EINFÜHRUNG
Der
Titel
dieses Vortrags
deutet vordergründig auf eine falsche Alternative hin. Warum
sollen
die Möglichkeiten der Beratung face-to-face denen im interface
im Sinne eines Entweder/Oder gegenübergestellt werden, wo es doch
beides möglich und wohl auch sinnvoll ist? Der Titel will aber
zugleich
auf eine ethische Kontroverse hinweisen. Der Philosoph Emanuel
Lévinas
stellte nämlich in seinem epochemachenden Buch Totalität
und
Unendlichkeit (Lévinas 1987) das Verhältnis 'von
Angesicht
zu Angesicht' ("face-à-face") als das Fundament der Ethik dar.
'Das-Gesicht-des-Anderen-Wahren'
ist für Lévinas, wie Eric Mührel gezeigt hat
(Mührel
1997), die ethische Handlungsmaxime schlechthin. Dabei
erfüllt
das Antlitz, so Mührel, eine Doppelfunktion: "Einerseits lädt
es in seiner Nackheit zur Gewalt ein. Andererseits ergeht von ihm das
Gebot "Du sollst nicht töten!"" (Mührel 1997: 87).
Mit anderen
Worten, mit der Abschaffung des Antlitzes des Anderen, mit seiner Abstraktion,
erlischt zugleich die ethische Beziehung mit ihrer eigentümlichen
Asymmetrie und dem damit verknüpften und nicht weiter
begründbaren
Verbot, den Anderen nicht bloß als Mittel zu benutzen, um
mit Kant zu sprechen. Menschliche Beziehungen lassen sich aber auch
unter
das Gesetz der Symmetrie stellen. Wir sprechen dann von Gerechtigkeit,
sei es im distributiven oder im ausgleichenden Sinne. Die Suche nach
einem
gerechten Maß menschlicher Handlungen steht der maßlosen
Verpflichtung gegenüber, dem Anderen ohne Wenn und Aber in einem moralischen
Sinne gerecht zu werden. Dadurch werden die Maßstäbe des
Rechts
einer Dimension ausgesetzt, die außerhalb dieser
Sphäre
angesiedelt ist. Der Begriff der Exteriorität ist ein
Kernbegriff
der Lévinasschen Ethik (Capurro 1991). Wir haben dann mit einer
nicht aufhebbaren Spannung zwischen Recht und Moral zu tun, die
Mührel
als Spannung zwischen Verantwortung und Anerkennung auslegt. Eine ethische
Reflexion vermag aber zu zeigen, dass eine "Heroisierung des
Für-den-Anderen"
(Mührel 1997: 145) letztlich unhaltbar ist, da der Andere als
Substitut
des Absoluten gerade in seinem endlichen Menschsein verfehlt
wird.
Darin liegt, so scheint es, die notwendige Korrektur der Moral durch
politische
Gerechtigkeit im "Kampf um Anerkennung" (Honneth 1992).
Diese
gegenseitige Abgrenzung
und Ergänzung zwischen Recht und Moral stellt sowohl den
Legalismus
als auch den moralischen Fundamentalismus in Frage und hält
dadurch
die ethische Frage nach dem Maßstab des Handelns offen. Ethische
Reflexion darf sich aber wiederum nicht über Recht und Moral
setzen,
indem sie universalisierbare Handlungsmaximen wiederum zum
unantastbaren
oder kategorischen Maßstab erhebt. Ein solcher ethischer
Rigorismus
ist blind für die Legitimität gewachsener Strukturen sowie
für
die Unberechenbarkeit und Besonderheit der jeweiligen Situation. Die
teilweise
heftig geführte Diskussion um die Würde des Menschen
in
Zusammenhang mit Embryonenforschung und Präimplantationsdiagnostik
zeigt deutlich diese Spannung zwischen Recht, Moral und Ethik in
unserer
Gesellschaft.
Eine
politische
Entscheidung bedarf einer rechtlichen und
ethischen Legitimation, sie ist aber nicht mit ihnen identisch: Das
geltende
Recht kann geändert werden und eine ethische Begründung hat
einen
indikativen Charakter, der vor einer parlamentarischen
Entscheidung
liegt. Die Debatte um das von der Gentechnik geprägte Menschenbild
zeigt aber inwiefern die Perspektive auf das Menschsein sich von der
Natur
auf die Technik verschoben hat. Zwar läßt sich sagen, dass
wir
uns durch geistige und leibliche Techniken seit vielen Jahrtausenden
selbst
gestalten (Capurro 1995), aber damit verfehlen wir die eigentliche
Brisanz
der heutigen digitalen Technik mit ihrem reduktiven Anspruch,
nämlich
die menschliche Natur, und letztlich die Natur überhaupt, aus der
Sicht ihrer Digitalisierbarkeit nicht nur vor-, sondern auch
herzustellen.
Was
auf der
physischen Ebene
möglich ist, hat sein Korrelat auf der sozialen Ebene. Es ist
nämlich
unübersehbar, dass die zwischenmenschlichen Verhältnisse zu
Beginn
des 21. Jahrhunderts maßgeblich durch die Informations- und
Kommunikationstechnologien
geprägt sind. Die Frage ist dann, ob diese Medialisierung jene Abstraktion
des Antlitzes des Anderen bedeutet, die für Lévinas die
Grundlage
der ethischen Beziehung ausmacht. Mit anderen Worten: Ist die
Informationsgesellschaft
im Wesentlichen eine amoralische Gesellschaft? Antwort: Nein. Hierzu
einige
Argumente in aller Kürze. Ich meine, dass die
Gegenüberstellung
zwischen einem medialisierten und einem unmittelbaren
zwischenmenschlichen
Verhältnis insofern zu relativieren ist, als jede leibhaftige
Begegnung
wenn nicht ein medialisiertes so doch ein mediatisiertes
Verhältnis darstellt. Nicht nur das Gesicht, sondern die gesamte
Leiblichkeit
des Anderen und das jeweilige raum-zeitliche Medium, in dem wir uns
begegnen,
schaffen jene natürliche Differenz, wodurch wir uns als
unterschiedliche
Menschen wahrnehmen.
Es
sind diese sozusagen natürlichen
Medien, die das Verhältnis der Alterität und ihre
Asymmetrie
mitkonstituieren. Sie stehen aber seit vielen Jahrtausenden in
Wechselwirkung
mit den künstlichen Medien, allem voran mit der Schrift, sodann
aber
auch mit den verschiedensten Kommunikationstechniken. Wir haben, mit
anderen
Worten, keine Möglichkeit, uns unvermittelt oder rein geistig
zu begegnen. Die Frage nach der Ausgestaltung des zwischenmenschlichen
Verhältnisses ist dann eine ethische, wenn wir die
Möglichkeiten
und Grenzen unseres Miteinanderseins nicht bloß mit Bezug auf uns
selbst, unsere Wünsche und Vorstellungen, sondern auf dieses
Verhältnis
selbst stellen. Die ethische Frage stellt sich gerade weil wir
uns
vermittelt begegnen, will heißen, weil bereits unsere
Leiblichkeit
in ihrer raum-zeitlichen Bedingtheit, jene Spannung schafft, die zur
Sprengung
der egoistischen Sphäre sowohl individuell als auch sozial
führt.
Dass die Auswirkungen dieser Sprengung und die Art ihrer
Ausgestaltung
wiederum nicht trivial sind, das wissen am besten die Sozialarbeiter,
die
täglich mit den konkreten Fragen konfliktbeladener Alterität
konfrontiert sind.
Die
zwei
extremen Möglichkeiten
dieser Ausgestaltung lassen sich in Anschluß an Heideggers
Existenzialontologie
als "einspringend-beherrschende" und "vorspringend-befreiende"
Fürsorge
kennzeichnen (Heidegger 1976: § 26). Diese Möglichkeiten
bestimmen,
so der Schweizer Psychiater Medard Boss, das Verhältnis des
Psychoanalytikers
zum Analysanden, des Arztes zum Patienten und wohl auch, wir mir
scheint,
des Sozialarbeiters zu den ihm anvertrauten Menschen (Boss 1977). Das,
wofür wir uns gegenseitig freimachen, ist jene gemeinsame Welt,
die
wir auf je unterschiedliche Weise gemeinsam austragen. Das
Freisein füreinander ist immer auch ein Freisein für
die jeweils eigenen Möglichkeiten. Deshalb lautet, so
Medard
Boss, die
Leitfrage einer auf psycho-soziale Unterstützung ausgerichteten
Beziehung
nicht: "Warum?" sondern "Warum denn eigentlich nicht?" (Boss
1975,
364).
Diese
Frage zielt nicht
auf Rechfertigung und Schuld, sondern auf
Verantwortung im Sinne von Antworten-können auf jene
Möglichkeiten
des Existierens, denen wir uns aus unterschiedlichen Gründen
verschließen,
indem wir sagen: "Ist mir ja egal" , wobei es aber Grade der Offenheit
und der Abgestumpftheit gibt. Die "einspringend-beherrschende"
Fürsorge
ist dann notwendig, wenn wir dem Anderen sozusagen unsere eigene
Offenheit
leihen, damit er sich an 'Warum-nicht-Fragen' gewöhnen kann.
Schritt
für Schritt soll sich die beherrschende Fürsorge in eine
befreiende
verwandeln, um den Anderen zur Wahrnehmung seiner offenen aber stets
begrenzten
Möglichkeiten zu verhelfen. Ein Kampf um gegenseitige Anerkennung
zielt letztlich auf Unterwerfung des Anderen. Kämpfe werden durch
die Warum-Frage geleitet: 'Warum will der Andere nicht meinem Willen
folgen?'
Sie führt letztlich zu der Frage: 'Warum gibt es den Anderen
überhaupt?'
Eine Umkehrung dieses Verhältnisses vom Kampf auf Fürsorge
zielt
nicht bloß auf Anerkennung, sondern auf Hingabe zur
gegenseitigen
Freigabe. Die Warum-nicht-Frage weist auf die je eigenen
Möglichkeiten
hin, vor denen wir fliehen und deren Lösung wir letztlich vom Sieg
über den Anderen erwarten. Der Kampf um Anerkennung ist ein Kampf
im Glauben, siegen zu müssen, um anerkannt zu werden. Damit wird
aber
das uns zugleich verbindende und unterscheidende Medium in der
Sphäre
der eigenen Subjektitivät vereinnahmt und mit vielen Gründen
zugemauert. Erst eine Infragestellung dieser Gründe durch ein
geduldiges
'Warum nicht?' bewirkt eine Sprengung dieser Sphäre und schafft
den
Weg frei zu einer offenen und gemeinsamen Medialität.
Ich
will aber
hiermit keineswegs
den Unterschied zwischen dem natürlich-mediatisierten und dem
technisch-medialisierten
zwischenmenschlichen Verhältnis auflösen. Ich kritisiere
lediglich
die Gegenüberstellung eines scheinbar unvermittelten face-to-face
Verhältnisses im Sinne eines ursprünglich und authentischen
menschlichen
Verhältnisses im Gegensatz zu einem medialen Miteinander, das
wesensmäßig
mit dem Makel einer sogar moralischen Verfallsform jenes eigentlichen
Verhältnisses behaftet sein soll. Die Möglichkeiten und
Grenzen
beider Formen des Zusammenseins und ihrer vielfältigen Mischformen
müssen von Fall zu Fall und im Hinblick auf die jeweiligen Ziele
buchstabiert
und vorexerziert werden. Erst auf dieser Grundlage, so die leitende
These
dieses Beitrags, läßt sich die Komplexität einer
globalen
Gesellschaft begreifen, die nicht primär face-to-face
kommuniziert
und (hoffentlich) nicht mehr durch die Oligopole der Massendistribution
von Botschaften, allem voran des Fernsehens, sondern durch eine
Pluralisierung
der Informations- und Kommunikationsmärkte auf der Grundlage des
Internet
bestimmt ist (Capurro 2001).
Bevor
ich auf
die Frage der
sozialpädagogischen Beratung per Internet eingehe, möchte ich
über verwandte Erfahrungen mit Möglichkeiten und Grenzen des
Lehrens und Lernens per Internet berichten, mit denen ich als
Hochschullehrer
unmittelbar konfrontiert bin.
1. MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DES LEHRENS UND LERNENS
PER INTERNET
IM HOCHSCHULBEREICH
Es
fing alles
ziemlich harmlos
an, nämlich mit der Erstellung einer persönlichen
Website vor etwa vier Jahren. Ich hatte von HTML wenig Ahnung und
bat
deshalb einen Studenten, mir dabei behilflich zu sein. Die Website
bestand
aus einem kurzen Text (curriculum vitae), einem Bild und einer
Liste
meiner Veröffentlichungen. Das Internet veränderte aber in
kurzer
Zeit auch mein Verhältnis zu den Studenten. Es ging nicht mehr
darum,
Informationen wie Vorlesungsskripte oder bereits veröffentlichte
Aufsätze
zu digitalisieren und sie im Netz in Form einer digitalen Bibliothek
verfügbar zu machen, sondern Lehre und Forschung selbst in diesem
Medium zu gestalten. Es entstanden erste Versuche in Sachen virtueller
Hochschule. Neben der Ankündigung der Seminare und Vorlesungen
ergab
sich bald der Wunsch nach einer Betreuung im Netz und zwar sowohl
persönlich
als auch für die Gruppe.
Ich
startete
zunächst
mit einem Forum zu einer Vorlesung. Da während der Vorlesung, an
der
etwa einhundert Studenten teilnahmen, nur wenig Zeit für Fragen
übrig
blieb und ich auch davon ausging, dass viele Studenten sich in dieser face-to-face
Situation nicht trauten, Fragen zu stellen, schien mir das interface
in Form eines Forums eine ideale Ergänzung dazu. Ich habe aber den
Eindruck gewonnen, dass dieses Experiment gescheitert ist: Die
angebliche
Sachdiskussion war in Wahrheit nur ein Tummelplatz für alle
möglichen
Kommentare, Witze usw. Diejenigen Studenten, die an einer bestimmten
Frage
ernsthaft interessiert waren, haben mir eine persönliche Mail
zugeschickt.
Das war aber der Beginn einer immer häufiger stattfindenden
akademischen
Beratung per Internet.
Foren
und Mailing Listen
schienen mir zwei sich
ergänzende Methoden, die ich in Seminaren einsetzen könnte.
Foren
bieten nämlich die Möglichkeit, eine Diskussion zu
strukturieren
und festzuhalten. Sie haben einen informativen Charakter.
Mailing
Listen sind dynamischer und entsprechen mehr einem mündlichen
Austausch.
Inzwischen hatten die Studenten bereits im ersten Semester eine eigene
Website, so dass die Zusammenarbeit besser koordiniert werden konnte.
Ich
stellte fest, dass die Foren seltener als die Mailing Listen benutzt
wurden.
Da es sich bei den Seminarteilnehmern um eine überschaubare Menge
von in der Regel etwa fünfzehn bis zwanzig Studenten handelt, ging
ich dazu über, die Mail-Adressen der Teilnehmer unter einem
Link zu erfassen. Das ermöglicht mir und der Gruppe jederzeit und
mit wenig Mühe, sich sowohl organisatorische als auch inhaltliche
Meldungen zu schicken. Die Einrichtung einer Mailing Liste ist dann
nicht
mehr notwendig. Diese Möglichkeit der Gruppenkommunikation ist bis
heute ein Erfolg.
Da
die Seminare
oft einen
Projektcharakter haben, gibt mir das Internet die Möglichkeit, die
Fortschritte der Studenten besser zu verfolgen. Diese arbeiten allein
oder
in einer kleinen Gruppe und teilen mir und/oder der Gruppe ihre
Zwischenergebnisse
per Mail mit. Durch anklicken des jeweiligen Projekt-Links kann ich mir
den Stand der Arbeit anschauen, Tips geben usw. Alle Ergebnisse werden
am Schluß des Seminars in einer Website dargestellt falls
dies nicht schon das Projektziel selbst ist. Die Virtualisierung eines
Projektseminars ersetzt aber keineswegs das Treffen der Gruppe face-to-face.
Gerade zu Beginn eines Seminars sowie in regelmäßigen
Abständen
sind solche Treffen durch nichts zu ersetzen. Sie schaffen nicht nur
eine
besondere Gruppenzugehörigkeit, sondern dienen mir auch dazu, die
Studenten persönlich kennenzulernen.
Im
Falle eines Seminars
bei
dem
Referate im Vordergrund stehen, kehrt sich das Verhältnis zwischen
interface und face-to-face um. Dann geht es
nämlich
darum, die Fähigkeiten bei der Präsentation und Diskussion face-to-face
unter Beweis zu stellen. Eine Versuchung der Arbeit im Netz besteht
nämlich
darin, solche Fähigkeiten zu vernachlässigen, die aber im
Berufsleben
unerläßlich sind. Sie lassen sich auch nicht theoretisch
oder
virtuell lernen, sondern müssen im Medium der leibhaftigen
Anwesenheit
geübt werden. Auch hier ist darauf zu achten, dass durch den
Einsatz
von Folien, PowerPoint, Videos oder sonstigen Präsentationsmitteln
das Medium der mündlichen Rede selbst nicht zur Nebensache
wird. Die Texte der Referate werden allen Teilnehmern per Mail
zugeschickt
und in der Seminarwebsite gespeichert.
Seit
sechs
Jahren veranstalte
ich mit Unterstützung des Referats für Technik- und
Wissenschaftsethik
an den Fachhochschulen in Baden-Württemberg (RTWE)
einmal im Jahr einen öffentlichen Workshop
zur Informations- und Medienethik sowie sogenannte Studentenworkshops.
In beiden Fällen sind die Studenten inhaltlich und organisatorisch
an der Planung und Durchführung beteiligt. Das bedeutet erneut ein
Zusammenspielen von interface und face-to-face.
Für
die Organisation solcher Workshops ist das Netz inzwischen eine conditio
sine qua non. Die Studenten entwerfen die Website des Workshops
sowie
auch Plakate und Faltblätter, sie kümmern sich um
Mail-Werbung,
erstellen einen Workshop-Bericht, nehmen die Beiträge des
Workshops
per Video auf und stellen die Video-Aufnahmen im Internet zur
Verfügung,
führen Interviews mit den Teilnehmern durch, die dann im
Internet-Radio
der Hochschule gesendet werden usw. Schließlich beteiligen sie
sich
auch mit eigenen inhaltlichen Beiträgen, die vorher in der Gruppe
vorbereitet werden. Im Falle von Studentenworkshops steht das Treffen face-to-face
über ein verlängertes Wochenende in der Abgeschiedenheit
eines
schwäbischen Dorfs im Vordergrund. Hier ist die Gruppe Organisator
und Teilnehmer in einem. Wir konzentrieren uns vor allem auf die
sachliche
Diskussion sowie auf die Gruppendynamik selbst. Technische Aspekte
treten
in den Hintergrund. Dennoch wird auch diese Form des Lehrens und
Lernens
sowohl vor als auch nach dem Workshop durch die Kommunikation per Mail
sowie durch die Erstellung einer Website, in der die Referate
gespeichert
werden, flankiert.
Schließlich
möchte
ich auf eine internationale Erfahrung aufmerksam machen. Im vorigen
Jahr
veranstalteten meine US-Kollegin Martha Smith (Clarion University of
Pennsylvania,
USA) und ich ein gemeinsames Seminar in englischer Sprache. Da Frau
Smith
erst im Januar nach Deutschland reisen konnte, verlief die Vorbereitung
per interface auf der Grundlage der Blackboard-Software.
Sie stellte dort ausführliches Material zur Verfügung und bat
die Studenten, sich zu registrieren, so dass die Lehrveranstaltung
schon
zu Beginn des Semesters virtuell beginnen konnte. Der face-to-face
Anteil war eine bereichernde und für die Studenten teilweise
erschöpfende
Erfahrung zumal hier die Fremdsprache Englisch nicht in Schriftform,
sondern
auch aktiv, im Zuhören und Sich- selbst-ausdrücken,
geübt
werden musste.
Diese
und
andere Formen des
Lehrens und Lernens per Internet - ich habe zum Beispiel das chat
nicht erwähnt, da ich bisher keinen sinnvollen Einsatz dafür
finden konnte, wobei teilweise die Mails als eine Form von chat
gelten können - bedeutet für Lehrende und Lernende
Mehrarbeit,
oft bis in die Nachtstunden hinein, und am Wochenende. Man ist
buchstäblich
ständig erreichbar und eine Anfrage per Mail kann man schlecht
eine
Woche später, bei der nächsten face-to-face
Sprechstunde
beantworten.
Ich
beschäftige mich
seit schon mehr als fünfzehn Jahren mit informationsethischen
Fragen.
Als vor fünf Jahren die digitale Vernetzung durch das Internet zu
einem sozialen Phänomen wurde, haben diese Fragen täglich an
Brisanz gewonnen. Ich hatte zum ersten Mal internationale Erfahrungen
in
einem virtuellen Forum der UNESCO (VF-InfoEthics) 1998 teilgenommen und
dort auch vielfältige Kontakte von Kollegen aus aller Welt
aufgenommen.
Mein Kollege Wolfgang von Keitz drängte mich, ein internationales
virtuelles Zentrum zur Informationsethik zu gründen. Mein erster
Gedanke
war: Dokumente im Netz zu verlinken ist relativ einfach, Menschen
miteinander
in Verbindung zu bringen, sei es face-to-face oder im interface,
dagegen schwer. Ich fing zunächst mit dem Einfachen an und
organisierte
ein Seminar, um Ideen und Material zur Gestaltung einer Website zu
sammeln.
Im
Sommer 1999
beschloß
ich, einige Kollegen per Mail anzusprechen und sie zu fragen, ob sie
Interesse
hätten, an einem zu gründenden International
Center for Information Ethics (ICIE) mitzuwirken. Nachdem ich
ein
positives Echo bekam, ging ich einen Schritt weiter und erstellte die
Website.
Ich nahm zunächst etwa zwanzig Kollegen weltweit in die
Mitgliederliste
auf und bat sie, sich in die Mailing Liste einzutragen, um den
Austausch
zu beginnen. Die Website umfaßte außerdem eine
Bibliographie
und eine Virtuelle Bibliothek, wo die Mitglieder Links zu ihren im Netz
im Volltext verfügbaren Veröffentlichungen eintragen lassen
können.
Ich stellte fest, dass ähnliche Websites, von denen es weltweit
nur
drei oder vier gibt, keine communities, sondern Bibliographien
und
Link-Sammlungen waren. Das erklärt auch das große Interesse
an diesem Projekt von Anfang an. Innerhalb weniger Monate wuchs die
Zahl
der Mitglieder um das dreifache. Meine Kollegin Martha Smith, die ich
nicht
persönlich kannte und mit der ich fast täglich per Mail
korrespondierte,
bis wir uns zum ersten mal in Long Island ein Jahr später face-to-face
trafen, schlug vor, die Website an der Yale University zu spiegeln.
Barbara
Rockenbach, die an der dortigen Bibliothek arbeitet und eine Website
über
Informationsethik für die University of Pittsburgh entworfen
hatte,
stellte sich für diese Kooperation zur Verfügung. Inzwischen
entstand eine Kooperation mit dem Zentrum für Kunst und
Medientechnologie
(ZKM, Karlsruhe), das ein neues Design
der Website übernommen hat. Die Information und Diskussion in der
ICIE-community findet vorwiegend durch die Mailing Liste statt,
wenngleich ein Forum und ein Chat zur Verfügung stehen.
Ich
habe an diesem Projekt auch Studenten aktiv mitarbeiten lassen, so dass
sie Erfahrungen sowohl beim inhaltlichen Aufbau eines solchen Portals
als
auch bei der Betreuung der dabei beteiligten Personen gewinnen konnten.
2. SOZIALPÄDAGOGISCHE BERATUNG PER INTERNET
Ich
glaube, dass
einige meiner
Beratungserfahrungen im Hochschulbereich auf die
sozialpädagogische
Beratung übertragbar sind, andere wiederum nicht. Das Kernproblem
der sozialpädagogischen Beratung per Internet scheint mir das des
Vertrauens und des Datenschutzes zu sein. Auch wenn bei einer
akademischen
Beratung, wie ich sie geschildert habe, Vertrauen und Datenschutz eine
wichtige Rolle spielen, dürfte das im Falle der
sozialpädagogischen
Beratung, ähnlich wie im Falle des Artzes, Rechtsanwaltes oder
Seelsorgers,
eine noch zentralere Rolle spielen. Ich denke dabei an schriftliche
oder
multimediale Sendungen, die der sozialpädagogische Berater und
sein
Kunde austauschen, sei es per Mail, in einem Forum oder in welcher
medialen
Form auch immer. Eine Anonymisierung ist zwar vielfach technisch
möglich
und sie trägt in bestimmten Fällen zur Teillösung des
Vertrauensproblems
bei.
Das Vertrauensproblem stellt sich auf beiden Seiten, sofern sie,
einzelne
Personen oder eine Gruppe, im Netz Spuren hinterlassen, die
nicht
gelöscht werden und die gegebenenfalls gegen den einen oder
anderen
früher oder später verwendet werden könnten. Dies gilt
auch
für die klassischen Medien wie z.B. die Aufnahme eines
Telefongesprächs
aber auch für die verdeckte Aufzeichnung eines face-to-face
Gesprächs. Schließlich sollten wir bedenken, dass es
Abstufungen
von Vertrauen und Anonymität gibt, die in jeder
zwischenmenschlichen
Beziehung fließend sind und stets Chancen und Gefahren in sich
bergen.
Natürlich spielt in der sozialpädagogischen Beratung das face-to-face
Gespräch eine zentrale Rolle. Wenn aber dieses Gespräch auch
medial eingebettet ist, dann öffnen sich vielfältige
Möglichkeiten,
die behutsam und öfter, sozusagen im Schongang, zu
gestalten
und zu führen sind.
Dieser
vorsichtige Blick
auf die Medialisierung der sozialpädagogischen Beratung darf
wiederum
die vielfältigen Chancen des Internet nicht verdecken und zur
anfangs
erwähnten Dichotomie zwischen einer scheinbaren unvermittelten und
authentischen Begegnung face-to-face und einer medialisierten
Verfallsform
führen. Das gilt zunächst für das Informationsangebot.
Dabei
möchte ich zunächst auf den innerakademischen
Informationsaustausch
in diesem Bereich hinweisen, wie in der Website des Internet-Center
für Sozialarbeitswissenschaften von Eric Mührel,
Friedhelm
Ackermann und Olaf Morgenstern verwirklicht wurde (Mührel 2001).
Als
Beispiel
für praxis-orientierte
Portale im Bereich der Sozialarbeit möchte ich Das
Soziale Internet-Portal und das Portal Meta-Sozialarbeit
von Stefan Bock. Besonders hervorheben möchte ich den
Beratungsguide
für Online-Beratungen, der eine Liste von mehr als
fünfzig
kostenlosen nach verschiedenen Qualitätskriterien bewerteten
Online-Beratungsangeboten
- darunter z.B. Drogenberatung und Jugendberatung online -
enthält.
Im Portal Treffpunkt Sozialarbeit
von Christoph Kusche werden eine Fülle von Projekten
aufgeführt,
von denen ich lediglich das folgende Beispiel ausführen
möchte: I JUMP! Interkulturelles
Jugendmedienprojekt:
"ist ein Projekt der JUB - Jugendberatung der AWO Düsseldorf und
wird
vom Land NRW gefördert. Schwerpunkt unseres Projektes ist die
kreative
Medienarbeit in einer Gruppe mit Jugendlichen unterschiedlicher
Nationalitäten
unter dem besonderen Aspekt der Förderung interkultureller
Verständigung.
Auf der Website gibt es ausführliche Infos zum Projekt, die
Ergebnisse
unserer Gruppenarbeit und zahlreiche Mitmach-Angebote für
BesucherInnen
aus dem Web. Bei den meisten dieser Internetprojekte werden die
vielfältigen
Möglichkeiten der heutigen Internet-Kommunikation wie Mailing
Listen,
Foren, Chat und eigene Websites, aktiv genutzt.
Ich
vermag
nicht, diese Angebote
und ihre konkrete Auswirkung fachkundig zu beurteilen, aber mir
scheint,
dass gerade in einem Bereich in dem das face-to-face Medium auf
den ersten Blick als conditio sine qua non gilt,
vielfältige
Formen der interface-Kommunikation sich entwickeln, deren
genauer
Auswertung noch bevorsteht. Fest steht aber, wie mir scheint, die
Tatsache,
dass wir einerseits in einer medialen Kultur leben, in der face-to-face
und interface nicht gleichwertig aber wohl gleichberechtigt als
alltägliche Formen des Miteinderseins auftreten. Die
raum-zeitliche
Delokation d.h. die Enträumlichung und Entzeitlichung, die durch
die
technischen Informations- und Kommunikationsmedien möglich wird,
stellt
viele der bisherigen Erfahrungen und Kriterien einer authentischen
Begegnung
in Frage. Gleichwohl scheint mir offensichtlich, dass die neuen
Technologien
und allen voran das Internet mit den Möglichkeiten der Interaktion
und der Bildung von eigenständigen Gemeinschaften, jenseits also
der
hierarchischen Massenverteilung von Botschaften durch die Massenmedien,
neuartige Formen sowohl für die "einspringende" als auch die
"befreiende"
Fürsorge bieten. Es ist noch nicht ausgemacht, wie diese Formen
sich
konkret auswirken und wie sie sich mit dem klassischen Medium face-to-face
vernetzen. Meine eigenen Erfahrungen in Lehre und Forschung stimmen
mich
aber optimistisch, trotz der unübersehbaren Risiken der
Manipulation,
Fälschung, vorsätzlicher und/oder ungewollten
Datenmißbrauchs,
Verlust der Privatsphäre, usw.
AUSBLICK
Ich
möchte am
Schluß
nicht unerwähnt lassen, dass in einem Bereich, in dem Beratung
Chefsache
ist, nämlich in der Wirtschaft, die Führungskräfte,
trotz
des Booms der Informationstechnologien, mehr als sechs Stunden am Tag
mit face-to-face Gesprächen verbringen
(Picot/Reichwald/Wigand
2001: 116). Die Schaffung von Vertrauen im interface, sei es
innerhalb
eines Unternehmens, sei es zwischen dem Unternehmen und seinen Kunden,
ist das Kernproblem der e-economy. Das gilt auch, mutatis
mutandis, für den Bereich des Politischen, wo das Phantom der
Überwachungsgesellschaft als die Kehrseite einer elektronischen
Demokratie
erscheint, sozusagen eine Parodie jener idealen
herrschaftsfreien
Kommunikationsgemeinschaft, die weitgehend am Modell der face-to-face
Kommunikation gedacht wurde.
Was
sich sowohl
in der Wirtschaft
als auch in der Politik abzeichnet, sind die Auswirkungen einer
grundlegenden
Veränderung des kulturellen Codes auf globaler Ebene. Wir
haben,
traditionell gesprochen, mit einer Veränderung des Menschenbildes
zu tun, zu dessen Kern die digitale Vernetzung gehört. Wir sind
dabei,
nicht nur Raum und Zeit, sondern auch Geschichte und Freiheit,
Gesellschaft
und Individuum, Gesundheit und Krankheit, Kultur und Natur, Kunst und
Religion,
Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Philosophie, im Horizont der
digitalen
Technik neu zu denken. Ich spreche in diesem Zusammenhang von einer digitalen
Ontologie, d.h. von einem Gesamtentwurf des Verhältnisses des
Menschen zur Welt am Leitfaden der digitalen Weltvernetzung (Capurro
2002).
Dabei ersetzt die Netz-Metapher die Leitmetapher der Neuzeit,
nämlich
den Motor. Ein solcher Perspektivenwechsel geht nicht ohne Unsicherheit
oder, positiv ausgedrückt, Experimentierfreude vor sich. Das gilt
auch für viele liebgewordene Vorstellungen und Denkformeln, die
teilweise
zu einem leeren Gehäuse geworden sind. Die Suche nach gangbaren
Wegen
für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen am Leitfaden
des interface in der Kultur des 21. Jahrhunderts hat erst
begonnen.
Wir wollen uns aber auf keinem Fall die Freude am face-to-face
nehmen
lassen. Sie wird umso kostbarer - auch und gerade für die
sozialpädagogische
Beratung.