Vorwort
Dialoge
haben eine gute philosophische Tradition. Sie erlauben es, Fragen
aufzureißen
und Antwortmöglichkeiten zu testen. Oft sind sie auch amüsant
zu lesen. Wir haben uns einen solchen Dialog geleistet und ihn
gegenstandsgemäß
in dem Medium geführt, mit dem wir uns in diesem Buch
beschäftigen:
Im Internet, via Email. Dabei haben wir uns auf Grundsatzfragen
konzentriert,
die noch sozusagen ”vor” der Internetethik kommen, vor allem mit der
Frage,
wie eigentlich Ethik möglich sein soll. Seinen Grund findet das
darin,
dass die Bemühung um eine Netzethik sofort und ständig in
diese
Problematik führt. Sie drängt die akademische Leidenschaft
für
Grundlagenreflexion dem Alltag auf. Ein guter Grund also, mit ihr zu
beginnen.
Da wir zudem divergente Positionen einnehmen, versprachen wir uns von
unserem
Dialog nicht nur wechselseitige Anregung, sondern auch einen für
Dritte
spannenden Text. Ob das Zweitgenannte gelungen ist, wollen wir freilich
nicht beurteilen. Das mögen die Leserinnen und Leser tun.
I.
In kontingenten Netzen
Th.H.
Wenn Sie gestatten, fangen wir mit dem Versuch an, uns in unserer
eigenen
Zeitsituation zu orientieren. Die Frage nach einer Internetethik bringt
uns unvermeidbar in einen globalen Raum – auch wenn es sich dabei um
eine
segmentierte und teilweise hegemoniale Raumstruktur handelt.
Grunderfahrung
aller Reisenden ist seit jeher die Relativität des eigenen
Herkommens.
Was immer ehernes Fundament der Welt und objektive Gestalt der
Wirklichkeit
zu sein schien, erweist sich plötzlich als spezifisch und
kontingent.
Das Netz vermehrt diese Erfahrung über den Tourismus hinaus. In
ihm
werden daher auch die ethischen Fundamente brüchig. Falls man
solche
wieder gewinnen will, könnte es hilfreich sein, sich zuerst mit
dieser
Kontingenzerfahrung zu beschäftigen.
Nun
lässt jedoch nicht voraussetzungslos und dekontextualisiert
beginnen.
Wir können uns, so denke ich, dieser Erfahrung daher nur von einem
spezifischen kulturellen und geistesgeschichtlichen Standort aus
widmen.
Das impliziert nicht, sich zu diesem nicht nochmals ins Verhältnis
setzen und ihn in der Reflexion und im Dialog mit anderen Kontexten
überschreiten
zu können. Es bedeutet aber, dass die ”Gottesposition” des totalen
Überblicks und damit die Möglichkeit einer endgültigen,
vollständigen theoretischen Erfassung der Wirklichkeit wohl
versagt
bleibt.
In
dem philosophischen Kontext, den wir als in Deutschland tätige
Akademiker
teilen, gibt es eine Parallele zu der genannten Kontingenzerfahrung:
Zum
ersten Mal brüchig wird die sichere Erkenntnis der Struktur der
Wirklichkeit
schlechthin mit der nominalistischen Verunsicherung nach der
Hochscholastik.
Das von Hans Blumenberg (1988) so genannte ”erkenntnistheoretische
Dreieck”,
in dem Gott als Vernunftwesen die Gleichartigkeit der substanziellen
Vernünftigkeit
von Welt und Mensch garantierte, zerbricht. Damit tritt zum ersten Mal
vor Augen, dass alle endgültigen Begriffe, die so etwas wie die
Grammatik
des Wirklichen zu erfassen versuchen, recht freitragende menschliche
Konstruktionen
sind.
Wir
wissen, wie die Reaktion darauf aussah: Es war die Kehre in die
Subjektivität.
Nun sollte dort substanzielle Erkenntnis verankert werden können.
Heute sehen wir uns jedoch auch mit der Entsubstantialisierung des
Subjekts
konfrontiert. In erster Linie trifft das den Vernunftbegriff. Der
deutsche
Idealismus nach Immanuel Kant konnte sich in der Vernunft noch
reichhaltig
bedienen und fand darin die Einheit seiner Wirklichkeitserfassungen.
Nach
Karl Marx, Martin Heidegger, dem Positivismus, dem linguistic turn
und dem Strukturalismus/Poststrukturalismus sieht das anders aus.
Für
Marx sind substanzielle geistige Durchdringungen der Wirklichkeit
Epiphänomene
(und Verschleierungen) von Kämpfen antagonistischer
Machtinteressen
(ich vereinfache und verzichte hier auf die Diskussion der Frage der
Selbstanwendung
dieser erkenntnistheoretischen Implikationen der marxschen Theorie).
Heidegger
spricht vom Ende der (gleichwohl unverwundenen) Metaphysik.
Wenn
ich es
recht sehe, geht es ihm damit darum, dass keine allgemein
endgültigen
substanziellen Rekonstruktionen der Struktur der Wirklichkeit – also
Ontologie
im klassischen Sinn – und keine darauf aufbauenden umfassenden
Sinnstiftungen
– also Metaphysik im Sinn der Theologik – mehr möglich scheinen.
Es
gibt keine transzendierenden Endbegriffe, lediglich Behauptungen
solcher,
die dann allesamt der Kontingenz anheimfallen. Der Positivismus wie
auch
der linguistic turn wendet sich daher dieser Kontingenz
rekonstruktiv
zu und bescheidet sich mit ihr. Für den Poststrukturalismus aber
zerbricht
auch die letztlich noch recht starke Vernunftvorstellung der
Positivisten.
Nun ist von der Dezentrierung der Vernunft in einzelnen
Rationalitäten
die Rede. Nichts hält diese zusammen oder vermag sie zu
vermitteln.
Damit aber fehlt die Möglichkeit eines Gesamtentwurfes der
Struktur
der Wirklichkeit und übergreifender Sinnhaftigkeit dieser
Struktur.
Das ”nachmetaphysische Zeitalter” ist das Zeitalter der Kontingenz.
Nun
könnte man freilich sagen, das sei Philosophenspiel, ohne jede
Relevanz
für ”die Leute” und ihr Leben. Ich sehe das aber anders. Die
Dezentrierung
der Vernunft hat eine recht greifbare Parallele in der Differenzierung
gesellschaftlicher Handlungssysteme, deren Rationalitäten nicht
mehr
miteinander vermittelbar sind. Daher wird es sehr schwierig, die
einzelnen
Systemprozesse zu einem gedeihlichen Gesamtprozess
zusammenzuführen.
Eine weitere greifbare Parallele findet sich in dem, was soziologisch
immer
wieder als Individualisierung und Pluralisierung beschrieben wird: Die
Lebensentwürfe der Menschen werden immer stärker ”subjektiv”,
weniger miteinander vermittelbar, und eine Basis für
wechselseitige
Verständigung und begründeten Ausweis des je eigenen Entwurfs
scheint zu vermissen zu sein (wir erinnern uns an die Debatte über
einen gesellschaftlichen ”Grundkonsens”). Die kommunitaristischen
Bemühungen
in den USA und die Bürgergesellschaftskonzepte in Deutschland, die
sich beide zu ”Bewegungen” entwickelt haben, zeigen, dass die Menschen
Unbehagen an dieser Situation empfinden. Ob die beiden ”Bewegungen”
dafür
eine Lösung sein können, ist freilich nicht ausgemacht.
Die
akademisch wirkende Frage nach dem Ende der Metaphysik, der
Dezentrierung
der Vernunft und der Entsubstantialisierung des Subjekts aber scheint
mir
daher doch eine recht realitätsrelevante und
realitätsverankerte
Problematik auf den Begriff zu bringen. Mit der Substanzialität
der
Vernunft schwindet eben nicht nur die Möglichkeit substanzieller
Ontologie
und metaphysischer Sinnstiftung, sondern auch die Möglichkeit,
miteinander
und untereinander zu verbindlichen Orientierungen zu gelangen. Wie im
Netz
relativieren sich die einzelnen Rationalitäten wechselseitig, ohne
dass jedoch diese Relativierung nochmals auf einen festen Boden
überleiten
würde.
So
also würde ich die philosophische Zeitdiagnose ansetzen. Stimmen
Sie
mir zu? Oder sehen Sie die Dinge anders?
R.C.
Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass die Atmosphäre
der philosophischen Reflexion vor allem seit dem sogenannten
Zusammenbruch
des Deutschen Idealismus sich von der Suche nach absoluten Koordinaten
zur Wahrnehmung menschlicher Kontingenz gedreht hat. Ich spreche
von Atmosphäre denn natürlich sind die von Georg
Wilhelm
Friedrich Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Johann Gottlieb
Fichte gestellten Fragen nicht einfach verschwunden. In einem gewissen
Sinne sind sie aktueller denn je. Sie betreffen eine Erfahrung von
Globalität
und Vernetzung – ich denke dabei vor allem an den Systemgedanken mit
seinen
dynamischen und perspektivischen Kehrtwendungen, in dem beide Aspekte reflektiert
werden –, die uns sehr nahe steht und im gewissen Sinne auf eine
Atmosphäre
der Postkontingenz hinweist. Damit meine ich nicht, dass wir
zur
Metaphysik zurückkehren können, sondern dass die
Gegenbewegungen,
die Sie ansprechen, innerhalb der vom Deutschen Idealismus
eröffneten
Möglichkeiten bleiben, auch und gerade, wenn anstelle des
Geistes
etwa der Wille zum Leben oder der Klassenkampf – heute ist vom Kampf
der Kulturen die Rede – eintritt. Dennoch meine ich, dass nach
diesen
Kehrtwendungen mit ihrem Kontingenzpathos allmählich eine neue
Drehung
sich vollzieht, die marktschreierisch als Globalisierung und Vernetzung
überall verkündet wird.
Zugegeben,
der Ausdruck Postkontingenz, nicht anders als im Falle des
Ausdrucks Postmoderne, drückt eine Verlegenheit aus. Denn
wir
befinden
uns in der Tat, wie Sie es beschreiben, in einem Zustand, in dem unsere
Vernunft sich nicht ihrer transzendentalen Koordinaten – vom Ich
denke
bis hin zu den Kantischen kategorialen Strukturen, die uns zur
Konstruktion
der einen Wirklichkeit dienen sollten – in der Atmosphäre des
Bewusstseins
und seiner Erfahrungen versichern kann, sondern wir selbst, sozusagen
mit
Leib und Seele (und nicht bloß unser Bewusstsein) machen Ernst
mit
der Erfahrung der Kontingenz unseres In-der-Welt-seins. Gleichwohl
verharrt
unsere Erfahrung heute, wie mir scheint, nicht in der Feststellung
dieser Kontingenz, sondern begreift sich immer mehr in einem Geflecht
von
Abhängigkeiten und Möglichkeiten sowohl was unsere Einbettung
in der Natur als auch was unseren technischen Gestaltungswillen
betrifft.
Letzteres
hat sich seit der digitalen Revolution abermals gewandelt und
prägt
wiederum sowohl die Atmosphäre unserer Selbstwahrnehmung als auch
unsere Wahrnehmung der Natur. Wir leben im Zustand der Globalität
ohne dass damit eine metaphysische Totalität gemeint wäre und
wir leben im Zustand der digitalen Vernetzung. Die bisherigen globalen
Begriffe Geist und Materie sind, vereinfacht und verkürzt gesagt,
durch Information (teilweise) abgelöst worden. In diesem
Zusammenhang
bezieht sich Information sowohl auf die evolutionären
Formungsprozesse
als auch auf jene digitale Formung, die, auf der Basis von 0/1 und
ihrer Einprägung im elektromagnetischen Medium uns
erlaubt, alles
was ist, auf seine Digitalisierbarkeit hin zu entwerfen. Ich spreche in
diesem Zusammenhang von einer digitalen Ontologie, womit nicht
bloß
die digitalen Gegenstände, sondern ein Weltverhältnis gemeint
ist. Vielleicht ist es so, dass die digitale Weltvernetzung so etwas
wie
eine Atmosphäre schafft, in der die Kontingenz weniger pathetisch
erfahren wird als dies beim Verlust des Grundes im Absoluten oder in
der
Natur der Fall war. So gesehen wäre die globale Vernetzung nicht
die
neue Form eines metaphysischen Grundes, sondern, paradox
ausgedrückt,
die einer vernetzten Kontingenz. Unsere Suche nach Gründen
lässt sich dann weder in der Metapher eines letzten Grundes noch
in
der eines festen Rationalitätsrahmens festlegen, die in der Natur
unseres Geistes verankert wäre, sondern in Gestalt eines Hypertextes,
bei dem die Qualität oder Güte eines Verweises entscheidend
vom
jeweiligen Kontext der zu vernetzenden Knoten abhängt.
Die
Frage, die sich mir dann stellt, ist: Welche Konsequenzen ergeben sich
aus dieser Abschwächung der Kontingenzerfahrung gegenüber
einer
Auffassung von Kontingenz und Freiheit wie sie etwa von
Existentialisten
wie Jean-Paul Sartre oder Albert Camus mit großem Pathos
verkündet
wurde? Welche Form von existentieller Sicherheit bietet das digitale
Auffangnetz
sowohl für den Einzelnen als auch für die
(Welt-)Gesellschaft?
Und: wie ist das Verhältnis dieser zugleich digitalen und
existentiellen
Weltordnung zu den bisherigen transzendenten und immanenten
Sicherungssystemen?
Anders ausgedrückt: Welche Art von Aufklärung
menschlichen
Seins tut sich dabei auf?
II.
Die Fragilität der Freiheit
TH.H.
Wir teilen demnach einen guten Teil der Problemanzeigen. Wenn ich es
recht
verstehe, sehen Sie die postkontingente Zeitsituation darin, dass im
Unterschied
zu den revolutionär empfundenen ”Kontingentierungen” der
Wirklichkeit
im Strukturalismus und Poststrukturalismus diese Kontingenz heute nicht
mehr als besonders aufregend erfahren wird – sehen wir einmal von den
Werteverfalls-
und Beliebigkeitsthesen der ja ohnehin eher konservativ-regressiven
Kulturkritiken
ab. Kontingenz erschiene den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen demnach
kaum
noch als Abgrund, sondern als Raum, in dem man sich bereits
eingerichtet
und seine Netze gezogen hat, kontingente Sicherungen zwar nur, die
jedoch
ausreichend gemütlichen Rückhalt für die
Ermöglichung
konkreter Freiheit bilden, ohne doch eine Verbindlichkeit zu entfalten,
die negativer Freiheit (als formaler Bedingung konkreter Freiheit)
allzu
störend im Weg stünde.
So
gesehen hätten wir dann die richtige Mischung: Keine
ewiggültigen
substanziellen Strukturen lähmen mehr Entwurf und Entfaltung,
nicht
einmal die des Subjekts selbst. Gleichzeitig aber ist der Grund der
Freiheit
nicht mehr jenes grundlose Nichts, auf dem das von Ihnen ins Spiel
gebrachte
sartre´sche Individuum sich heroisch selbst zustande bringen muss
und seine Kontinuation von einem punktuellen Willensakt zum
nächsten
immer neu zu leisten hat. Postkontingenz in diesem Sinn
ermöglichte
dann Unbekümmertheit. In der Tat drückt sich ein solches
Zeitempfinden
etwa in Johannes Goebels und Christoph Clermonts (1998) nahe an der
Satire
stehendem Buchessay aus, der ”Orientierungslosigkeit” als ”Tugend”
nobilitiert,
weil sich darin – gegenüber den Einheits- und
Verbindlichkeitsentwürfen
der frühen Moderne – die größere Humanität
beweise.
In Wolfgang Welschs (1988) Lob der Pluralität kann man
Ähnliches
finden. Sherry Turkles (1999) Rekonstruktionen polyvalenter und
dezentrierter
Subjektivität von Netizens ließe sich, da sie auch empirisch
verankert sind, als zusätzlicher Beleg sehen. In dieser Hinsicht
kann
ich Ihren Überlegungen zu einer postkontingenten Zeitsituation
durchaus
zustimmen.
Was
”klärt”” darin aber auf, schließen Sie. Einmal abgesehen
davon,
dass sich die ”großen Fragen” (wie Sie auch andeuten) nicht
abweisen
lassen – Kant nennt Gleichgültigkeit ihnen gegenüber
”erkünstelt”
–, fragt sich, ob diese positiven Momente bereits alles sind, was sich
darin ”lichtet” (oder was darin verdunkelt wird). Sie stellen diese
Frage
hier noch sehr offen. Ich will sie einmal etwas bedenklicher stellen.
Die
gezogenen Netze sind ja nicht nur die der Lebenswelt – und auch bei
diesen
ist nicht von vorneherein ausgemacht, dass sie nur der Humanität
förderliche
sind. Selbst, wenn das, was Humanität sein soll, sich der
Kontingenz
gegenüber nicht mehr fest-stellen lässt, stellen jedenfalls
die
digitale Ontologie und von ihr ermöglichte, neue systemische
Strukturen
etwas fest. Wenn bei Heidegger das ”Gestell” jenes ist, das zugleich
den
Menschen ”stellt”, also ihn fixiert, definiert, sich zuhanden macht und
herausfordert in einem, dann ist es wohl der digitale Weltentwurf, der
gegenwärtig ”Gestell-Qualität” besitzt. Das digitale Medium
wäre,
mit einem Blick auf Theodor Wiesengrund Adorno und Max Horkheimer, das
Verdinglichungsmedium schlechthin, durch welches nur noch Geltung hat,
was sich digital ”packen” lässt (so Horkheimer/Adorno 1971, 38)
zum
Begriff als Instrument der Vernunft – an die Stelle des Begriffs tritt
nun die Erfassung im digitalen Medium). Insofern Digitalisierung
gegenwärtig
in rein pragmatischer Absicht vollzogen wird – man will etwas tun,
meist
profitabel –, sind wir dabei stets im poietischen Feld oder eben in der
Instrumentalität verfangen.
Dies
aber könnte ebenso das Ende jeder gemütlichen Freiheit sein –
oder, um es weniger dramatisch zu sagen, zumindest das Ende einer Reihe
von negativen (und damit auch konkreten) Freiheiten. An anderer Stelle
schreiben Sie einmal ”esse est computari”, um die Totalität
des digitalen Weltentwurfs auszusagen. Was sich digital prozessieren
lässt,
ist jedoch auch bereits (ein)gefangen. Entsprechend fängt sich in
der Digitalität unsere DNS, unsere ”Biometrie” von der
Körpervermessung
bis zur ”Gesundheitsbiographie”, unsere individuelle Kommunikation
(auch
die mail, die wir so offenherzig unverschlüsselt zwischen uns hin
und her gehen lassen), unser ”Konsumverhalten”, das ganze Konglomerat
unserer
Präferenzen, Abneigungen, Begehrungen, Lüste und
Feindseligkeiten,
etc. Das ist wohl der Schatten dessen, was sich im digitalen
Weltentwurf
”lichtet” (und unser ”Sein” freilich ebenso lichter machen, steigern,
mit
neuen, konstruktiven Lebenschancen versehen kann). Es ist ein Schatten,
der an Filme wie ”Enemy of State” (Tony Scott, USA 1997) oder ”Gattaca”
(Andrew Niccol, USA 1998) denken lässt – populärkulturelle
Produkte
zwar, die aber eventuell hellsichtig Netze der Überwachung
thematisieren
und der Instrumentalität so prospektiven sinnlichen Ausdruck
verleihen.
In diesen Filmen gibt es freilich immer noch ”Herrschende und
Besitzende”,
die den Überwachungsprozess in ihren Händen halten. Solche
Zurechenbarkeit
mag es in der Realität nicht mehr geben – schon Horkheimer und
Adorno
sehen die Herrschenden daher der instrumentellen Vernunft ähnlich
ausgeliefert, wie die Beherrschten, und bei Heidegger gibt es ohnehin
kein
Subjekt mehr, von dem das Gestell wie eine Maschine bedient würde.
Aber eine Anonymität des Verdinglichungsprozesses ließe
diesen
nicht erfreulicher werden.
Ein
finsteres Bild – Sie wissen, dass es nicht das Vollbild meiner
Sichtweise
der Digitalität (und darin des Internet) ist, sondern ich die
neuen
Möglichkeiten schätze. Das Lichte darin zu fördern aber
bedarf in meiner Sicht eben wegen der Schatten der Ethik, also einer
Steuerung,
einer Regulierung. Wiederum Kant ist es, der darauf aufmerksam macht,
dass
Freiheit nicht aus sich selbst bestehen (bleiben) kann, sondern als
reale
eröffnet, durch Grenzziehungen offengehalten werden muss.
Hierfür
ist zunächst einmal die Ethik zuständig (als Basis auch des
Rechts).
Falls wir uns vorerst der Situation ausreichend versichert haben,
wäre
die nächste Frage mithin, ob sich zu einer solchen gelangen
ließe.
Und das stößt uns dann erneut auf die Kontingenz, die ja
durch
ihre Vernetzung nicht weniger kontingent, nur weniger harsch empfunden
wird. Wie kann man hier eine Orientierungsbasis gewinnen? Vermutlich
führen
uns die Wege hier auseinander, eventuell schon an der Frage, ob man
diese
Frage stellen soll. Wenn man sie stellt aber, kann meines Erachtens die
Antwort darauf nicht mehr mit Rekurs auf substanzielle Konzepte gegeben
werden. Nötig ist die Suche nach einer postsubstantialistischen
Konsensbasis,
auf die ethische Diskurse sich beziehen können.
Die
Herausforderung für die Suche nach dieser Basis ist in meinen
Augen
die Differenz als Grundmerkmal der Kontingenz. Sie entdeckt sich als
solches
schon im Strukturalismus bei Claude Lévy-Strauß, wenn er
von
der ”Binarität” spricht. Auf einer ganz anderen Theoriebasis macht
auch Niklas Luhmann die Differenz – als Scheitern von Kommunikation,
dann
im Leitcode systemanalytisch fixiert – zum Ausgangspunkt seiner
Rekonstruktionen.
Und wir haben sie nun auch im digitalen Weltentwurf als dessen
Grundlage,
nämlich in der 0 und 1. Stets ist die Differenz dabei jenes
Moment,
das erst Bewegung, Dynamik erbringt. Ohne Differenz daher, wenn ich
weit
vorausspringen darf, auch keine Praxis. Von ihr aus muss deshalb wohl
die
ethische Frage gestellt werden, wenn Ethik es denn mit Praxis zu tun
hat.
Aber bevor ich das versuche, sollten wir noch sehen, ob wir unsere
Problemanzeige
vorerst so abschließen können.
R.C.
Vielleicht können wir die Problemanzeige vorerst so
abschließen,
dass wir von Kontingenzbewältigungsstrategien sprechen.
Solche
Strategien betreffen nicht nur existentiell jeden Einzelnen angesichts
des Rätsels des Existierens, vor allem angesichts des eigenen
Todes
und des Todes des Anderen, sondern sie haben auch einen eminent
politischen
Charakter. Wie Sie wissen gehört die praemeditatio mortis
zu
den klassischen philosophischen Exerzitien seit der Antike. Auch
Heideggers
Todesphänomenologie und Paul Celans "Todesfuge" gehören zu
dieser
Tradition, zumindest wenn wir lernen, philosophische und dichterische
Mitteilungen
nicht als wissenschaftliche Hypothesen, die bestätigt oder
widerlegt
werden können, sondern als existentielle Experimente oder, banal
ausgedrückt,
als Übungsanleitungen zu lesen. Wir würden uns dadurch einige
bodenlose Polemiken ersparen.
Wenn
das (Über-)Leben der Gattung auf dem Spiel steht, dann gewinnen
solche
Strategien eine biopolitische Dimension, wobei unter biopolitisch
sowohl unsere physiologische oder genetische
Bestimmung
– was die Natur (noch) aus uns macht – als auch die existentielle oder pragmatische
Gestaltung unseres In-der-Welt-seins
gemeint ist, oder,
um Kants "Anthropologie" zu zitieren, das was der Mensch "als
freihandelndes
Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll" (Kant 1975, B
IV). Wenn wir aber heute von Ethik sprechen, nehmen wir den Unterschied
zwischen der physiologischen und der pragmatischen Bestimmung nicht
mehr
so wahr. Warum? Weil der Mensch auf der Basis der digitalen Technologie
zum homo faber sui ipsius geworden ist, einschließlich
jener
"Handhabung" der "Gehirnnerven und Fasern" und der "im Gehirn
zurückbleibenden
Spuren von Eindrücken", wovon Kant annahm, dass wir ihnen
gegenüber
nur "bloße Zuschauer" sein können (ebd.). Mit anderen
Worten,
die physiologische ist Teil der pragmatischen Anthropologie geworden.
Wir
sprechen, spätestens seit Peter Sloterdijk, von Anthropotechniken.
In
einem berühmten zuerst im Jahre 1965 gehaltenen Vortrag mit dem
Titel
"Experiment Mensch. Theologisches über die Selbstmanipulation des
Menschen" beschrieb Karl Rahner beinah prophetisch die verschiedenen
"Werkhallen"
in denen die "aktive Hominisierung der Welt" betrieben wird, darunter
die
Werkhallen der Biologie, Biochemie, Genetik, Medizin, Psychologie und
Politik,
letztere als Sitz einer "Weltregierung, getragen von den
herangezüchteten
Superintelligenzen", wo die Arbeiten der anderen Werkhallen koordiniert
werden (Rahner 1966, 48-49). Rahner bejaht, gegenüber dem
kulturkritischen
Lamento, das kommende Zeitalter der Selbstmanipulation, in dem wir uns
nicht nur sittlich, sondern auch leibhaftig schaffen. Auf die Frage,
nach
welchem Ziel oder "Wesen" wir uns bei dieser kategorialen
Selbstmanipulation
richten sollen, stellt er gegenüber den Argumenten der Moralisten
und der Skeptiker fest, dass wir nicht tun dürfen, was "nicht
geht",
weil es wesen- und sinnlos oder schlicht unmöglich ist (Rahner
1966,
59). Er lässt aber dabei offen, dass wir, wie die "unschuldige"
Natur,
auch Monströses produzieren können oder, was gravierender
ist,
dass die Selbstmanipulation irreversible und irreparable Folgen haben
könnte,
wenngleich dies nicht unbedingt sein muss. Rahner sieht unser kategoriales
Handeln im Licht einer "absoluten Zukunft", die sich in Gestalt des
Todes
– des Gen-todes, des Holozids oder einer Weltkatastrophe – als des
Unmanipulierbaren
und als transzendentales Woraufhin des unumkehrbaren
Freiheitsprozesses
ankündigt, ein Handeln, das sich zudem in einem nicht mit uns
selbst
identischen Universum abspielt.
Gegenüber
der Moral, die an der Verteidigung von bestimmten Gestalten
interessiert
ist, muss die Ethik, so Rahner, sich dem schmerzhaften Wagnis der
Freiheit
stellen. Unsere einzige gefährliche Illusion besteht dann darin,
zu
glauben, dass wir, weil wir uns selbst machen, auch nur uns selbst
gehören.
Das folgende Zitat sollte am Beginn einer jeden bioethischen Diskussion
stehen: "Es wäre in einer überindividuellen Moral
nüchtern
und mutig zu bedenken, welche Opfer der Menschheit von heute für
die
Menschheit von morgen zugemutet werden dürfen, ohne dass man zu schnell
von unsittlicher Grausamkeit, Vernutzung und Verletzung der Würde
des Menschen von heute zugunsten dessen von morgen sprechen darf."
(Rahner
1966, 68-69). Es ist paradox, dass ein katholischer Dogmatik-Professor
offener ist als mancher säkulare Philosoph, der, wenngleich er
zugibt unmusikalisch im Bereich des Religiösen zu sein,
die bürgerliche
Moralität unter dem Schutz religiöser Bilder sehen
möchte
(Habermas 2001).
Sieht
man von Rahners christlich-metaphysischem Hintergrund zunächst ab,
dann können wir als Leitfaden für eine künftige
Netzethik
die von ihm angesprochenen "höheren Stufen und Gestalten der
Sozialität"
(Rahner 1966, 64) sehen. Die Frage ist dann, wie das Experiment
Internet
nach dem Modell eines geschichtlichen Experimentes mit uns
selbst
zu interpretieren ist. Wir können uns ferner fragen, wie sich die
Netzethik von einer Netzmoral als auch von einer Netzskepsis
unterscheidet.
Netzmoralisten legen sich kategorial fest, wodurch jene geschichtliche
Dynamik ausgeblendet wird, die die Spur transzendentaler Freiheit im
Kategorialen – Erich Przywara nannte diese Bewegung im
Kategorialen zum Transzendentalen hin analogia entis im
Sinne
eines 'In-über'-Verhältnisses
– ausmacht. Netzskeptiker wiederum sehen die Gefahren der Aberrationen
– von George Orwell bis Steven Spielbergs "A.I." (USA 2001) – und
des Sinnlosen, dessen was "nicht geht", schließlich des Wollens
des
eigenen Todes, so dass, "conscience does make cowards of us all"
(Shakespeare,
Hamlet, Act iii, Scene 1). Die Aufgabe eines "wirklich lebendigen
Moralisten"
wäre zu zeigen, so Rahner, was wirklich "nicht geht".
Damit
sind wir zugleich bei Kant und bei dem, was wir, als "endliche
vernünftige
Wesen" sollen, nämlich: "Man muss wollen können, dass
eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der
Kanon der moralischen Beurteilung überhaupt." (Kant 1974, BA 57)
Ich
möchte in diesem Zusammenhang anmerken, dass ich Kant nicht ohne
Metaphysik
lese. Eine rein postmetaphysische Interpretation, wie sie heute
vielfach en vogue ist, ist zwar möglich, aber das ergibt
einen halbierten
Kant. Sie beruft sich gerne auf die Würde des Menschen, lässt
aber die Kantische Grundlage dieses Begriffs beiseite, nämlich
dass
wir nicht bloß Naturwesen, sondern "endliche vernünftige
Wesen"
sind und somit auch nicht bloß Mitglieder einer kontrafaktischen
idealen aber wohl innerweltlichen Kommunikationsgemeinschaft, sondern
einer
realen Gemeinschaft noumenaler Wesen, des "Reichs der Zwecke",
so
dass wir uns fragen sollen, nicht "wie wir uns glücklich machen,
sondern
wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen"
(Kant
1974b, A 234). Öfter habe ich den Eindruck, dass letztere, die noumenale
Gemeinschaft also, doch als Modell der ersteren und somit auch als
Fluchtpunkt
der Weltvernetzung im Sinne einer jetzt nicht theologischen, sondern
technologisch
erzeugten und somit auch mystifizierten Superintelligenz fungiert.
Offenbar
ist das "Gestell" von dem Sie in Anschluß an Heidegger sprechen,
die Weise wie wir heute zunächst und zumeist in der Welt sind,
nämlich,
wie wir es präziser nennen könnten, das Informations-Gestell
oder jene Gesamtheit jener Formen des Her-Stellens von digitaler
Information,
die alle unserer Seinsverhältnisse zu uns selbst und zur Welt
prägt.
Damit machen wir also eine ontologische Deutung eines ontischen
Phänomens,
und zwar speziell des Internets als eine besondere Form
zwischenmenschlicher
digital-basierter Sozialität, jenseits des bisherigen Paradigmas
der
ebenfalls digital hergestellten und/oder verbreiteten Massenmedien. Das
Internet gehört zu unserer Alltäglichkeit, nicht weniger als
der Rundfunk und das Fernsehen. Heideggerianisch gedacht, ist die
Alltäglichkeit
nicht etwas, was wir verlassen können oder sollen, in dem wir etwa
auf die "Stimme des Gewissens" hören und uns von ihr ab- und zur
Seinsweise
der Eigentlichkeit hin umkehren. Das trifft eher paradoxerweise
für Horkheimer und Adorno zu. Heidegger spricht sogar vom
"Ge-Stell"
als "ein erstes, bedrängendes Aufblitzen des Ereignisses". Und
ferner:
"Im Ge-Stell erblicken wir ein Zusammengehören von Mensch
und
Sein, worin das Gehörenlassen erst die Art des Zusammen und dessen
Einheit bestimmt." (Heidegger 1976, 27) In diesem Zusammenhang
fällt
auch das Wort von einem "in sich schwingende(n) Bereich" sowie das von
Gianni Vattimo so geschätzte Wort "Verwindung" im Gegensatz zu
"Überwindung"
der Metaphysik.
Ich
meine, dass dies uns durchaus zu einer bestimmten
Metaphysik-verwindenden
Weise des ethischen Nachdenkens über das Internet veranlassen
kann.
Wir können dadurch das Internet aus der Starre eines moralischen
oder
auch eines skeptischen Blickes befreien oder entlassen, wenn wir
lernen,
das darin schwingende Verhältnis im Eigenen wahrzunehmen. Das
Eigene
ist das Ereignis des Seins, das uns im Selben entlässt und
zugleich
jene Differenz schafft, die uns ermöglicht, nicht nur das
Internet,
sondern letztlich die digitale Entbergung der Welt selbst als eine
mögliche
kategoriale Weise der, wie wir heute sagen, Weltkonstruktion zu
sehen.
Mit anderen Worten, erst dann wenn wir die Fragilität und
nicht
nur die Rigidität des Netzes als eine mögliche (!)
Antwort
auf jene Herausforderung verstehen, die unsere Existenz und die physis
insgesamt an uns stellt, erblicken wir vielleicht dieses
Alltägliche
und Rigide plötzlich aus einer anderen Perspektive, die
wir
deshalb eine ethische nennen können, weil wir ihre immanenten
moralischen
Regeln auf ein Möglichsein hin transzendieren, dem wir uns selbst
auch verdanken, ohne aber aufzuhören in der Welt zu sein.
Im
Klartext: Wir brauchen eine Internetmoral – wir könnten in
Anschluss
an Hans Küng von einem Weltinformationsethos sprechen –
und
wir sollten wachsam sein gegenüber den vielfältigen Gefahren,
die eine solche Art von Sozialität mit sich bringt, von Cyberterrorismus
bis hin zu allen teilweise auch legalen Formen digitaler Ausbeutung,
wofür
wir das Wort digital divide verwenden. Gleichzeitig sollten wir
aber jenen offenen Sinn menschlicher Sozialität wach halten, der
uns
von Fall zu Fall erlaubt, eine erstarrte Moralität oder eine
übereifrige
Skepsis in Frage zu stellen. Mit anderen Worten, wir sollten uns im
persönlichen
aber auch im institutionalisierten Dialog Zeit für Netzethik
lassen.
Würden Sie dem zustimmen, und wenn ja, welche wären, Ihrer
Meinung
nach, die moralischen und skeptischen Ausgangsbedingungen über die
wir uns dann, wie man sagt, Gedanken machen sollten?
Th.H.
Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie sagen, dass das Internet und die
Digitalisierung
überhaupt ein existentielles Experiment des Menschen und für
unser Menschsein darstellt sowie, dass wir es deshalb auch als solches
wahrnehmen sollten. Ebenso stimme ich Ihnen zu, wenn Sie mit Rahner das
Wagnis der Freiheit als den Horizont einer wirklich fruchtbaren
ethischen
Reflexion über das Internet (und die Digitalität)
einführen.
Und ich freue mich über die Nennung von Kant, denn von einer
kantischen
Inspiration her könnte ich mir Lösungswege vorstellen.
Um
mit dem Internet zu beginnen: Die zentrale Herausforderung, die das
Netz
als transnationaler Kommunikationsraum und Handlungsraum stellt, ist in
meinen Augen in der Tat die Freiheit. Und zwar die Freiheit nicht – wie
dies die von Ihnen genannten Moralisierer bzw. Kulturpessimisten
beklagen
– als einfache Gegebenheit oder Tatsache (die wegen für bestimmte
Gruppen missliebiger Nutzung rigider Kontrolle und Beschränkung
unterworfen
werden müsste), sondern die Freiheit als durchaus fragile
Möglichkeit,
die das Netz eröffnet und die aber aufgrund der
Möglichkeiten,
die ihre digitale Konstitution mit sich führt, ebenso rasch wieder
geschlossen werden könnte.
Ich
will das zunächst mit einem Blick zurück illustrieren, der
(erneut)
Differenzen aufweist: Das Freiheitsproblem stellte sich für
Kommunikation
und kommunikativ vermitteltes Handeln schon bei den klassischen
Massenmedien
und erzeugte Furcht – vor allem beim gebildeten Bürgertum, das
versuchte,
die Aristokratie durchaus auch bezüglich gruppenspezifischer
gesellschaftlicher
Privilegien und hegemonialer Positionen zu beerben. Diesem
Bürgertum,
das sich Ende des 19. Jahrhunderts in Kulturreformbewegungen
organisierte,
verdanken wir – zumindest in Deutschland – den juridischen und
institutionellen
Zuschnitt der Regulierung von Medien (vgl. Hausmanninger 1992,
Hausmanninger
2000). Am deutlichsten ausgeprägt ist das beim Film, dem (nicht
nur
hierzulande) reguliertesten und kontrolliertesten Medium
überhaupt.
Die Risiken und Zumutungen von Freiheit werden hier “im Zaum”
gehalten
(damit sie nicht “ausbrechen”?), indem staatliche und private
Institutionen
Aufsicht führen und hierbei durch Regeln (gesetzliche und solche
der
Selbstbindung) unterstützt werden, die gleichfalls
institutionalisiert
und mit der “Befugnis, zu zwingen,” (Kant) ausgestattet sind. Das gilt
im übrigen auch für einen großen Teil anderer
europäischer
Länder, die USA, Australien etc.
Mit
diesem durchaus
wohlmeinenden,
moralisch gestützten Beherrschungsversuch der Risiken sind wir
jedoch
auch bis zu einem gewissen Grad vor den konstruktiven Zumutungen
und Chancen der Freiheit ausgewichen. Wir haben beispielsweise
nicht
den Film (und verwandte audiovisuelle Medien) zum Gegenstand der
Bildungsinstitutionen
gemacht, um entsprechende kulturelle Kompetenz zu fördern und
damit
letztlich einer Kultur der Freiheit im Kommunikationsbereich
zuzuarbeiten.
Sehr wohl ist das hingegen für das Feld der Literatur geschehen –
sicher ein zentraler Grund, weshalb es beispielsweise in Deutschland
vier
Institutionen gibt, die den Film beaufsichtigen (FSK, FSF, BPjS und
Landesmedienanstalten),
nicht aber etwa eine “Freiwillige Selbstkontrolle des Literaturbetriebs
(FSL)” oder eine “Landesschrifttumsanstalt” (der Anklang an eine andere
“Schrifttums”-Kontrolle der deutschen Geschichte ist durchaus
beabsichtigt).
Bei der Literatur haben wir schlicht nicht mehr derart große
Sorgen
und Ängste, wie beim Film, und können sie besser freilassen.
Nun
gibt es jedoch – insbesondere in Deutschland – Bestrebungen, mit dem
Internet
ausgerechnet nach demselben Muster zu verfahren, wie beim Film.
Gleichzeitig
steigt das Bewusstsein dafür, dass in diesem transnationalen
Kommunikationsraum
solche institutionalisierten Aufsichten nur schwer greifen. Anstatt
sich
auf die in der Zumutung der Freiheit beschlossenen Chancen zu besinnen,
bemühen sich Politik und Industrie nun darum, das alte
Kontrollkonzept
durch Stärkung von Selbstkontrollinstitutionen zu totalisieren:
Über
die Verzahnung staatlicher Sanktionsmacht, privater
Kontrollorganisationen
und aufsichtiger Individuen durch Hotlines soll eine weitgehend
lückenlose
Überwachung des Netzes möglich werden (vgl. dazu auch meinen
Beitrag im Schlussteil des Buches). Wenn das filmbezogene
Kontrollmuster
noch dem Panoptikum von Jeremy Bentham glich, so akzentuiert diese
Vorstellung
letztlich den Panoptismus des Pestreglements vom Ende des 17.
Jahrhunderts,
das Michel Foucault zusätzlich zu Bentham zitiert (Foucault 1998,
251-256): Durch eine dezentrierte Überwachung, die am Ende in
einer
Rezentrierung ausmündet, soll lückenlos jede Gefahr erfasst
und
abgefangen werden. Dezentrierung soll dabei also die Effizienz der
Kontrolle
steigern, nicht wirklich aber so etwas wie eine freie
Selbstverantwortung
der Individuen – eben in dieser Effizienzorientierung liegt die
Parallele
zwischen dem Pestreglement und dem Hotline-Konzept. Das Letztgenannte
ist,
im Sinn von Foucault, so durchaus hochmodern – und nach der offiziellen
Verabschiedung der Postmoderne aus der Philosophie vielleicht gerade
deshalb
auch à la mode. Aber ist es adäquat (gerne im Sinn
Ihrer
an Rahner angelehnten Forderung, das Moralische solle sich an dem, was
“geht”, ausweisen)? Immerhin ist das Bentham´sche Panoptikum ein
Gefängnis – und die parzellierte Überwachung des
Pestreglements
totalitär. Wir befinden uns daher in meiner Sicht gegenwärtig
an einem Scheideweg: Das Internet macht uns ein zweites Mal in der
Moderne
– nun in der späten, durch die Postmoderne transformierten Moderne
– bewusst, dass ihr Signum Freiheit ist und dass Freiheit einer
kulturellen
Verankerung bedarf. Fällt unsere Reaktion so aus, wie beim Film im
Rahmen der ersten Bewusstmachung dieser Freiheit durch die
kommunikative
Revolution nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, so verspielen wir die
produktiven
Möglichkeiten dieser Herausforderung. Dies wäre umso
bedauerlicher,
als diese Herausforderung nun global geworden ist und entsprechend auch
globale Chancen in sich birgt.
Auf
diesen Freiheitsfokus beziehen sich nun auch meine Bedenken
gegenüber
dem digitalen “Gestell”. Die aufsichtige Parzellierung des menschlichen
Genoms, die more geometrico erfolgende Zerteilung des Problems
Mensch
in seine genetischen Bestandteile, um hieraus dann – ganz im Sinn
Descartes´
– die Lösung dieses Problems modellhaft aufbauen zu können,
kann
freiheitsbedrohend und in diesem Sinn totalitär werden (vgl.
Hausmanninger
1999). Sie muss es nicht, aber sie kann es. Und der klassisch-moderne
Geist
der Kontrolle und der im Kontrollmodus fabulierenden Selbstverbesserung
des homo faber stimmt mich nicht in jeder Hinsicht
hoffnungsvoll.
Schon greift die digitale Logik der Gentechnik beispielsweise mit der
neuen
digitalen Logik der Kriminalistik ineinander oder scheinen sich
zukunftsorientierte
Überlegungen im Versicherungswesen mit pränataler Diagnostik
und genetischer Risikoabschätzung zu paaren. Bei all dem geht es
nicht
um die Digitalität an sich. Das Problem entsteht aus ihrer
sozialen
Bearbeitung. In dieser Hinsicht wären heideggerianische
Überlegungen
zum Gestelltsein des Menschen fruchtbar in diese beiden Seiten zu
zerlegen:
Nicht das digitale Geschick birgt unausweichlich ein Scheitern
menschlicher
Freiheitsgeschichte in sich, sondern das – wenn die
Begriffsanklänge
an Kant, Heidegger und Horkheimer gestattet sind – soziale
Überschwenglichwerden
unserer instrumentellen Besorgung von Freiheit. Dazu gehört dann
im
übrigen für das Internet auch die Gefährdung der
Freiheit
von innen, nämlich durch die staatlich-kriminalistischen,
ökonomischen
und sonstigen Kontrollbedürfnisse, die alle Datenspuren zu sichern
und das Handeln der netizens zu kartographieren, katalogisieren
und in Profile zu verwandeln suchen, um zu sanktionieren oder
Geschäfte
zu machen. Dabei gibt es dann auch so etwas wie einen sozialen kairos,
der nicht immer glückliche Fügung ist: So können
staatlich-kriminalistische
Kontrollbestrebungen gerade auch mit digitalen Mitteln nach dem
Anschlag
auf das World-Trade-Center am 11. September 2001 plötzlich auf
soziale
Akzeptanz rechnen, die vormals schwer zu gewinnen gewesen wäre.
Damit
verdeutlicht sich vielleicht auch bereits, wo ich die entsprechenden
ethischen
Herausforderungen sehe. Meines Erachtens müsste es darum gehen,
eine
Ethik – als Reflexionsort bzw. reflektierter Referenzort moralischer
Ansichten
– zu entwickeln, die einer Kultur der Freiheit dienlich ist. Im
transnationalen
Raum kann dies nicht eine material ausdefinierte Ethik sein; letztlich
erscheint dies ja schon für eine freiheitliche Gesellschaft kaum
ratsam,
wenn freie Entfaltung aller Individuen möglich sein soll. Zudem
wird
es schwierig genug sein, überhaupt einen gemeinsamen formalen
Fokus
zu finden (wie etwa ein gemeinsam geteiltes Moralprinzip). Auch ist
nicht
zu erwarten, dass man zu einem allseits konsensfähigen
Begründungskonzept
kommen wird. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass ein am Prinzip
der Universalisierbarkeit orientiertes Konzept Chancen hat und zudem
geeignet
ist, Differenz zuzulassen, ohne die Kraft der Orientierung
preiszugeben.
Ich habe bereits angedeutet, dass ich hierzu einige Gedanken in
Anlehnung
an Kant äußern möchte. Angesichts des schon gewucherten
Textes möchte ich jedoch zunächst den Ball an Sie
zurückgeben
und danach fragen, ob und wie Sie sich eine orientierende Rolle der
Ethik
für unsere Fragen vorstellen könnten.
III.
Wege zur Internetethik
R.C.
Ich stimme mit Ihnen überein, dass die Übertragung des
zentralistischen
Kontrollparadigmas der Massenmedien auf ein dezentrales Medium wie das
Internet nicht richtungweisend sein kann. Auch die Gefahr einer
dezentrierten
Überwachung scheint mir real zu sein. Hier stoßen wir
offensichtlich
auf die ontischen Grenzen dessen, was Netze ausmachen. Wie Sie wissen,
waren Netze in Agrargesellschaften ambivalent (Fröhlich 1996,
Capurro
1999). Fischernetze dienten dazu, Fische zu fangen, aber dadurch auch
zum
Lebensunterhalt. In einer technischen Gesellschaft überwiegen dann
die positiven Konnotationen, zum Beispiel bei Verkehrs- und
Kommunikationsnetzen.
Damit geht auch eine Wandlung des Wesens (verbal gedacht) des
Menschen
einher, indem er sich weniger von modernen Bestimmungen wie
Individualität
und Autonomie und mehr von der Sozialität sowie vom
Eingebettetsein
in einem Kontext von Bedeutungs- und Verweisungszusammenhängen
begreift,
was bei Heidegger Welt heißt. Das „In-der-Welt-sein“
verweist
sogar durch die Verbindungszeichen auf das immer schon Vernetztsein des
Menschen mit den anderen bei denselben Dingen in einer gemeinsam
geteilten
Weltoffenheit. Vattimo hat darauf hingewiesen, dass wir Freiheit und
Geschichtlichkeit
nicht mehr am Leitfaden des Motors, sondern des Netzes reflektieren
(Vattimo
1997).
Dadurch
verändert sich auch der moderne Konflikt zwischen Freiheit vs.
Determinismus:
Wir lernen mit dem Neuen und Unerwarteten als dem Normalfall umzugehen,
wovon sich eine gesicherte Vorhersage als ein auf ein Ideal hin
gerichteter
Spezialfall unterscheidet. Die sich jetzt einstellende Spannung, die
keine
bloße Umkehrung ist, lautet: Offenheit und Vernetzung.
Ich
betone das „und“, denn hier sind wir beim Kern dessen angekommen,
wonach
wir gesucht haben. Wenn ich das richtig sehe, besteht die Hauptaufgabe
einer Netzethik darin, die Frage der Freiheit in einer (digital)
vernetzten
Welt offen zu halten und sie immer wieder neu zu stellen.
Mit Offenhalten meine ich, dass wir der Versuchung widerstehen sollten,
ontische Strukturen, das Netz inbegriffen, für mögliche
Verwirklichungen
eines herrschaftsfreien Miteinanderseins zu halten. Unsere Aufgabe
besteht
vielmehr darin, angesichts von möglichen Idealisierungen und
Mystifizierungen
des Netzes den transzendentalen Horizont von Freiheit nicht aufzugeben.
Zum
anderen sollten wir die Frage nach der Freiheit ontisch oder kategorial
immer wieder neu stellen. Dies findet zunächst in Spannung zu dem,
was uns als Naturwesen bedingt. „Der Mensch lebt nicht vom Bit allein“
(Fleissner et al. 1996). Wir brauchen Nahrung und Arbeit – unter
menschenwürdigen
Bedingungen. Wir sollten die Frage stellen, welchen konkreten Beitrag
die
Weltvernetzung bei der Lösung zum Beispiel der
Ernährungsprobleme
vor allem in den ärmsten Regionen der Erde leistet. Die
Globalisierung
verändert die Zivilgesellschaft dahingehend, dass sie, zum einen,
neue solidarische Gruppierungen jenseits der geographischen und
politischen
Grenzen ermöglicht, zum anderen aber neue Formen von Gewalt und
sozialer
Kontrolle schafft, wie die Ereignisse vom 11. September und die darauf
folgenden Maßnahmen zeigen. Es stellt sich also die Frage,
inwiefern
eine Kultur der Gewalt und Diskriminierung durch unterschiedliche
Formen
sozialen Friedens, unterstützt durch eine vernetzte
Solidarität,
allmählich abgeschwächt werden kann (Sützl 2001, Capurro
2001).
Die
Vielfalt der Kulturen und politischen Systeme stellt die Frage nach
demokratischer
Partizipation auf der Grundlage digitaler Vernetzung vor neue
Herausforderungen,
die sich nicht nach einem Modell lösen lassen. Mit anderen
Worten, ein Katalog von universalen Menschenrechten, wozu das Recht auf
eine aktive Partizipation bei der Gestaltung und Nutzung der
Weltvernetzung
(freedom of access) zählt, muss sich an den konkreten
Hoffnungen
und Interessen der Menschen orientieren. Eine solidarische Netzpolitik
und -ökonomie sollten den Menschen die Möglichkeit
bieten,
sich das Netz anzueignen anstatt sich dem Diktat einer
Weltökonomie
zu unterwerfen, die nur den Profit als oberste Maxime ihres Handelns
kennt.
Die Aufgabe der Netzethik liegt wiederum darin, die verschiedenen
Formen
des digitalen Kolonialismus anzuprangern, ohne aber in einen ethischen
Fundamentalismus zu verfallen, der im Namen von Werten und Prinzipien
lediglich
der Hegemonie einer bestimmten ökonomischen oder politischen Macht
Vorschub leistet.
All
diesen Problemfeldern liegt die Frage nach der Gestaltung unseres
Verhältnisses
zum Wissen, seiner Schaffung, Erschließung, Speicherung,
Darstellung,
Suche, Mitteilung und Nutzung zugrunde. Die Weltvernetzung lässt
deutlicher
die Tatsache zu Tage treten, dass Wissen ein Ergebnis sozialer
Interaktion
ist. Wissen ist das Produkt eines gemeinsamen Denkprozesses, wobei mit
Denken hier jenes Verhältnis gemeint ist, das uns erlaubt, das
angeblich
sichere Wissen in Frage zu stellen. Im Klartext, Denken heißt,
sich
der Zumutung des Nicht-Wissens zu stellen, diese Zumutung aktiv
anerkennen
und sich dabei stets auf eine Dynamik von Begrenzung und
Grenzüberschreitung
einlassen. Wir haben diese Dynamik in den letzten vierhundert Jahren
auf
der Basis des gesprochenen und vor allem des gedruckten Wortes
geübt
und dabei vielfältige Institutionen und Rituale der
Wahrheitsfindung,
-sicherung und -verbreitung geschaffen. Wir brauchen hier nur an die
Frage
des copyright zu denken, um die kulturelle Veränderung
durch
die Weltvernetzung anzudeuten.
Das
führt uns zugleich sozusagen in eine Intranet-Perspektive
oder
zu einer Netzethik im engeren Sinne, die sich mit den Fragen
befasst,
die das Handeln der Menschen im Netz, ihre digitale Existenz also,
betreffen.
Wir können davon ausgehen, dass zwar das Netz aufgrund seiner
dezentralen
Struktur stabil ist, die sich aber darin bildenden Gemeinschaften
unterschiedliche
Grade von Instabilität aufweisen. Damit meine ich nicht nur ihre
Flüchtigkeit,
wie etwa im Falle eines Chats, sondern auch die sich jeweils
zuteilenden
moralischen Normen einer Gruppe, wovon die Netiquette als
bescheidener
Versuch gelten kann, alle Netizens auf Regeln des guten
Benehmens
zum Vorteil aller einzuschwören. Wir sollten aber zugleich davon
ausgehen,
dass der Wechsel von Handlungsregeln je nach Gemeinschaftsart im Netz
den
Normalfall darstellt. Wir haben dann, mit anderen Worten, mit einer
Vielfalt
von Moralen zu tun. Die Aufgabe einer Netzethik besteht dann nicht so
sehr
darin, gemeinsame Maßstäbe einer materialen Wertethik zu
entwickeln,
sondern Umschlagplätze für die Reflexion über
Internet-Moralen
zu schaffen, nicht um sie gleichzuschalten, sondern, um mögliche
Diskrepanzen,
Unverträglichkeiten und Übergänge zu thematisieren.
Eine
solche ethische Reflexion muss sich also mehr auf den Wandel als auf
den
Konsens einlassen, und Orientierung im Übergang und nicht in einer
steady state theory von überzeitlichen Werten und
Normen suchen.
Sie ist nicht nur hermeneutisch, sondern auch angeletisch
orientiert
(Capurro 2002). Das heißt, sie erschöpft sich nicht in der
Deutung
und Begründung moralischer Vorverständnisse, sondern achtet
auf
das sich jeweils ankündende Kommunikationsverhältnis
und
sucht dabei mögliche Anknüpfungsmöglichkeiten, die den
Schein
einer nicht mehr überbietbaren Metaebene auflösen. Dies
scheint
mir besonders wichtig, wenn, wie es in den kommenden Jahren immer
häufiger
der Fall sein wird, internationale Organisationen, allen voran die
Vereinten
Nationen, sich sinnvollerweise als Forum für eine universale
Reflexion
über die globale Informationsgesellschaft anbieten. Es besteht die
Gefahr, dass ein scheinbar universaler Diskurs lediglich zum Vorwand
für
die Durchsetzung partikularer Interessen wird. Hierin besteht auch m.E.
die Legitimation und die Chance des akademischen Diskurses sowie
solcher
Hybridformen wie der Politikberatung in Form von Ethik-Kommissionen.
Die
Eigenschaften von Internet-Moralen sind wiederum nicht eins-zu-eins zu
denen in der realen Welt abbildbar, so dass auf theoretischer Ebene die
Spannungen zwischen verschiedenen Normen und Formen der
Lebensgestaltung
reflektiert werden müssen. Somit schließt eine Netzethik die
Aufgabe ein, unser Im-Netz-sein im Rahmen einer Philosophie der
Lebenskunst
zu reflektieren (Capurro 1995, 1999, Schmidt 1998). Im Vordergrund
steht
dann nicht die Frage nach der Universalisierbarkeit von
Handlungsmaximen,
sondern die nach der Individualisierbarkeit von offenen
Möglichkeiten
im Rahmen eines je eigenen Lebensentwurfs. Eine solche Perspektive ist
zwar die eines jeden Einzelnen, aber nicht deshalb individualistisch
oder
gar solipsistisch, denn unser (!) Leben lässt sich von Anfang an
nur
in Beziehungen gestalten. Ein wesentlicher Teil der moralischen
Erziehung
besteht darin, die unterschiedlichen Medien, in denen das Netz unserer
Beziehungen verwoben wird, in ihren jeweiligen Möglichkeiten und
Grenzen
zu schätzen und zu nutzen zu wissen. Das bedeutet auch die
Fähigkeit,
vom Netz zu lassen und sich auf das Erscheinen der Phänomene in
anderen
Medien einzulassen. Vor diesem Hintergrund ließen sich auch die
Tugenden
einer Hacker-Ethik – ich denke dabei an Wau Holland,
Alterspräsident
des Chaos Computer Club, der am 29. Juli 2001 im Alter von 49 Jahren an
den Folgen eines Schlaganfalls starb – in ihrer Eigenart besser
reflektieren.
Th.H.
Es ist interessant, wie wir uns im Verlauf unseres Dialogs aufeinander
zu bewegt haben. Wir teilen offenbar die Optionen für Freiheit,
für
Pluralität (gerade auch der Moralen), für eine sensible
Wahrnehmung
und den Respekt der Differenzen sowie einen kritischen Blick auf
Ökonomie
und institutionelle Durchsetzung von Lösungen aller Art.
Selbstverständlich
stimme ich Ihnen auch zu, wenn Sie wiederholt darauf abheben, dass sich
konkrete materiale Vorstellungen zum gesollten Handeln (Sie würden
freilich nicht vom Gesollten sprechen, ich weiß, aber
Normativität
gibt es bei Ihnen ja doch auch) in Auseinandersetzung mit den konkreten
Strukturen der Welt, unseres Lebens und des Netzes ergeben müssen
– und dass diese erstens den Horizont der Freiheit nicht
(endgültig)
schließen (wollen) dürfen sowie zweitens plural und
wandelbar
sein können sollen.
Nun
stellt sich mir die Frage, ob wir inzwischen gar auch zur Problematik
der
begründeten Einführung eines Moralprinzips und damit
bezüglich
der Option für eine vernunftbegründete, in irgend einer Form
an eine Subjektkonzeption anschließende Ethik einander nahe
kommen
oder ob sich hier eine bleibende Differenz zeigt. Dazu muss ich nun
freilich
geständig werden und den Umriss des mir vorschwebenden Konzepts
zeichnen.
Dieses setzt nicht voraus, man könne eine
überzeitliche
und kulturunabhängige Ethik begründen – hier stimme ich mit
Ihnen
überein, dass diese Vorstellung der Erreichbarkeit einer
unüberbietbaren
Metaebene „Schein“ ist. Vielmehr meine ich, dass sich nur kontextuell
beginnen
lässt. Kontextuell lässt sich aber ein von Kant inspiriertes
Konzept in den transnationalen Diskurs im Netz einbringen, das
dann
um Zustimmung werben kann und zumindest für die der
europäisch-amerikanischen
Moderne zugehörenden Kulturräume eine Chance auf Anerkennung
besitzt.
Diese
Konzept kann mit einer schlanken, postsubstantialistischen
Subjektvorstellung
arbeiten. Holzschnittartig umrissen, wäre der Argumentationsgang
so:
Als Minimalbegriff des Subjekts seien Vernunft und Freiheit angesetzt.
Akzeptiert man für Vernunft das Nichtwiderspruchsprinzip als
Kernelement,
so lässt sich nach der Logik der Praxis als Logik des praktischen
Verhältnisses vernünftiger Freiheit zu sich selbst bei ihrer
Dispersion in mehrere Akteure fragen. Nichtwidersprüchlich
verhält
sich solche vernünftige Freiheit immer dann, wenn sie sich als
solche
in allen Akteuren anerkennt. Damit misst sie diesen Akteuren den Status
der Gleichrangigkeit zu. Wir haben so das Prinzip wechselseitiger
Achtung
in Praxisverhältnissen recht schlank eingeführt und zugleich
eine Bezugsbasis für den Begründungsdiskurs von
Menschenwürde
und Menschenrechten (wenngleich diese als material auszudefinierende
noch
einer material universalisierbaren Bezugsbasis bedürfen; dazu
gleich
mehr). In Hinsicht auf alle normativen Größen, die Handeln
orientieren
sollen, bedeutet das nun, dass nur jene Geltung beanspruchen
können,
durch die eben diese wechselseitige Achtung gewährleistet ist. Als
Minimalbedingung kann man entsprechend hierfür ansetzen, dass
handlungsleitende
Normen für die von ihnen und ihrer Befolgung Betroffenen als
Vernunft-
und Freiheitswesen zustimmungsfähig sein müssen. Auf diese
Weise
lässt sich das Universalisierbarkeitsprinzip als Moralprinzip
gewinnen.
Diese
Argumentation ist kontingent und gesteht das auch ein: Sie setzt
voraus,
dass man sich dazu entscheidet, mit Vernunft und Freiheit als
Minimalbestimmungen
von Subjektivität anzusetzen. Hierzu gibt es zwar wiederum gute
Argumente,
doch keinen Zwang der Letztbegründetheit oder Unhintergehbarkeit.
Das Konzept wird vorgeschlagen, mehr nicht. Weiter bleibt das Konzept
postsubstantialistisch
– es behauptet keine ewigen Wesensstrukturen oder materialen Wertformen
in der Vernunft, aus der sich dann ein für allemal
festgeschriebene
Ordnungen des guten und gelingenden Lebens ergeben würden. Die
Bestimmung
dessen, was dieses Leben sein soll und wie es sich vollziehen soll,
bleibt
vielmehr den konkreten Subjekten, also den kontingenten Individuen, und
ihren Diskursen überlassen. Es versteht sich, dass diese als
konkrete
sich in Traditionen, in Systemgesetzlichkeiten und Lebensweltnetzen
vorfinden
und nur in diesen überhaupt zu ihrer konkreten Subjektivität
zu kommen vermögen. Der vorgeschlagene Ansatz will nicht, wie die
ältere Subjektphilosophie, die Welt und den Menschen neu erfinden
oder allererst entwerfen, sondern nur einen nachvollziehbar
begründeten
Bezugspunkt für moralische Argumentationen bieten, der es erlaubt,
in moralischen Diskursen auf ein Fundament konsensfähiger
Unbeliebigkeit
zu rekurrieren. Dies aber erscheint mir nötig, um der Aufhebung
von
Freiheit durch blanke Willkür im Handeln zu wehren und auch die
Differenz
gegen hegemoniale Her-Stellung von Einheit zu schützen: Freiheit
benötigt,
wie weiter oben gesagt, einen Rahmen, innerhalb dessen sie
eröffnet
und geschützt ist; das Moralprinzip bildet diesen Rahmen. Und erst
in einem begründet eröffneten Freiheitsraum kann die mit dem
Gebrauch von Freiheit unabweislich verbundene Differenz als legitim
beanspruchte
gegen Versuche ihrer Aufhebung und Einebnung eingeklagt werden.
Mit
diesem Konzept wird dann zugleich eine ethische Rezentrierung im Feld
der
dezentrierten Rationalitätsformen möglich. Gegen die
Radikaldiagnose
des Poststrukturalismus würde ich dabei zunächst gerne
festhalten,
dass die Dezentrierung auch jenseits der Ethik gewisse
rationalitätstheoretische
Rezentrierungen nicht ausschließt (ohne die Diagnose der
Dezentrierung
damit generell zurückweisen zu wollen – diese habe ich ja eingangs
aufgegriffen). Solche können erfolgen, indem spezielle materiale
Rationalitätsformen
in je allgemeineren, formaleren Rationalitätstypen
zusammengeführt
werden. Am Beispiel: Die konkrete Rationalität einer
Werbestrategie
für ein neues Produkt kann als Fall des allgemeineren
Rationalitätstyps
der ökonomischen Rationalität gelten, die sich wiederum auf
die
gegenläufigen Prinzipien der Profitmaximierung und des Wettbewerbs
bringen lässt. Die ökonomische Rationalität wiederum
lässt
sich dem großräumigeren Typ der strategischen
Rationalität
– als Zweck-Mittel-Kalkulation unter dem Erfolgsprinzip – zuordnen, der
seinerseits als speziellere Form der instrumentell-funktionalen
Rationalität
erscheint – die lediglich aufweist, wie etwas funktioniert und zu etwas
dienen kann. Auf diese Weise kann das heterogene Feld der Dezentrierung
zumindest mit partiellen Rezentrierungen strukturiert werden.
Die
Rezentrierung im Sinn der Vorordnung der ethischen Rationalität
vor
die anderen Rationalitätstypen freilich ist nicht auf diese Weise
zu gewinnen. Ihr sind die skizzierten Rezentrierungen jedoch hilfreich:
So kann nun die mit dem Moralprinzip in ihrer Struktur transparent
gemachte
ethische Rationalität (ich spreche allerdings lieber von
moralisch-praktischer
Vernunft, s.u.) beispielsweise ins Verhältnis zur
instrumentell-funktionalen
gesetzt werden. Aus ethischer Sicht können dann nur jene Normen
Geltung
beanspruchen, die nicht nur instrumentell-funktional, sondern
zusätzlich
moralisch-praktisch begründet sind (und nicht alle
instrumentell-funktionalen
Imperative werden sich dabei als moralisch legitim erweisen). Freilich:
Im Feld der kontingenten Netze ist diese Vorordnung der
moralisch-praktischen
Vernunft vor die dezentrierten Rationalitäten nicht mehr etwas,
das
mit Rekurs auf die eine – gar noch substanzielle – Vernunft als
notwendig und unausweichlich dargetan werden
könnte. Wohl ist
die Vorordnung ethisch einsichtig zu machen; stellt sich jemand
jedoch ausschließlich auf den Standpunkt etwa der
instrumentell-funktionalen
Rationalität, so lässt sich zumindest die volle Gestalt
dieser
Einsicht nicht mehr erreichen (die Eufunktionalität des
moralischen
Standpunktes ist – gegen etwa Karl Homanns ökonomische
Transformation
der Ethik gesagt – nicht für alle ethisch gebotenen Optionen
nachweisbar;
sie wäre jedoch Bedingung dafür, dass die ethische Option
auch
aus instrumentell-funktionaler Sicht bevorzugungswürdig
erscheint).
So bleibt die ethische Rezentrierung daher – auch – eine Frage des
moralischen
und politischen Willens.
Das
von mir vorgeschlagene Konzept der Einführung des Moralprinzips
konvergiert
mit anderen, die gleichwohl etwas andere Begründungswege
beschreiten.
Berührungen in dieser Hinsicht gibt es etwa mit der Diskursethik
oder
der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls. Auch bei den Regel- und
Gerechtigkeitsutilitaristen
finden sich verwandte Überlegungen (wobei ich meine, dass sich
generell
Argumentationsprobleme des Utilitarismus überwinden lassen, wenn
man
sich zur Einführung des Universalisierbarkeitsprinzips
entschließt).
Diese Konvergenz halte ich für hilfreich, obschon sich die
einzelnen
Begründungswege nicht einfach ineinander überführen
lassen.
Weiter oben habe ich deshalb angemerkt, dass mit einem einzigen,
allseitig
überzeugenden Begründungsweg, der alle anderen
überbietet,
wohl kaum zu rechnen sei (und dieser in der Geschichte der Ethik auch
nie
gegeben war). Will man in dieser Situation dennoch zu Orientierungen
kommen,
scheint es mir deshalb besser, auf eben solche Konvergenzen
verschiedener
rationaler Begründungswege zu setzen und deren Gemeinsamkeit als
Chance
zu begreifen, anstatt sie gegeneinander auszuspielen. Die Konvergenzen
der genannten Konzepte erhöhen dann die Chance auf Akzeptanz des
Moralprinzips
und der diesem zugrundeliegenden Subjektvorstellung. Gerade für
die
Netzethik erscheint mir das hilfreich: Lassen sich mehrere
vernünftige
Wege zum Moralprinzip beschreiten, so unterstreicht dies dessen
Begründetheit
und Einsichtigkeit; damit wächst zugleich die genannte Chance, im
pluralen Feld des Netzes zu einem gemeinsamen Fokus für moralische
Diskurse zu kommen.
Materialisieren
kann man das Konzept dann, indem man als Bezugsbasis materialer
Universalisierbarkeit
eine Anthropologie einführt. Jede ausformulierte Anthropologie
bleibt
freilich ihrerseits kontingent und wandelbar. Es sollte jedoch
möglich
sein, sich auf bestimmte anthropologische Daten zu einigen, die unter
dem
Moralprinzip reflektiert dann Menschenrechte ergeben können. Auf
diese
Weise lässt sich von der Vorstellung postsubstantialistischer
Subjektivität
und dem daran gebundenen Moralprinzip zu einer materialen,
menschenrechtlichen
Ethik gelangen. (Parallel dazu könnte man netzethisch den Weg
beschreiten,
nach konvergenten materialen Moralvorstellungen zu suchen, die sich in
irgendeiner Form vernünftig begründen lassen. Man
gewänne
dann zusätzlich und etwas rascher gemeinsame materiale
Orientierungspunkte
für das Handeln, die wir ja dringlich benötigen, wenn die
Frage
nach der Internetethik nicht nur akademisches Glasperlenspiel – im
schlechten
Sinn des Wortes – bleiben soll. Dazu findet sich daher etwas mehr in
meinem
Beitrag weiter hinten in diesem Buch.)
Dient
das nun unseren gemeinsamen Anliegen? Ich denke schon. In der
skizzierten
Form gedacht, muss die Subjektvorstellung nicht „erkauft [werden] durch
die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen“
(Horkheimer/Adorno
1971, 12). Im Gegenteil: Mit der Einführung des Moralprinzips wird
es nun möglich, das rationale Prinzip der Macht, nämlich die
instrumentell-funktionale und strategische Einstellung von der
moralischen
zu unterscheiden. Instrumentell-funktionale Normativität kann als
solche benannt und transparent gemacht werden. Wie schon anskizziert,
kann
dann auch deutlich gemacht werden, dass moralisch nicht ist, was
eufunktional
(für einen bestimmten Standpunkt) ist oder der Erreichung eines
Zwecks
dient, ohne dass diese Funktionalität bzw. dieser Zweck
ihrerseits
nochmals daraufhin überprüft werden, ob sie
zustimmungsfähig
sind. Natürlich spielen funktionale und zweckrationale Einsichten
bei der konkreten Normierung stets eine Rolle. Aber sie bilden nicht
den
ausschlaggebenden Bezugspunkt für die Beantwortung der Frage nach
der Moralität einer Norm; dieser ist vielmehr das Moralprinzip.
Unter
diesem wird daher eine „Kritik der instrumentellen Vernunft“ durchaus
möglich,
ebenso, wie den gängigen – meist ökonomischen –
Argumentationen
kritisch entgegnet werden kann, die Funktionsnormen als moralischen
Letztbezugspunkt
ausgeben.
(Bleibt
man bei Rahners Kriterium, die Grenze zwischen
Moralität
und Unmoralität beschreibe das, was „geht“ bzw. „nicht geht“, so
ist
das schwieriger. Man müsste dann einbeziehen, dass erst das als
wirklich
„gehend“ beurteilt werden kann, das zugleich für Vernunft- und
Freiheitswesen
zustimmungsfähig ist. So haben aber sowohl Rahner, als auch Franz
Böckle oder Alfons Auer nicht gedacht – sie stehen letztlich noch
nahe am Paradigma der Neuscholastik und ihres Axioms, dass das Sollen
aus
dem Sein hervorgehe. Eine Kritik der Neuscholastik könnte jedoch
zeigen,
dass diese in der Tat Funktionsnormen und moralische Normen
konfundiert.)
Ist
Universalisierbarkeit in dieser Weise eingeführt, dann kann
auch
jenen von Ihnen aufgeführten Prätentionen universaler
Geltung begegnet werden, die in Wahrheit jedoch nur hegemonialen
Absichten
bestimmter ökonomischer oder politischer Macht zuarbeiten: Dass
diese
gerade nicht universalisierbar sind, obschon sie es vorgeben,
kann
nun argumentativ ausgewiesen werden.
Gleichzeitig
aber bleibt die Vielfalt von Moralen möglich, ebenso der Wandel.
Es
sollen ja gerade nicht überzeitliche Werte festgeschrieben werden
und es soll gerade nicht eine Moral als allüberall verbindliche
materiale
Ethik fixiert werden. Mit der Einführung der Betroffenen als
Bezugspunkt
wird der Umkreis der Universalisierbarkeit so festgelegt, dass
einerseits
die Machtlosen eine Stimme zugemessen bekommen, andererseits
Geltungsansprüche
nicht sogleich immer für „den Menschen“ schlechthin formuliert
werden
müssen. Da materiale Bestimmungen erst in einer praktischen
Reflexion
von kontingenten anthropologischen Vorstellungen, von persönlichen
Ansichten zum Gelingen des eigenen Lebens, von funktionalen
(„sachlogischen“)
Strukturen etc. unter dem Moralprinzip zustande kommen, ist in diese
Kontingenz
der Wandel zudem gewissermaßen eingebaut. Wie ich ihn lese, ist
im
übrigen diese Kontingenz und Pluralität materialer
Moralvorstellungen
auch bei Kant nicht ausgeschlossen: In der „Metaphysik der Sitten“
entwickelt
er gerade keine „materiale Wertethik“ wie Max Scheler, sondern recht
grundsätzliche,
allgemeine Pflichtformen („eigene Vollkommenheit, fremde
Glückseligkeit“)
und bindet daran dann stets in seinen „Anmerkungen“ Überlegungen
dazu,
wie wenig sich vorweg bestimmen lasse, was ein Individuum im
einzelnen
zu tun habe. Auch die Reich-der-Zwecke-Formel würde ich in diese
Richtung
als eine Formel für die Eröffnung einer dadurch aber
argumentativ
einholbar und unbeliebig gehaltenen Pluralität der
Moralvorstellungen
interpretieren.
Als
Pluralität von Gelingensvorstellungen, also eine plurale
Verfasstheit
der eudaimonistischen Optionen der Menschen, lässt dieses Konzept
zudem auch eine „Philosophie der Lebenskunst“ zu. Diese kann jedoch in
meiner Sicht nicht der einzige Bezugspunkt einer Internetethik sein.
Alle
Gelingensvorstellungen müssen sich vielmehr nochmals als moralisch
tragfähig, also als kompatibel mit dem Moralprinzip ausweisen
können,
wenn sie legitim sein sollen. Bei einer „Philosophie der Lebenskunst“
sehe
ich im übrigen das Problem, dass sie dazu neigt, verschiedene
Rationalitätsformen
miteinander zu vermengen anstatt deren Zuordnung zueinander transparent
zu machen. In Anlehnung an Kant (1974, BA 44) und Habermas (1991a)
würde
ich für praktische Vernunft gerne zwischen pragmatischer,
eudaimonistischer
und moralisch-praktischer Vernunft unterscheiden: Pragmatisch
sind
die zweckrationalen, funktional-instrumentellen Überlegungen, die
sich auf Zweck-Mittel-Relationen unter dem Erfolgsprinzip beziehen und
einen – mit Kant gesagt – empirischen Willen zugrundelegen. Eudaimonistisch
nenne ich Überlegungen, die Vorstellungen des Gelingens des
eigenen
Lebens unter dem Zielprinzip jener Zufriedenheit hervorbringen, die aus
einem im ganzen dem eigenen Wunsch und Willen zulaufenden Leben
hervorgeht. Moralisch-praktisch hingegen sind in meiner
Terminologie
nur jene
pragmatischen und eudaimonistischen Überlegungen und Kalküle,
die zusätzlich dem Universalisierbarkeitsprinzip kompatibel sind.
Diese Differenzierung wäre meines Erachtens hilfreich auch
für
eine „Philosophie der Lebenskunst“.
Wenn
Sie erlauben, möchte ich zudem zu dieser noch eine – vielleicht
etwas
kritische – Bemerkung machen. Das Sympathische einer „Philosophie der
Lebenskunst“
liegt für mich in ihrer unausgesprochenen Option für
Freiheit,
ja mehr noch sogar: in der Option für eine subjektzentrierte
Freiheit
als Entwurfs- und Entfaltungsfreiheit. Diese Option bleibt allerdings
unausgesprochen.
Gerade deswegen kann sie doppelt offen erscheinen, gewissermaßen
besonders „human“: Sie hat den Anstrich, als sei sie frei von aller
Kulturspezifität,
allen hegemonialen Implikationen der europäisch-amerikanischen
Moderne
und ihrer instrumentell-weltunterwerfenden Destruktivität sowie
den
panoptischen Fesselungstendenzen der älteren Subjektphilosophien.
Auf
dieser Linie hat die „Philosophie der Lebenskunst“ ja über die
französische Philosophie des späteren 20. Jahrhunderts ihre
(wieder
unausgesprochene) moralische Legitimität, ihren Geltungsanspruch
als
„emanzipatorisch(er)“ als die für die Zeitstimmung davor
prägenden
„linken“ (marxistischen oder kritisch-theoretischen) Konzepte gewonnen.
Außerdem schien man mit der „Philosophie der Lebenskunst“ die
zweifelhaft
gewordenen präskriptiven Ethiken und die „Moral“ im Sinne des
nietzscheanischen
„Moralin“ hinter sich lassen zu können: Lebensweltlich den
bürgerlichen
Muff der 1950er Jahre, wissenschaftlich die Diskreditierung der Moral
als
Rationalisierung (Freud) oder als repressiven Überbau, der in
Wahrheit
nur dem Kapital bzw. den Interessen der „herrschenden und besitzenden
Klasse“
dient (Marx, Kritische Theorie, 1968 etc.). An die Stelle schien die
Ästhetik
treten zu können. Und das sogar mit traditionaler Absicherung –
immerhin
finden sich, seit in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Spanien die
Frage
danach aufkommt, philosophisch immer wieder Verbindungen zwischen dem
guten
Geschmack und dem guten Leben gezogen. Wer das „savoir vivre“
sich
zu eigen macht, ist auch ein guter Mensch – ohne, dass „Moral“ noch
bemüht
werden müsste.
Aber
zum einen sind ästhetische Geltungsansprüche mitunter noch
rigider
als die moralischen. Die neueren soziologischen Forschungen zur
Lebensästhetik
zeigen das – die von Schulze (1993) empirisch erarbeiteten,
lebensästhetisch
konfigurierten Milieus finden den ihnen jeweils entgegengesetzten Stil
schlankweg „unmöglich“ und bedenken sich wechselseitig mit
verächtlichen
Blicken. Mit Blick in die Geschichte gesagt: Der höfische Anspruch
der Stilvollmacht, der vorrangigen Geltung der darin
repräsentierten
Lebensanschauung, wird nun von jedermann und jederfrau gestellt. Zum
anderen
sind ästhetische Geltungsansprüche schlecht rationalisierbar
und diskursivierbar.
Die
Legitimität eines Stils kann daher kaum
intersubjektiv
überprüft werden, Einigung auf Leitlinien für das
Handeln
über Grenzen hinweg sind auf dieser Basis schwer zu gewinnen. Ohne
solche Einigung aber scheint mir die Differenz zu different: Ein
gewisses
Set an gemeinsamen Grundorientierungen benötigen wir, wenn wir in
Fragen, die alle oder jedenfalls sehr große Gruppen betreffen, zu
Antworten kommen wollen, in denen allen Betroffenen Gerechtigkeit
widerfährt
(ein Begriff freilich, der recht klassisch ethisch ist und wohl nicht
ohne
Rückbesinnung auf Ethik lebenskunstphilosophisch rekonstruiert
werden
kann). Wenn es zudem stimmt, dass das Sympathische einer „Philosophie
der
Lebenskunst“ in ihrer unausgesprochenen subjektzentrierten
Freiheitsoption
liegt, dann stellt sich die Frage, ob man sie nicht (inklusive ihrer
Kulturspezifität)
explizit machen und ein ethisches Konzept wählen könnte, das
ohne Rückfall in die instrumentelle Vernunft und den Panoptismus
nochmals
in Besinnung auf Subjektivität und Freiheit anzusetzen versucht.
Das
ist daher der Weg, den ich vorschlagen möchte. Meines Erachtens
lässt
sich unser gemeinsames Anliegen aber darin ungeschmälert
aufbewahren.
Und um es nochmals zu sagen: Das hier argumentierte Konzept ist nur ein
Vorschlag und kann gerade auch im Netz nur als solcher präsentiert
werden. Ob es konsensfähig ist, muss sich faktisch erweisen – das
kann niemand im akademischen Entwurf vorwegnehmen, ebenso wenig, wie
die
Antwort auf die Frage, ob nicht jemand ein noch besseres Konzept
findet.
Nun würde mich natürlich abschließend interessieren, ob
Sie diesem Vorschlag generell konträr gegenüberstehen oder ob
Sie ihn für fruchtbar halten.
R.C.
Ihr Ansatz ist verlockend, um nicht zu sagen verführerisch,
denn wir stehen damit auf der sicheren Seite, nämlich auf der
Seite
der abendländischen Metaphysik auch und gerade, wenn Sie Ihre
Subjektvorstellung
als "postsubstantialistisch" auffassen, eine Vorstellung, die
spätestens
an Hegel anknüpft. Ohne Zweifel hat eine solche Vorstellung von
Freiheit
und Subjektivität den Menschen nicht nur in Europa eine
Möglichkeit
des Existierens eröffnet, wovon wir bis heute alle profitieren,
wenngleich einige mehr als andere. Dieser Ansatz hat im 20. Jahrhundert
vielfältige Varianten angenommen, darunter die Umwandlung einer
monologischen
in eine dialogische Rationalität – wiederum in verschiedenen
Formen
von Habermas über Luhmann bis Lévinas – an die Sie
anknüpfen,
wenn Sie die gegenseitige Anerkennung auf der Basis gegenseitiger
Achtung
(Universalisierungsprinzip) ansprechen. Unabhängig von der
Problematik
der philosophischen Fundierung dieses Moralprinzips sind wir uns,
glaube
ich, einig, dass seine Entstehung, Aufstellung und Deutung eine
bedeutende
kulturelle Selbstbestimmung des Menschen als Subjekt von Rechten und
Pflichten
darstellt, hinter der wir nicht können sollen, wollen wir nicht
hinter
unseren eigenen gewesenen Möglichkeiten zurückbleiben. Gerade
deshalb bleibt aber die Frage nach dem Ursprung des Sollens offen.
Das,
wovon Sie in Ihrem Ansatz ausgehen, ist, aus meiner Sicht, das
wonach
wir suchen. Natürlich hat diese Ausdrucksweise – negativ
ausgedrückt:
diese petitio principii – Augustinischen Anklang: Sed quis
te
invocat nesciens te? (Conf. I, 1) Und so wie Sie den Subjektbegriff
desubstantialisieren, so möchte ich wiederum eine Lanze für
einen
angeletischen Seinsbegriff und somit auch für eine Angel-Ethik,
keine
Engel-Ethik, brechen. Ich meine damit, dass wir immer schon die
Angerufenen
sind als diejenigen, die dem Ruf der physis – und in Zukunft
vielleicht auch der Bio-techne – folgend, zugleich
persönlich
oder namentlich zur Welt kommen. Wir sind die von unserem Sein
(verbal
verstanden) her Angerufenen und auf Antwort hin bestimmt. Wir kommen
auch
zu spät, um diesen Anruf durch uns selbst allein zu
begründen.
Daher
auch das Fremdwirkende einer jeden Sollensmaxime, womit
ich
gerade diese nicht aus einem bestehenden Sein ableiten möchten,
sondern
auch dem sich mit unserer Fähigkeit zu antworten ergebenden
ernsten
oder heiterem Spiel. So kommt uns die Freiheit der Wahl auch vor, wie
Friedrich
Schiller gegenüber Kant hervorgehoben hat. Wir können zwar
nicht
antworten, aber damit verfehlen wir uns selbst. Dass dieser Anruf uns
nicht
primär von einer jenseitigen göttlichen Macht oder von einer
kosmischen Seinsordnung, sondern primär vom anderen Menschen her
anspricht
und anrührt, ist eine bedeutsame kulturelle Selbstentdeckung und
-bestimmung,
die zwar in Europa eine bestimmte philosophische Ausformung in der
Aufklärung
angenommen hat, von anderen Kulturen und in anderen Epochen aber sowohl
gelebt als auch verschiedentlich thematisiert wurde. So
gesehen,
thematisiert die Netzethik als Angel-Ethik die Spannung zwischen dem,
was
wir über uns entdeckt und selbstbestimmt haben im Sinne eines vom
anderen Menschen ausgehenden Anrufs auf Achtung und positiver Zuwendung
gegenüber seinen konkreten materiellen Bedürfnissen und der Sorge,
um die durch die Weltvernetzung eröffneten
Möglichkeiten
des Miteinanderseins.
Dem
Ruf der techne folgend, sind wir
digitale
Kosmopoliten geworden, ohne aber aufgehört zu haben, den
Bedingungen
und dem Anruf der physis ausgesetzt zu sein. In diesem Sinne
schließe
ich mich in meinem Beitrag in diesem Band der Kritik von Bernd
Frohmann,
ebenfalls in diesem Band, an einer körperlosen Ethik des
Cyberspace
an. Wir können dann den Begriff Netzethik im Sinne eines genitivus
obiectivus und subiectivus verstehen. In der ersten
Bedeutung
meinen wir die Kritik an einer Ausformung unseres digitalen Seins, die
von den realen Nöten der Menschen absieht, anstatt zu fragen,
inwiefern
das Netz bestehende Ungerechtigkeiten zementiert und sogar vertieft
oder,
positiv ausgedrückt, inwiefern die Globalisierung den Menschen
konkrete
Chancen bietet, sich in einer pluralen und komplexen Welt ein nach
ihren
eigenen Vorstellungen und Wünschen besseres Leben zu
gestalten.
Diese Problematik wird heute vor allem unter dem Stichwort digital
divide thematisiert. Wir können von digitalem Apartheid
sprechen. Die zweite Bedeutung bezieht sich auf die Art und Weise wie
wir im Netz sind. Hier sehe ich die Chance für eine
Netzethik im
Rahmen einer Philosophie der Lebenskunst. Wenn Wilhelm Schmid immer
wieder
auf die "Gefahr einer bloßen Unterwerfung des Selbst unter die
technologischen
Bedingungen" aufmerksam macht (Schmid 1998: 136, 2000: 138), dann
ist zu fragen, inwiefern die Unterscheidung zwischen den Massenmedien
und
dem Internet ausbleibt, die vermutlich die entscheidende
Veränderung
zwischen der Massenkultur des 20. Jahrhunderts und einer sich selbst
organisierenden
Kommunikationskultur in diesem zweifellos nicht undramatisch
beginnenden
Jahrhundert bewirkt (Capurro 2000a).
Wenn
Mißtrauen und nicht
Gelassenheit
am Platz ist, dann vor allem in Bezug auf jene "Schleusenwärter
der
Information" (Schmid), die mittels einer hierarchischen Struktur (one-to-many),
eine Masse durch eine universal ausgerichtete Botschaft
neuerdings
auch durch das Internet zu erreichen und ihre Aufmerksamkeit zu fesseln
versuchen. Das Subjekt, wovon wir oben sprachen, ist ein historisches
Gebilde,
als face-to-face Diskutierender, Leser, Zuschauer oder
Zuhörer
von massenmedialen Botschaften und – als Sender und
Empfänger
im digitalen Netz. Sie haben auch zurecht hervorgehoben, dass die
moralischen
und rechtlichen Bedingungen der Massenmedien nicht eins zu eins auf das
Internet übertragbar sind, ohne damit die Chancen dieses Mediums
für
eine neue Form der Ausgestaltung unserer Freiheit aufzugeben. Das
heißt
wiederum nicht, dass wir im Internet keine rechtlichen und moralischen
Normen brauchen, die zur Bildung eines Cyberethos allmählich
führen
können.
Dabei
stehen Informationsethik und Informationsrecht vor große
Herausforderungen,
wie zum Beispiel (Capurro 2000, 1998):
-
Die
Spannung zwischen der Freiheit der Kommunikation und dem Schutz der
Privatsphäre.
Stichwort: informationelle Selbstbestimmung.
-
Die
Spannung zwischen der digitalen Manipulation von Waren und
Dienstleistungen
und dem Recht auf dem Schutz der materiellen und geistigen Arbeit.
Stichwort: copyright.
-
Die
Spannung zwischen den Informationsreichen und -armen. Stichwort:
Informationsgerechtigkeit.
-
Die
Spannung zwischen den Wirtschaftsinteressen des Informationsmarktes und
dem demokratischen Recht auf einen ungehinderten Informationszugang.
Stichwort:
Informationelle Grundversorgung.
-
Die
Spannung zwischen globalen und lokalen Informationsmärkten.
Stichwort:
"Glokalisierung" (Beck 1997)
-
Die
Spannung zwischen der einen Cyberkultur und dem Recht auf
Bewahrung
medialer Traditionen. Stichwort: Multikulturelle Mediengesellschaft.
Wenn
ich Ihre prinzipiellen Ausführungen so auf den (meinen) Weg zu
bringen
versuche, komme ich zu einer Aporie, indem das, wovon wir wissend
ausgegangen waren, eigentlich als Frage vor mir erscheint. Ein
aporetischer
Dialog ist aber keineswegs ein auswegloser, sondern ein suchender. Wir
können mit einem gewissen Erstaunen feststellen, dass es
inzwischen
eine beinah unübersichtliche Vielfalt von Foren weltweit gibt –
wovon
unser International Center for Information Ethics (ICIE) einen
bescheidenen
Beitrag zu leisten vermag –, in denen informationsethische Fragen,
unter
welchem label auch immer, erörtert und in praktisches
Handeln
umgesetzt werden. Dazu zählen nicht nur internationale Konferenzen
und Abkommen seitens der UN sowie internationalen Verbünden und
Nicht-Regierungsorganisationen
(NGOs), sondern auch viele grass roots Aktivitäten, in
denen
neue Ausformungen menschlicher Freiheit in und durch die digitale
Weltvernetzung
ausprobiert werden.
Diese gestalten sich oft als wirkungsvolle pressure
groups gegenüber den Monopolen der Hard- und
Software-Industrie.
Auf der theoretischen Ebene, da sind wir uns einig, hat das Denken um
das,
was der Anruf der Freiheit in der kategorialen Gestalt des Netzes
verspricht,
erst begonnen. Nach den konkreten Ausformungen von Freiheit zu fragen,
heißt aber zunächst, auf die schreienden Ungerechtigkeiten
in
der realen Welt zu achten, nicht zuletzt, indem wir uns fragen,
was sollen und können wir im und mittels des digitalen Netzes tun,
um eine Welt zu gestalten, die ökonomisch, militärisch,
politisch,
technisch, moralisch, religiös... zumindest weniger gewaltsam
wird. Das gemeinsame Nachdenken darüber, was wir Ethik nennen, ist
sicherlich ein schwaches Mittel. Als solches kann es aber
gerade
dazu dienen, ein pharmakon zu einer Art von Praxis zu bieten,
die
unumstößliche Vorgaben verlangt, um ihre Ziele besser
durchsetzen
zu können .