zwischen der “transnationalen Öffentlichkeit” und den “nationalstaatlichen Willensbildungsprozessen” führen (Honneth 2011, 566). Honneth  befürchtet, dass die “kosmopolitisch orientierten Eliten” die nationalen Randgruppen noch mehr marginalisieren könnten, da jene mehr “soziale Freiheit” haben würden, während diese weniger Zugang zu Informationen und relevanten Themen hätten (Honneth 2011, 566).

Diese Gegenüberstellung  ist alles andere als überzeugend. Nicht nur weil das Internet gerade für marginalisierte Gruppen einen Zugang zu Informationen ermöglicht, sondern auch, weil diese eigene Netzwerke bilden können. Transnationale Kommunikation impliziert keineswegs, dass nationaldemokratische Diskussionen sich abschwächen. Ganz im Gegenteil, wie die Synergien politischer Bewegungen nicht zuletzt auf der Basis von IKT in den arabischen Ländern zeigen. Darauf verweist  auch Honneth selbst (Honneth 2011, 265), jedoch denkt in Kategorien der Massenmedien, die eine homogene und kontrollierte öffentliche Meinung mittels Fernsehen und Rundfunk herstellen. Dem entspricht ein demokratisches Handeln im Sinne eines beschränkten und kontrollierten Prozesses der Bildung und Informierung der öffentlichen Meinung. Es ist schwer, dieser einseitigen und negativen Sichtweise des Internet zuzustimmen, vor allem wenn man an die Debatten rund um das Thema der partizipativen Demokratie oder an die Bedeutung des Netzes für die öffentliche Verwaltung denkt, von der Relevanz des Internet für die öffentliche Diskussion oder für das öffentliche “Räsonnieren” sowie für das öffentliche Handeln auf lokaler und nationaler Ebene ganz zu schweigen. Man denke nur an die Veränderungen des klassischen Telefons in ein multifunktionales Kommunikationsinstrument mit vielfältigen sozialen und politischen Anwendungen, etwas, was der Vorstellung Honneths “eines einzelnen Individuums in seiner physisch isolierten Existenz vor dem Computer” (Honneth 2011, 260) widerspricht. Nationale Debatten lassen sich nicht von transnationalen trennen. Gruppen, die sich um das label Freundschaft oder um blogs herum bilden, haben einen unerwarteten politischen Einfluss. Honneth glaubt, wie schon Habermas, an eine ideale politische Gemeinschaft bestehend aus rein rationalen autonomen Individuen, die Argumente ohne Machtdruck und möglichst auch ohne mediale Vermittlungen austauschen, um zu einem Konsens über Ziele und Werte zu gelangen, die ein gemeinsames Handeln im Rahmen des Nationalstaates bilden.


Information und moralisches Handeln im digitalen Zeitalter


Diese Auffassung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Gesellschaft gründet in einer eingeschränkten Wahrnehmung der Möglichkeiten, die das Internet heute und in Zukunft für die politischen Prozesse und für das soziale Leben insgesamt bietet. Honneth fasst Kommunikation als ein wesentlich einheitliches und vereinheitlichendes Phänomen anstatt eines Zusammenwirkens verschiedener Art von Individuen und Gemeinschaften, vermittelt durch interaktive IKT mit unterschiedlichen zentrifugalen und zentripetalen Kräften. Er fragt nach dem Recht der Freiheit. Er sieht zwar ein solches Recht als “ein relativ stabiles, habitualisiertes System von Bestrebungen” (Honneth 2011, 92), d. h. als eine Moral oder ein ethos, woraus die Institutionen und Regeln entspringen, die ein Rechtsstaat ermöglichen. Aber was er anscheinend nicht sieht, ist, dass sich die Idee der demokratischen Sittlichkeit und mit ihr die Wirklichkeit der Freiheit überhaupt heute im Horizont der digitalen interaktiven Vernetzung abspielt und zwar sowohl im Falle politischer Prozesse im engeren Sinne als auch bei anderen Formen sozialen Lebens, wie bei persönlichen (Freundschaft, Intimbeziehungen, Familien) und ökonomischen Beziehungen (Markt, Konsum, Arbeit). Wenn die Kommunikation den Kern von Demokratie ausmacht, dann bringt ein Strukturwandel, wie wir ihn heute im Falle der digitalen interaktiven Medien erleben, eine Veränderung der sozialen Beziehungen sowie des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt mit sich. Letzteres bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine neue Form des In-der-Welt-seins und insbesondere des moralischen Handelns im Sinne sozialer Verantwortung als die Basis, worauf die Institutionen des gesellschaftlichen Lebens beruhen. Das Paradigma der Massenmedien als Fundament sozialer Freiheit hat sich nicht nur mit dem Aufkommen des Internet abgeschwächt, sondern es wurde dadurch in Frage gestellt und, wenn nicht ersetzt, zumindest versetzt, gerade weil es nicht interaktiv und in diesem Sinne undemokratisch war. Die Demokratie mutierte in eine Massenmediokratie. Die heutigen Bestrebungen der Massenmedien, sich als interaktiv auszugeben, beweisen, dass wir mitten in einer strukturellen Umwälzung sozialer Kommunikation leben.

Es ist paradox, dass ausgerechnet das Paradigma der Massenmedien als Fundament demokratischer Prozesse aufgefasst werden konnte, während das digital-interaktive Netz, antidemokratische Auswirkungen verursachen soll. Wir können mit einer gewissen Ironie behaupten, dass die Massenmedien katholisch sind, während das Internet eine lutherisch-mediatische Reformation bewirkte, die den Handelnden erlaubt, die Welt, in der sie leben, von sich aus zu interpretieren, ohne sich einem zentralisierten Genehmigungsprozess zu unterwerfen, auf der Basis von “nihil obstat”, “imprimi potest” und “imprimatur”. Diese mediatische Reformation zeigt, aus der Rückschau betrachtet, dass in Gesellschaften, die durch zentralisierte Systeme von Botschaftsvermittlungen hindurchgegangen sind, sich ein starkes soziales Bedürfnis nach einer Befreiung von einer solchen informationellen paternalistischen Deutungshoheit angestaut hat. In seinem essay “Die Mission des Bibliothekars” wies Ortega y Gasset im Jahre 1935 darauf hin, dass die Berufe auf der Basis sozialer Bedürfnisse entstehen, und letztere historischer Natur sind (Ortega 1962). Die Renaissance ist jene Epoche, in der, so Ortega, ein neues soziales Bedürfnis nach dem Buch entsteht. Dieses Bedürfnis gipfelt in der Französischen Revolution. Ortega schreibt: “Die demokratische Gesellschaft ist eine Tochter des Buches, sie ist der Triumph des vom Menschen geschriebenen Buches gegenüber dem von Gott offenbarten sowie dem von der Autokratie diktierten Gesetzbuch.” (Ortega 1976, 33, meine Übersetzung, RC; siehe auch Capurro 2000). Mutatis mutandis lässt sich auch behaupten, dass die entstehende digital-interaktive Demokratie eine Tochter des Internet ist. Sie ist der Triumph der digitalen Kommunikation über die hierarchisch eins-zu-vielen verteilten Botschaften der Massenmedien.

Wir können die Genese der heutigen medialen Reformation mit einem Blick auf Kant nachvollziehen. Für Kant gründete die Autonomie des Subjekts als Kritikquelle des Wissens auf der einen Seite in der Möglichkeit selbst zu denken, jenseits der Grenzen dessen, was ein “bürgerlicher Posten, oder Amte” ihm erlaubte (Kant 1975a, A485, 55). Den “Gebrauch der Vernunft” in den Grenzen eines solchen “öffentlichen” Amtes nennt Kant in seiner Schrift “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” erstaunlicherweise “Privatgebrauch” der Vernunft, weil wir durch das Amt eingeschränkt sind, d. h. der Gebrauch ist privativ. Demgegenüber spricht Kant von einem “öffentlichen Gebrauch”, wenn wir ohne solche Grenzen zu denken wagen, also ohne durch einen “fremden Austrag” eingeschränkt zu sein (Kant 1975a, A488, 57). In diesem Fall handeln wir autonom und öffnen uns “dem ganzen Publikum der Leserwelt” (Kant 1975a, A485, 55), mithin dem Universum möglicher Leser und Kritiker unseres Wissens. Das autonome Subjekt ist für Kant dasjenige, das die Ideen anderer durch sich durchgehen lässt, sie also ungefiltert durch die Grenzen eines “Postens” empfängt, die zugleich seine Freiheit, sich mitzuteilen, einschränken oder “privatisieren”. Seine Autonomie ist paradoxerweise untrennbar von dieser universalen Heteronomie. Damit aber dieser freie universale Austausch unter autonom Denkenden stattfinden kann, reicht es nicht aus zu sagen, dass die Ideen frei sind und das jeder denken kann, was er oder sie will. Dieser Idealismus im doppelten Sinne des Wortes begreift den Zusammenhang zwischen Denken und Kommunikationsmedien nicht.

In seiner Schrift “Was heißt: sich im Denken orientieren?” schreibt Kant: “Zwar sagt man: die Freiheit zu sprechen, oder zu schreiben, könne uns zwar durch obere Gewalt, aber die Freiheit zu denken durch sie gar nicht genommen werden. Allein, wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten! Also kann man wohl sagen, daß diejenige äußere Gewalt, welche die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzuteilen, den Menschen entreißt, ihnen auch die Freiheit zu denken nehme: das einzige Kleinod, das uns bei allen bürgerlichen Lasten noch übrig bleibt, und wodurch allein wider alle Übel dieses Zustandes noch Rat geschafft werden kann.” (Kant 1975b, A 325, 280; vgl. Capurro 2000a). In unsere Zeit übersetzt bedeutet dies, dass eine Regierung oder öffentliche Gewalt, die uns den Zugang und die freie Nutzung des Internet einschränkt oder gar verbietet, uns auch der Freiheit uns zu informieren und gar zu denken entledigt und damit auch einer Grundbedingung moralischen Handelns. Diese Freiheit besteht darin, dass sie sich nicht durch die Grenzen eines öffentlichen Amtes einschränken oder zwingen lässt. Diese Freiheit öffnet sich, von sich aus oder “privat” im heutigen Sinne dieses Wortes einem öffentlichen Dialog. Die Dialogteilnehmer wähnen sich dadurch als frei und das heißt fehlbar, weil sie sich der grundsätzlichen Bedingtheit der menschlichen Vernunft bewusst sind und nicht durch jene Form von Zensur eingeschränkt sind, die sie darin hindert, Verantwortung in ihrem Denken und Handeln zu übernehmen, wodurch sie erst sie selbst sein können.

Von diesem Selbstsein im Unterschied zum ‚Wassein’ war schon zu Beginn dieses Beitrags die Rede. Es ist das Selbstsein und nicht nur das Wassein, das sich heute auf allen Ebenen sozialen Lebens aufgrund der Digitalisierung einer strukturellen Veränderung unterworfen sieht.

Das Wechselspiel zwischen anscheinend autonomen Subjekten ist der Kernpunkt des Kampfes um Anerkennung, so wie er von Hegel beschrieben und von Honneth aufgenommen wurde. Es ist ein “Kampf um Leben und Tod”, weil die Selbstbewusstseine nach einer gegenseitigen Anerkennung jenseits jeder Bedingtheit streben (Hegel 1975, 149). Hier zeigt sich Hegels Idealismus, sofern er von der Welt trennbare Selbstbewusstseine anvisiert und die Welt als bloße Bühne für den Durchgang und die Rückkehr zu sich selbst des absoluten Geistes fasst. Das Selbstbewusstsein ist so gesehen Hegels Sinn von Sein, von Heidegger aus gedacht. Das ist der Grund, warum die Verhältnisse zwischen den Selbstbewusstseinen als ein “Kampf” konzipiert werden, jenseits nicht nur des biologischen Lebens, sondern auch der Welt selbst. Diesen Kampf fasst Hegel konsequent als eine Erfahrung nicht nur mit dem anderen Selbstbewusstsein, sondern mit der “Furcht des Todes, des absoluten Herren” (Hegel 1975, 153).

Ohne jetzt auf eine vertiefende Kritik der Hegelschen Ontologie eingehen zu können, möchte ich darauf hinweisen, dass die Auffassung über das Verhältnis zwischen Selbstbewusstseinen als Kampf um Leben und Tod einen starken Sinn nur im Rahmen einer solchen Ontologie hat, die in Wahrheit eine ‚Meta-physik’ ist, sofern sie im Begriff des absoluten Geistes eine Dimension jenseits des Todes voraussetzt und auf sie zielt. Wenn Honneth von der Autonomie und dem Kampf um Anerkennung ausgeht, erbt er diese Metaphysik, ohne sie in Frage zu stellen. So vergisst er nicht nur die IKT in seiner Analyse der heutigen sozialen Wirklichkeit, sondern auch die Heideggersche Frage nach dem Sinn von Sein. Die Selbstbewusstseine existieren nicht außerhalb einer gemeinsamen Welt. Jenes Selbstbewusstsein, das sich autonom und implizit getragen durch den absoluten Geist begreift, tut dies aus der Sicht einer ontologischen Heteronomie, in der es sich um das Selbst handelt, das in der Welt ist. Die gegenseitige Anerkennung dieses Selbstseins ereignet sich in einem Spiel endlicher und somit heteronomer Freiheiten, die sich nicht den absoluten Geist, sondern deren gemeinsamen In-der-Welt-sein öffnen. Das ist der Grund, warum der Sinn von Sein und insbesondere der Sinn des eigenen Selbstseins wandelbar ist, da es nicht von einem angeblichen autonomen Subjekt abhängt, sondern geschichtlicher Natur ist. Ich nenne ‚Angeletik’ jene phänomenologische Auffassung des Menschseins, die den Menschen als Bote oder als Durchgang einer mit anderen geteilten Welt begreift (Capurro und Holgate 2011). Das Sein ist dann nicht das Sein der Metaphysik, ein Gottesersatz, sondern der Horizont möglichen Verstehens und Handelns, dem wir mit anderen ausgesetzt sind. Unser In-der-Welt-sein ist ein vorläufiges Sein im Sinne des Unterschiedes, den die spanische Sprache zwischen dem beständigen “ser” und dem vorläufigen “estar” macht (Capurro 2011). Es ist ein vorläufiges Spiel gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung – mit allen Abstufungen zwischen positiven und negativen Formen derselben – worauf wir uns einlassen nicht aufgrund eines Kampfes, sondern, um es heideggerianisch auszudrücken, eines “Satzes” oder Sprungs, der uns erlaubt, unseren Grund zu verlassen und uns dem anderen zu öffnen, so dass unser Selbstsein sich erst dann aus der Differenz zum anderen im gemeinsamen vorläufigen “estar” ereignet und in diesem zu gemeinsam anerkannten Normen und Werten kommt.

Was uns nicht nur zu denken, sondern auch zu handeln heute “heißt” oder ruft (Heidegger 1971), ist der Horizont der Digitalisierbarkeit, sofern dieser nicht primär technisch, sondern ontologisch verstanden wird. Wir glauben, so die These dieser “digitalen Ontologie” (Capurro 2009, Eldred 2008), dass wir die Dinge und uns selbst verstehen, wenn wir sie und uns selbst im Horizont ihrer Digitalisierbarkeit auffassen. Das bedeutet nicht, dass erstens die Dinge oder sogar wir selbst, digitaler Natur wäre, oder dass die Atome bits wären, oder zweitens dass dieser Horizont der Verstehbarkeit der Dinge und uns selbst der einzige wahre und endgültige wäre, geschweige denn also drittens, dass unser Selbstsein sich darin erschöpfen würde. Im ersten Fall hätten wir mit einer Art digitalem Pythagoreismus zu tun. Im zweiten und dritten Fall haben wir mit einer heute weit verbreiteten Ideologie zu tun (Capurro 2010). Der “Sprung” von der Metaphysik oder Ideologie in die Offenheit der Seinsfrage ist ein ethischer Sprung. Die Frage ‚wer sind wir?’ – oder, grundsätzlicher ‚was heißt überhaupt, wer zu sein?’ – kennzeichnet uns als Durchgänger oder Boten eines ‚ontologischen’ Anrufs, der in Wahrheit ein ethischer ist, da er unser gemeinsamer Aufenthalt in der Welt betrifft. Beim Hören auf diesen Anruf spielen sich die eigenen und gemeinsamen Lebensmöglichkeiten ab, die heute durch die digitalen IKT besonders geprägt sind.

Wer sind wir? Diese Frage spielt sich ab in den Handlungsmöglichkeiten, die unser individuelles und soziales Leben mit den Institutionen, Gesetzen und Interaktionsformen, die von ihnen ausgehen, auszeichnen. Das erlaubt uns, sowohl individuell als auch sozial, und immer stärker im globalen Ausmaß, ein Wer zu sein, einzigartig aber keinesfalls fixiert oder absolut. Es ist auch nicht so, dass die individuelle Freiheit als von der “sozialen Freiheit” getrennt aufgefasst werden könnte, sondern individuelle Freiheit als Spiel von Handlungsmöglichkeiten ereignet sich immer im Spiel mit anderen Spielern in einer gemeinsamen Welt. Nur so ist es möglich, gemeinsame Gesetze, Normen und Werte sowie zugleich die singulären Optionen in bestimmten geschichtlichen Situationen, die uns selbst und die menschliche kulturelle Vielfalt auszeichnen, zu bejahen. Die Gestaltung menschlichen Selbstseins ist ein gemeinsames Spiel oder ein “interplay”, wie der australische Philosoph Michael Eldred es nennt (Eldred 2008), und nicht primär ein Kampf, der aber auch als eine gewalttätige Form “um Leben und Tod” des Freiheitsspiels aufgefasst werden kann.

Das Recht der Freiheit auf der Grundlage von Prinzipien, Werte und Institutionen ereignet sich aus dieser Dimension des Spiels, das der immer prekären Freiheit des menschlichen Spielers eigen ist in seiner Eigenschaft, den Ruf des Anderen zu antworten. Diese heteronome Auffassung menschlicher Freiheit als Antwort und Verantwortung gegenüber dem Anderen steht im Mittelpunkt des Denkens Emmanuel Lévinas (Capurro 1991). Das Spiel gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung ist die originäre moralische Handlung, wobei dieses Spiel, wie Eugen Fink betont, ein “Weltsymbol” ist (Fink 2010). In ihm spiegeln sich die “Grundlosigkeit”, “Sinnlosigkeit” und “Zwecklosigkeit”, die der Leichtigkeit des Spiels eigen sind, wider (Fink 2010, 221). “Der Mensch ein Spieler”, schreibt Fink (Fink 2010, 221), also jemand, der eine Botschaft vermittelt in einem Spiel, das immer durch Regeln, Gesetze, Werte und Institutionen bestimmt ist, so wie sie Honneth auch beschreibt, aber verstanden jetzt nicht vor dem Hintergrund der Kantischen Metaphysik der Autonomie oder des Hegelschen Kampfes um Anerkennung, sondern vor dem digitalen Seinshorizont.


Ausblick

Wer sind wir heute? Das gesellschaftliche Wechselspiel des gegenseitigen Schätzens und Einschätzens umfasst viele Möglichkeiten zwischen Authentizität und Entfremdung, die sich heute im digitalen Horizont, d. h. in der Cyberwelt und ihren Schnittstellen mit der physischen Welt, eröffnen und sich von jenen unterscheiden, die zum Beispiel der Buchdruck, die sogenannte “Gutenberg-Galaxis” (McLuhan) oder auch die Massenmedien des vergangenen Jahrhunderts boten. Die IKT verwandeln das moderne autonom geglaubte Subjekt in einem global player, der meint, frei von Regeln zu sein außer  denjenigen, die ihm seine Partikularinteressen vorschreiben. Wir sind erst in den Anfängen einer ethischen und rechtlichen Debatte um ein ethos sowie ein globales Kommunikationsrecht, das unterschiedliche Verknüpfungen von Information, moralischem Handeln und IKT umfasst und einen neuen Rahmen für das Wechselspiel von verantwortenden Freiheiten bietet. Es ist nicht von ungefähr, dass in dem Augenblick, in dem solche Technologien die Transparenz einer Öffentlichkeit ermöglichen, wovon die Philosophen der Aufklärung träumten, diese jetzt wirklich gewordene Utopie zugleich eine virulente Debatte um Privatheit hervorruft, ein Begriff, der bei Honneth, im Gegensatz zu Habermas und Arendt, nicht vorkommt, obwohl der Autonomiegedanke ihn einschließt.

Die Frage nach Identität und Autonomie spielt sich heute in den sozialen Netzwerken sowie in den blogs und deren Anwendungen in ökonomischen und politischen Kontexten ab. Die Differenz zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ist basal für jede menschliche Gesellschaft. Sie ist weder stabil noch endgültig. Sie lässt sich nicht abstrakt festlegen und ist keine Eigenschaft von etwas oder jemanden. Es ist eine Differenz zweiter Ordnung. Was als privat oder öffentlich gilt, hängt vom Kontext oder vom sozio-kulturellen Spiel ab, in dem sich jemand oder etwas zeigt oder verbirgt. Mein Name und meine Adresse können in einem bestimmten Kontext öffentlich, in einem anderen aber privat sein. Helen Nissenbaum hat neulich auf jene Konflikte hingewiesen, die sich aus der Offenbarung vom Privaten in der Öffentlichkeit ergeben. Sie schließt daraus auf die Notwendigkeit, diese Differenz auf der Grundlage dessen zu denken, was sie “contextual integrity” nennt (Nissenbaum 2010). Diese schließt immer kulturelle Traditionen ein. Das erschwert die Aufgabe, allgemeine Prinzipien und Datenschutzgesetze zu entwickeln, und macht es unabhängig von Kontexten und sozialen Spielräumen unmöglich, eine a priori Bestimmung dessen festzulegen, was als privat oder öffentlich zu gelten hat. Der Versuch einer solchen Bestimmung sieht ab von den jeweiligen Möglichkeiten individueller Freiheit bezüglich dessen, was man von sich selbst preisgeben will oder nicht. Dieses freie und wechselseitige Spiel der Freiheiten mit ihren digitalen Identitäten, zum Beispiel bei sozialen Netzwerken wie Facebook, zeigt deutlich, dass die Differenz öffentlich/privat im Sinne einer freien Selbstentscheidung zugleich von den Möglichkeiten abhängt, die eine solche Plattform bietet (oder nicht), um sie persönlich zu bestimmen. Diese Differenz bedeutet etwas anderes für den Inhaber dieser Plattform, der  eigene Ziele hat, als dass die Mitglieder Freundschaft miteinander schließen und somit gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung gewinnen auf der Basis einer so einfachen und zugleich problematischen Vorrichtung wie den Like Button. Was diese Plattform oder besser gesagt ihre Eigentümer wollen, ist einfach Geld verdienen, was immer auch eine Form von Anerkennung und Wertschätzung ist.

Keine menschliche Gesellschaft kann sich auf einer totalen Öffentlichkeit oder auf reiner Undurchsichtigkeit und Geheimnis gründen (Capurro und Capurro 2011; Capurro et al. 2013). Der Grund für diese doppelte Verneinung ist kein anderer als die Tatsache, dass die menschliche Welt in einem Wechselspiel von kontingenten Freiheiten besteht, was immer ein Risiko beim ethischen Spiel gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung einschließt. Die geltende Moral nicht weniger als die geltenden Gesetze bieten dem Einzelnen und der Gesellschaft einen mehr oder weniger stabilen Rahmen von Spielregeln. Das Internet hat noch keine Verfassung sui generis, die so etwas wie ein digitales ethos wäre, dem sich Einzelne und Gesellschaften frei anschließen würden. Eine der künftigen Aufgaben der Informationsethik besteht darin, das Verhältnis zwischen Information und moralischem Handeln im hier erörterten sozial-politischen Sinne im Kontext der IKT zu problematisieren mit dem Ziel, ein solches ethos zu erarbeiten und zu verwirklichen. Erste Schritte in diese Richtung wurden im Rahmen des Weltinformationsgipfels 2003-2005 unternommen.


Danksagung

Ich danke Michael Eldred (Köln) und Francesca Vidal (Landau) für Korrekturen und Anmerkungen.

 

Bibliografie


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Capurro, Rafael (2010). Einführung in die digitale Ontologie. In: Gerhard Banse und Armin Grunwald (Hrsg.): Technik und Kultur. Bedingungs- und Beeinflussungsverhältnisse. Karlsruhe: Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Scientific Publishing, S. 217-228..

Capurro, Rafael (2008). Intercultural Information Ethics. In Kenneth E. Himma und Herman T. Tavani (Hrsg.): The Handbook of Information and Computer Ethics. New Jersey: Wiley, S. 639-665.

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Letztes update: 18. August  2017

 
 
     

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