TEIL I: Einführung in die Ethik

Rafael Capurro

 
 
 
 

3. Systematische Aspekte 

3.1 Die Aufgabe der Ethik
3.2 Ethik als praktische Wissenschaft
3.3 Grundfragen der Ethik
3.4 Ziele und Grenzen der Ethik
3.5 Grundformen moralischer und ethischer Argumentation
3.6 Grundtypen ethischer Theorie
Übungen
Literatur

Birnbacher, Dieter, Hoerster, Norbert Hrsg.: Texte zur Ethik. dtv Wissenschaft 1993  
Gil, Thomas: Ethik. Stuttgart 1993.
Höffe, Otfried Hrsg.: Lexikon der Ethik. München 1997. 
Pieper, Annemarie: Einführung in die Ethik. Tübingen 1994. 
Williams, Bernard: Ethik und die Grenzen der Philosophie. Hamburg 1999.  
 

Philosophie-Websites 
 
  • Die Philosophie-Seiten von Dieter Köhler
  • Guide to Philosophy on the Internet von Peter Suber
  • Internationale Virtual Library: Deutsche Datenquellen - Philosophie
  • PhilNet von Stefan Müller, Georg Sommer und Jan Boddin
  • Philosophische Bücherei von Claus Oszusky
  • philosophers-today: Der Branchenführer 
  • Stanford Encyclopedia of Philosophy
  • Wiener Philosophie Server von Herbert Hrachovec 

  •  
     
     
      

    3.1. Die Aufgabe der Ethik 


    Moralische Normen bilden die Basis menschlichen Zusammenseins. Der Mensch zeichnet sich von anderen Lebewesen dadurch aus, dass er diese Normen selbst bestimmen kann.
    Die Spannung zwischen den realen Menschheitsmoralen und dem Ideal einer Menschheitsmoral prägt auch unser heutiges Dasein.   
    Moral meint nicht nur Gruppenmoral, sondern auch Berufsmoral oder Standesethos. Diese Form der Moral spielt eine große Rolle im Berufsleben. Berufsmoral meint nicht ein Katalog von Sollvorstellungen, sondern die konkreten Lebensformen nach denen sich das zwischenmenschliche Arbeitsleben orientiert.
    Es wird immer wieder der Versuch gemacht, die Komplexität menschlichen Lebens mit Hilfer einer Norm zu regeln wie etwa die "goldene Regel":  "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem anderen zu".
    Die Moral (oder besser: die Moralen) regelt das zwischenmenschliche Leben und hat somit eine ordnende Funktion. Woher bezieht aber die Moral ihre Legitimation? Die abendländische Tradition, vor allem seit der Neuzeit, gibt folgende Antwort: Aus der Freiheit. Freiheit ist somit das Prinzip auf dem die Moral gründet. Einer Regel aus moralischen Gründen zu folgen heißt, dieser Regel freiwillig zu folgen.

    Während die Moralität die Moral praktisch begründet, geht es bei der Ethik um die Reflexion über Moral und Moralität. Ethik ist also die Wissenschaft von der Moral.
    Ein häufig auftretendes Problem in Zusammenhang mit der Begründung von Moral ist die Frage des Relativismus: Die verschiedenen Moralen scheinen keinen Raum für das Prinzip der Moralität übrig zu lassen.
    Die ethische Reflexion ist angespannt zwischen zwei Polen: entweder neigt sie zum Relativismus, indem sie die verschiedenen Moralen beschreibt und sich der Begründung von Normativität enthält, oder sie tendiert zum formalen Dogmatismus und gibt den Bezug zur Komplezität des Realen auf. 

    Zusammenfassend halten wir Folgendes  fest:
      
    MORAL: im Sinne der lebendigen Traditionen einer Gruppe, Region, Nation oder Kultur   
    MORALITÄT: als die freie Grundhaltung des Gutseinwollen   
    ETHIK: als die kritische Reflexion über das Verhältnis zwischen Moral und Moralität 
    RECHT: im Sinne der institutionalisierten Prinzipien und Regeln, deren Anwendung von der staatlichen Gewalt abhängt und deren Verletzung eine   Strafe mit sich zieht.  
     
    Die Ethik hat mit kontingenten menschlichen Handlungen und somit mit einer begrenzten Handlungsfreiheit zu tun (“Faktizität”).  

    Kontingente Handlungen bedeutet, dass es eine bestimmte Art von menschlichen Handlungen gibt, die nicht notwendig (oder deterministisch) sind, sondern nur möglich. Das gibt Anlaß nicht nur zu unterschiedlichen Werten, Normen und Traditionen, sondern auch zu unterschiedlichen Formen von Konflikten sowohl innerhalb einer Tradition als auch zwischen verschiedenen Kulturen.

    Das Gebiet der Ethik ist beratender Natur. Sie berät über Normenbegründung und Normenkonflikte innerhalb und zwischen Recht und Moral.

    Ein entscheidender Durchbruch dieses beratenden Prozesses auf globaler Ebene ist die “Allgemeine Erklärung der Menschenrechte”. Diese sind nicht im Sinne einer “Supermoral” zu verstehen, sondern sie unterstehen der ethischen Reflexion in bezug auf ihre konkrete Anwendung. 
     
     
      

    3.2 Ethik als praktische Wissenschaft

    Seit Aristoteles ist die Disziplin der Ethik Teil der Praktischen Philosophie (philosophia praktike), wozu auch die Politik, oder die Wissenschaft vom sozialen Leben in der polis, und die Ökonomie, als Wissenschaft des Lebens in der häuslichen Gemeinschaft (oikos) gehören. Das Verhältnis zwischen Ethik, Politik und Ökonomie hat sich seit der Antike mehrmals grundlegend gewandelt.
    Ähnlich wie im Falle von Ethik und Politik, ist das Verhältnis von Ethik und Recht in einem stetigen Wandel begriffen. Die Vorherrschaft des Rechts in einem Rechtsstaat stellt die Ethik (und die Moral) nicht außer Kraft (Legalismus), sowenig wie die Moral als eine höhere Instanz gegenüber dem Recht aufzufassen ist (moralischer Fundamentalismus). Auch die Ethik kann keinen Vorrang gegenüber Recht und Moral für sich beanspruchen (ethischer Rigorismus).
    Die ethische Reflexion im Sinne der Frage nach Begründung moralischen Handelns bedarf einer umfassenden Grundlage über das menschliche Leben überhaupt und über die "Stellung des Menschen im Kosmos" (Max Scheler). Diese Frage nach der "Natur" des Menschen kann sowohl naturwissenschaftlich als auch philosophisch behandelt werden.
    Das Verhältnis zwischen einer "allgemeinen" und einer "angewandten" Ethik läßt sich nicht im Sinne einer einfachen Subsumption wie z.B. im Falle eines Naturphänomens, das mit Hilfe eines allgemeinen Gesetzes erklärt (und prognostiziert) werden kann,  auffassen. Der Grund dafür liegt nicht nur im Prinzip der Freiheit, sondern auch im damit zusammenhängenden Charakter der Kontingenz oder der Nicht-Notwendigkeit menschlichen Hadelns. Die Vielfalt der Möglichkeiten und die Verschiedenheit der Situationen machen eine spezifische ethische Reflexion notwendig.
     
     
     
      

    3.3 Grundfragen der Ethik

    Fragt man im Alltag nach dem konkreten Inhalt ethischer Reflexion, so findet man immer wieder folgende Bereiche: Ethik und Moral haben mit Freiheit zu tun, oder auch mit dem Ziel oder dem Sinn menschlichen Lebens und schließlich auch mit dem Guten und dem Bösen. Zu diesen drei Bereichen: Glück, Freiheit, Gut und Böse, versucht die Ethik eine Orientierung zu geben. 
    Glück ist das klassische Thema der ethischen Reflexion seit der Antike. Die Neuzeit verhielt sich zwiespältig diesem Thema gegenüber: während Kant die Frage nach dem Glück aus der Begründung von Moral ausschloß, galt Glück für den Utilitarismus als Ziel und Zweck moralischen und politischen Handelns. Unsere heutige Gesellschaft ist in vieler Hinsicht eine auf dem Vorrang des Glücks gegründete Gesellschaft. Was aber ist Glück? Wie verhält sich das Glück zum tugendhaften Handeln?
    Freiheit ist das große Thema der Neuzeit. Im Namen der Freiheit wurden Weltkriege geführt und Imperien gegründet. Menschliche Freiheit ist aber nicht absolut, sondern sie ist immer Freiheit-in-Kontext. Menschliches Handeln ist auf Möglichkeiten hin offen, die er aber weder ganz überblicken, noch ganz in ihren Folgen abschätzen, noch in ihrer Ganzheit realisieren kann. Freiheit ist zum einen "Freisein von etwas", sich also loslassen von bestimmten individuellen oder sozialen Zwängen. Zum anderen bedeutet Freiheit auch "Freisein zu etwas", sich also auf Ziele verständigen und die Mittel zur Erreichung dieser Ziele einsetzen. Freiheit befindet sich also in einer Spannung zwischen dem Willen zu autonomen Handeln und dem Zwang in bestimmten Situationen zu stehen, die der Autonomie Grenzen setzen und dazu zwingen sich "nach einem anderen" (heteronom) zu richten.
    In der abendländische Tradition hat die Reflexion über das Gute und das Böse vor allem auf der Grundalge des jüdisch-christlichen Denkens stattgefunden. Aber auch das griechische Denken, vor allem Platons "Idee des Guten", hat zur Entfaltung dieser Reflexion wesentlich beigetraben. Eine besonders heftige Reaktion auf das ethische Denken "von Gut und Böse" stellt das Denken Friedrich Nietzsches dar. Wer ist für das Gute bzw. für das Böse verantwortlich? Die Frage nach dem Ursprung des Bösen beschäftigt das theologische Denken im Sinne einer möglichen Rechtfertigung der Güte Gottes (Theodizee). Für die Neuzeit und für das moderne Denken hat diese Frage mit der Verantwortung des einzelnen Menschen zu tun


     
      

    3.4 Ziele und Grenzen der Ethik 


    Die ethische Reflexion beschäftigt sich mit den Regeln menschlichen Handelns und mit ihrer möglichen Legitimation. Ethische Reflexion ersetzt aber nicht die moralische Praxis. Die ethische Reflexion macht Menschen auch nicht moralisch. Dies geschieht ausschließlich durch die Praxis.

    Die Ethik ist auch keine Supermoral, die den Menschen einen Normenkatalog vorschreibt. Sie beschränkt sich damit, die Moral zu begründen und Optionen des Handelns darzulegen. Ethik ist somit auch keine bloße Fallsammlung (oder "Kasuistik"), auch wenn die Fallanalyse zum Bestandteil ethischer Reflexion gehört.
     
     
     
      

    3.5 Grundformen moralischer und ethischer Argumentation


    Ein Ziel der Ethik ist, über die verschiedenen Formen moralischen und ethischen Argumentierens nachzudenken. Bei den ersten geht es um die verschiedenen Bezugsrahmen, worauf die Legitimität von Handlungen beurteilt wird. Bei dem zweiten geht es um die verschiedenen Legitimationsverfahren. 

    In der Alltagspraxis wird die Rechtmäßigkeit einer geschehenen Handlung mit Bezug auf “gute Gründe” beurteilt. Pieper unterteilt solche Begründungsstrategien in sechs Klassen, nämlich:    

    1) Bezugnahme auf ein Faktum: in einem solchen Rekurs, bringt sich in der Regel eine allgemein als verbindlich anerkannte Norm zum Ausdruck. Beispiel: ‘Warum jemand einem Menschen geholfen hat?’ ‘Weil er mein Freund ist’. Ob dies der Fall ist, d.h. ob tatsächlich ein allgemeiner Konsens besteht, muß aber von Fall zu Fall geklärt werden    

    2) Bezugnahme auf Gefühle: In der Weise z.B.: “weil ich einfach nicht anders konnte und helfen mußte”. Solche Argumentationen sind nicht moralisch hinreichend, sondern es muß nach dem Werturteil gefragt werden.    

    3) Bezugnahme auf mögliche Folgen: In der Weise z.B.: “weil die Kinder darunter zu leiden hätten”. Das ist die Argumentationsform des Utilitarismus. Es ist aber die Frage, ob eine gebotene Handlung immer an das Glück der Betroffenen gebunden sein muß. Folgenüberlegungen sind zwar unabdingbar, aber für eine moralische Begründung nicht hinreichend.    

    4) Bezugnahme auf einen Moralkodex: Dabei gilt, daß die angeführte Norm von Fall zu Fall neu problematisiert werden muß. Auch ändern sich die Normen entsprechend den wechselnden Bedürfnissen.    

    5) Bezugnahme auf moralische Kompetenz: Anerkannte Personen oder Instanzen die als Autoritäten gelten, ersetzen nie die persönliche Begründungspflicht.    

    6) Bezugnahme auf das Gewissen: Das Gewissen ist aber nicht unfehlbar. Es müssen “gute Gründe” hinzukommen. 
     

    Bei der Reflexion über die Legitimation von Handlungen in bezug auf die Legitimationsverfahren handelt sich im einzelnen um folgende Methoden:   

    1. Logische Methode: demnach muß die ethische Argumentation den Regeln der Normenlogik oder Logik der Handlungsregeln (“deontische Logik” von griech. to deon - das Gesollte) entsprechen. Ein Hauptvertreter der deontischen Logik ist Georg Henrik von Wright: “Die logische Methode sagt also nicht direkt, wie gehandelt und was getan werden soll, sondern gibt an, wie man verfahren muß, um zu einem deontisch richtigen Urteil zu gelangen” (Pieper, Einführung, S. 175)   

    2. Diskursive Methode: (von lat. discurrere - einen Problemzusammenhang begrifflich-argumentativ “durchlaufen”). Auf der Basis der deontischen Logik, wird das Problem der Rechtfertigung von Normen einbezogen. Die Lösung ethischer Konflikte wird durch Beratung und Angebe von “guten Gründen” in einem praktischen Diskurs erreicht (Konsensustheorie). Vertreter der diskursiven Methode sind Paul Lorenzen, Oswald Schwemmer und Jürgen Habermas.    

    3. Dialektische Methode: sie geht auf Platon als Begründer des dialogischen Verfahrens zurück: “Der Dialog hat als eine vermittelnde Funktion, er vermittelt zwischen normativen und faktischen Ansprüchen durch ständiges argumentierendes Hin- und hergehen zwischen beiden. Dabei soll das Faktische so verändert werden, daß es dem Anspruch der Norm genügt, und die Norm soll so konkretisiert werden, daß sie als Handlungsregulativ im Faktischen wirksam wird.” (Pieper, Einführung, S. 182) 

    4. Analogische Methode: Sie geht auf Aristoteles zurück. Er bedient sich der “moralischen Klugheit” (“phronesis”), um das jeweils Gute zu ermitteln “indem sie das Gesollte als die richtige Mitte zwischen zwei Extremen bestimmt, die beide das Moralische verfehlen, insofern sie entweder unterhalb des Maßes bleiben oder über es hinausschießen und insofern Fehlformen menschlichen Verhaltens darstellen.” (Pieper, Einführung, S. 190)    

    5. Transzendentale Methode: “ist ein reduktives Verfahren, d.h. sie führt moralisches Handeln auf die konstitutiven Bedingungen seiner Möglichkeit zurück, indem sie die Genesis des Begriffs der Moralität bis zu seinem unbedingten Ursprung rekonstruiert. (...) Kant hat als erster die transzendentale Methode zum Prinzip seines Philosophierens erhoben.” (Pieper, Einführung, S. 192)    

    6. Analytische Methode: sie prüft die Richtigkeit moralisches Handeln und Urteilen durch begriffliche Zerlegung. Diese “Metaethik” analysiert die Sprache der Moral. Hauptvertreter: R.M. Hare, J.L. Austin, L. Wittgenstein    

    7. Hermeneutische Methode: (von griech. hermeneuin - auslegen, erklären) von H.-G. Gadamer in Anschluß an M. Heidegger entwickelt “erhebt die Geschichtlichkeit des Verstehens von Sinn zum Prinzip der Interpretation. Sie betont die Bedeutung der Überlieferung, durch die die Vorurteile des Interpreten ebensosehr vorgängig bestimmt sind, wie dieser sie im Sinnhorizont seiner Erwartungen je neu auslegt in sein Selbstverständnis integriert. (...) Um Sinn zu verstehen, muß man immer schon Sinnansprüche erhoben haben. Der Hermeneutik geht es um die Aufklärung der geschichtlichen Vermitteltheit des moralischen Selbstverständnisses.    
    Diesen Zusammenhang hat Martin Heidegger als den “hermeneutischen Zirkel” beschrieben (...)    

    Der hermeneutische Zirkel ist für die Ethik insofern bedeutsam, als das Sichverstehen eines Handelnden in seinem Handeln immer schon vermittelt ist durch das verstehende Nachvollziehen der Handlungen anderer. Dem muß die Ethik Rechnung tragen, indem sie sich darauf beschränkt, diesen hermeneutischen Prozeß moralischer Sinnfindung interpretierend zu deuten und damit zugleich den Handelnden über sein vorgängiges Sinnverstehen (Norm- und Wertbewußtsein) aufzuklären.” (Pieper, Einführung, S. 198-199)   


     
     
      

     3.6 Grundtypen ethischer Theorie 

    Deskriptive Theorieansätze befassen sich mit der Frage, wie die menschliche Praxis als ein empirisches Geschehen beschrieben und interpretiert werden kann.

    Normative Theorieansätze befassen sich mit der Begründung moralischer Geltungsansprüche und Normen.
     
     
      

    Übungen

    1) Unterscheiden Sie zwischen Moral, Ethik und Recht  
    2) Was ist eine kontingente Handlung?
    3) Nehmen Sie zur Relativismusproblematik in der Ethik Stellung.
    4) Was versteht man unter angewandte Ethik?
    5) Welche sind die Grundfragen der Ethik?
    6) Nennen Sie Formen moralischer Begründung und Argumentation. Wo liegen ihre jeweiligen Schwächen?

     
     
    Inhalt
    Teil I
    Teil II
     
    Homepage
     
    Lehre Forschung Veranstaltungen
    Digitale Bibliothek Veröffentlichungen Audio/Video