Obwohl die
Heidegger-Sekundärliteratur beinahe uferlos ist, sind jene
Kommentare selten, die einen zugleich erläuternden und kritischen
Charakter haben, ohne in Paraphrasierungen oder in die Verrechnung von
Defiziten zu verfallen. Dies trifft auch besonders für ein Werk
wie Heideggers "Sein und Zeit" (SZ) zu. Figals Untersuchung, 1987 als
Habilitationsschrift von der Universität Heidelberg angenommen,
versteht sich in diesem Sinne als "Kommentar" und nicht al
paraphrasierende "Erläuterung" zu SZ. Ein solcher Kommentar muss
zunächst, angesichts des fragmentarischen Charakters dieses
Werkes, zu einem Verhältnis mit den späteren Denkwegen
Stellung nehmen. Figal stellt sich dabei auf die Seite derjenigen
Interpreten, die Heideggers Denken einheitlich und an der Seinsfrage
orientiert verstehen. Da die neuzeitlilche Philosophie eine
entscheidende Wende in der Seinsfrage vollzieht, liegt der Gedanke
nahe, Heidegger im Rahmen der Subjektivitätsphilosophie
auszulegen. Gegenüber dieser von W. Schulz und C.F. Gethmann
vertretenen These gilt für Figal, dass Heidegger "ein
gegenüber der philosophischen Tradition neues Konzept von
Freiheit" entwickelt, das "nicht mehr durch eine Orientierung an den
Vollzügen selbst charakterisiert ist" (p. 22). Dieses neue Konzept
wird, so Figal, gerade in Zusammenhang mit der Ausarbeitung der
Seinsfrage entwickelt und bietet eine Alternative zur
subjektivitätsphilosophischen Perspektive. Die Pointe der
Heideggerschen Alternative besteht darin, dass die Frage nach der
Freiheit nicht für Personen (wie bei Kant) oder für
Verhaltensweisen (wie bei Aristoteles), sondern auch für alles
nichtdaseinsmäßige Seiende gilt. Eine solche Ausweitung hat
aber nicht, wie häufig angenommen nach der "Kehre" stattgefunden.
Die "Kehre" ist in Wahrheit eine "Umkehrung" der Fragestellung von
"Sein und Zeit" zu "Zeit und Sein", wobei Heidegger in dieser Umkehrung
den Übergang von einer nichtphilosophischen (oder
"vorontologischen") zu einer philosophischen Analyse des Daseins
vollzieht. Diese Umkehrung findet man auch, so Figal, mit Heidegger
gegen Heidegger denkend, in Platons Auseinandersetzung mit den
Sophisten im Kampf um die Bestimmung von "Richtigkeit" und "Wahrheit".
Sowohl in der Platonischen als auch in der Heideggerschen Konzeption
werden die bestimmten (ontischen) Gestalten stets vom "vollständig
Unbestimmten", Offenen, Mass-gebenden überragt, ohne dass wir uns
an einem solchen Mass wie an einem Modell beständig orientieren
könnten. Dieses Offene und Unbestimmte schwebt aber nicht
über allen Verhaltensweisen, sondern wird erst beim jeweiligen
sicheinlassen eines Verhaltens erfahren, so zwar, dass die Richtigkeit
der Massstäbe durch das "Korrektiv des Offenen" ihre Gewalt
verliert (p. 401). Diese Hinweise aus der letzten Seite der
Untersuchung zeigen, dass Figal sowohl einen Kommentar zu SZ (mit
Einbeziehung der nahestehenden Vorlesungen) als auch eine Anleitung zu
Heideggers "Denkwegen" insgesamt vorlegen will, wobei der Schwerpunkt
(zirka 330 Seiten) beim ersten Ziel liegt.
So wird also "Heideggers Ansatz zu einer Philosophie der Freiheit"
(Kapitel I) zunächst in Zusammenhang mit dem Begriff der
Phänomenologie erörtert, um anschliessend das "Dasein als
In-der-Welt-sein. Grundbestimmungen von Freiheit und Unfreiheit"
(Kapitel II) zu behandeln. Das dritte Kapitel trägt die
Überschrift: "Die Differenz von Freiheit" und gilt der Darstellung
der Existenzialien "Erschlossenheit", "Befindlichkeit", "Verstehen" und
"Rede" sowie "Uneigentlichkeit" und "Eigentlichkeit". Kapitel IV
schliesslich setzt sich mit dem Zusammenhang zwischen "Freiheit und
Sein" auseinander und führt von "Sein und Zeit" zu "Zeit und Sein".
Folgende Punkte scheinen mir in diesem ansonsten durch Klarheit und
analytische Schärfe gekennzeichneten Kommentar besonders denk- und
"frag-würdig". Zunächst die Aussparung der Grundzüge der
Leiblichkeit und Geschichtlichkeit. Man kann zwar argumentieren, dass
Heidegger selbst diese Grundzüge in SZ nicht thematisiert, aber
genau auf diese Frage (Stichwort: Neutralität des Daseins)
hätte dieser Kommentar eingehen sollen. Mehr noch: auf diese
Aussparung ist Heidegger selbst in der Vorlesung von 1928
(Gesamtausgage vol. 26, p. 171 ff.) eingegangen, was Figal, mit
Ausnahme eines knappen Hinweises auf den Zusammenhang zwischen
Daseinsneutralität und Gewissensruf (p. 235) mit keinem Wort
erwähnt. Auch der ebenfalls im Rahmen dieser Vorlesung
erörterte Problematik über "Idee und Funktion einer
Fundamentalontologie" mit dem wichtigen Hinweis auf die "Kehre" in die
"metaphysische Ontik" wird von Figal übersehen. Der rote Faden der
Seinsfrage sollte meines Erachtens nicht dazu dienen, die
vielfältigen vollzogenen und nicht vollzogenen Umkehrungen und
Um.- (Irr-) Wege dieses Denkens ("Wege - nicht Werke" lautet der
Leitspruch der Gesamtausgabe) zu verdecken. Aber auch die späteren
zerstreuten selbstkritischen Hinweise auf SZ finden in diesem Kommentar
keinen gebührenden Anklang. Die massive Weiterwirkung von SZ in
der von Medard Boss und seinen Mitstreitern unter der aktiven
Unterstützung Heideggers (weiter-)geführten "Daseinsanalyse"
wird vollständig ignoriert.
Ein zweiter "frag-würdiger" Punkt ist die an H.-G. Gadamer
anknüpfende Interpretation der Todesproblematik. Der Tod wird
dabei zugunsten des "Entwurfs des bevorstehenden und unbestimmten
Seins" heruntergespielt, so dass das Dementi, man müsse das Dasein
nciht für unsterblich halten (p.229) beinahe wie eine
Bestätigung dieser Interpretation klingt, denn die Struktur des
Sich-vorweg hat, so Figal, "eine Tendenz ins Unendliche" (p. 230).
Für Figal behält Epikur recht: "Solange wir sind, ist der Tod
nicht; wenn der Tod ist, sind wir nicht". Das Gegenteil ist aber
für Heidegger der Fall: "Solange wir sind, ist der Tod; sind wir nicht mehr,
so ist auch der Tod nicht
mehr", wie g. Condrau in Anschluss an W. Müller-Lauter betont
["Daseinsanalyse", Freiburg/Bern, 1989, p. 89]. Geburt und Tod werden
von Figal lediglich als ontisch datierbare Bestimmungen interpretiert
und nicht im Sinne eines Existenzials ("gebürtig"-sein und
"sterblich"-sein). Die Instanz, die als "Vorlaufen zum Tode" ersetzt,
ist für Figal das Gewissen. Dementsprechend sind Figals Kommentare
über die Undenkbarkeit des Todes, zumindest als Interpretation von
SZ, mehr als "frag-würdig".
Es fällt schlieslich auf, dass Figal wiederholte Vergleiche
zwischen Platon und Heidegger aufstellt. Franco Volpis 1984 erschienene
Untersuchung "Heidegger e
Aristotele" lässt keinen Zweifel darüber, wo sinnvollere
Parallelitäten zu suchen sind.
Diese kritischen Punkte sollten keineswegs die vielen aufklärenden
und vertiefenden Kommentare abwerten. Figals Erläuterungen zur
Frage des "Selbst" und des "Mitseins" rück einiges aus D.
Thomäs tausendseitigen Werk ["Die Zeit des Selbst und die Zeit
danach", Frankfurt 1990] im voraus zurecht. Figal schreibt: "Die
Erfahrung der Angst ist eine Erfahrung der Freiheit in ihrer Differenz,
und 'Dasein selbst' ist diese
Differenz ... 'Dasein selbst' bezeichnet danach die Erfahrung
der Freiheit in ihrer Differenz, bei der man als 'diese Bestimmte'
gerade fraglich wird" (p. 203). Mit dem "existenzialen Solipsismus" ist
keine Weltlosigkeit des Daseins, sondern die Verschiedenheit des
Daseins vom Verhalten gemeint. Das unumgängliche wirkliche
Verhalten zeigt sich dann als die Wirklichkeit des eigenen
Möglichseins. Mit anderen Worten, die "Vereinzelung" ist nicht die
einer bestimmten Person, sie ist nicht ontisch gemeint.
Im Schlussteil erläutert Figal die "Kehre" von "Sein und Zeit" zu
"Zeit und Sein". Er zeigt, wie Heidegger sich von den "Bindungen und
Perspektiven" von SZ befreite, indem er seine "Befangenheit", das
Unbestimmte nur vom Bestimmten aus zu thematisieren (wofür der
Titel "Metaphysik" steht) "wieder-holte". Das führte zu einer
Relativierung der Zeitlichkeitsproblematik, wie sie z.B. im Kant-Buch
weitergeführt wurde, und schliesslich zur Frage nach der "vierten
Dimension" der nicht mehr vom Dasein aus bestimmten "Zeitekstasen" im
Vortrag "Zeit und Sein". Figals Kommentar ist ein wertvoller Begleiter
für die Lektüre von SZ.
Letzte
Änderung: 2. Juli 2017
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