DIE EROTIK DES MACHO

Eine südamerikanische Lebensgeschichte 

zwischen barbarischer Zügellosigkeit und europäischer Disziplinierung


Rafael Capurro


  
 
  

Notizen zu einem Vortrag im Rahmen der Tagung "Eros, Liebe, Sexus. Menschliche Begegnung im Spiegel der Philosophie im Rahmen des "Philosophisches Festival" am 29.9.1990. Veranstalter: Philo-Sophia e.V., Osterstr. 71, 2000 Hamburg 20. In Anschluß daran fand ein Podiumsgespräch mit Dr. Steffen Graefe ("Der gespaltene Eros. Platons Trieb zur "Weisheit" 1989) statt. Weitere Vortragende waren Astrid Nettling: "Zur Geschlechterdifferenz. Schwierigkeiten der zwischengeschlechtlichen Begegnung" und Michael Eldred: "Rock 'n' Roll geht ein Bündnis mit dem Geist der Revolte ein, um das eingeschlafene Zentrum der Zivilisation endlich in Unordnung zu versetzen".



 

VORSPANN

Familiengründer Giobatta d'Alberto Capurro (Voltri 1798 - Montevideo 1872) war ein italienischer Entrepreneur, der das Patent als capitán de gran cabotaje (Kapitän zur See) vom König Vittorio Emanuele II (1820-1878) "Von Gottes Gnaden König von Sardinien, Zypern und Jerusalem, Herzog von Savoyen und Genua, Fürst von Piemont usw." im Alter von vierunzwanzig Jahren erhielt. Zunächst betreibt er Handel am Schwarzen Meer und kommt in Montevideo vermutlich um 1825, einige Jahre vor der Unabhängigkeit Uruguays (1830), an.

Er war Freimaurer, d.h. kosmopolitisch und liberal, und wird 1829 Mitglied der Masonería Oriental. Der Ausdruck Oriental bezog sich auf die Lage dieser Provinz, genannt Banda Oriental, weil östlich vom Fluß Uruguay gelegen. Im Jahre 1836 heiratet er Prudencia de Castro (1821-1888), Sproß einer spanischen Patrizierfamilie. Die Sage lautet, dass eines Tages der Vater von Prudencia ihre Tochter rief, um ihr ihren künftigen Ehemann mit dem Worten vorzustellen: "Prudencia, ich habe beschlossen, dass Du diesen Herren heiratest". Sie war fünfzehn Jahre alt. Sie hatten vier Kinder (Juan Alberto, Agustín, Luis Federico und Eduardo), wovon zwei (Juan Alberto und Luis Federico) Nachkommen hinterließen. Mein Großvater väterlicherseits, Haroldo Capurro Ruano, war ein Sohn von Luis Federico. Giuseppe Garibaldi (1807-1882), einer der Hauptprotagonisten des Risorgimento, kehrt in einem Schiff von Giobatta nach Italien zurück.

Giobatta war an mehreren Unternehmen beteiligt wie z.B. an der Wasserversorgung, an der Errichtung der Lager am Hafen, sowie eine Versicherungsgesellschaft für maritime Geschäfte. Ferner beteiligte er sich an der Gründung einer Bau- und Hypothekenbank und des Opernhauses Teatro Solís. Er war Aktionär des von italienischen Einwanderer gegründeten Ospedale Italiano Umberto Primo  sowie an der Errichtung der Uruguayischen Eisenbahngesellschaft. Der cavaliere Capurro hat ein großes Vermögen erworben und hinterließ der Stadt einen Viertel mit seinem Namen und dem schönsten Blick auf die Bucht von Montevideo.

UMWERTUNG DER KOLONIALEN WERTE

Giobatta war ein Vertreter der modernen europäischen Zivilisation, die in wenigen Jahrzehnten am Rio de la Plata eine kulturelle Umwälzung dessen vollzog, wozu in Europa Jahrhunderte brauchte. Man pflegt in der lateinamerikanischen Tradition diese kulturelle Umwälzung mit den Schlagworten Zivilisation vs. Barbarei zu kennzeichnen.

Die Historiker José Pedro Barrán, Gerardo Caetano und Teresa Porzecanski gaben eine zweibändige Studie mit dem Titel "Historias de la vida privada en el Uruguay" (Geschichte des Privatlebens in Uruguay), Band 1: "Entre la honra y el desorden 1780-1870"  (Zwischen Ehre und Unordnung) und Band 2: "El nacimiento de la intimidad 1870-1920) (Montevideo, Ed. Santillana 1996) heraus, in der sie die Umwertung der von der spanischen Kolonialzeit herstammenden Werte analysieren. Der Reichtum und die Abgewogenheit der Analysen lassen sich nicht mit wenigen Worten zusammenfassen. Dennoch kann die folgende Tabelle einen Hinweis auf die Umwertung, die sich zwischen 1800 und 1920 vollzogen hat. Die Reihenfolge impliziert keine Rangfolge. Sowohl die Barbarei als auch die Zivilisation implizieren unterschiedliche Ausformungen von Männlichkeit / Weiblichkeit sowie vom Machismo als Verfallsform der Spannung zwischen den Geschlechtern.

BARBAREI
ZIVILISATION
1800-1860
1860-1920
Verschwendung
Sparsamkeit
Spontaneität
Ordnung
Krankheit
Gesundheit
Gerüche
Geruchslosigkeit
Leib peinigen
Seele peinigen
Sinnlichkeit
Verdrängung
Mann und Frau
Mann vs. Frau
Schuldlos
Schuldgefühl
Gott in allen Dingen
Gerechtigkeitsgott
Spiel
Pünktlichkeit
Lachen
Ernst
Otium
Arbeit
Treue/Verrat
Machismo
Freiheit
Macht
Schmutz
Hygiene

In bezug auf die Vaterfigur lässt sich diese Gegenüberstellung wie folgt darstellen:
Barbarie: Respekt und Gewalt
Zivilisation: Respekt und Liebe

Die Zivilisation hat Angst vor der Sexualität. Die Frau soll deshalb beherrscht werden. Die ideale Frau ohne Begehren (vs. Nutte, Hexe) stellt die Macht des Mannes nicht in Frage. Der sexuelle Genuß ist eine Exklussivität des Mannes.

FAZIT

Disziplinieung (logos)

Solare Männlichkeit.
Ohne Sexualität.
Intoleranz, Stolz.
Dem Widerspenstigen das Daseinsrecht absprechen.
Macht haben.
Nur Fakten gelten.
Illusion der Stärke.
Priapisches Prinzip.

Bedrohungen: Feminismus, Friedensbewegung, Schwulenbewegung, Umweltbewegung, Freiheitsbewußtsein, Tierschutz, Priapisches Prinzip dem Gelächter preisgegeben.

Barbarei (eros)

Chtonischer Phallus.
Dionysos (orgiastisch): Semele, Ariadne, Aphrodite, Nymphen und Mänaden; Satyrn, Kentauren, Silenen
Männlichkeit enthält starke Elemente der Weiblichkeit.
Fühlt sich mit den Weibern auf einer Weise vertraut, die keine apollinische Männlichkeit kennt.
Fürchtet, dass ihn das Weibliche von der Bruderschaft ausschließt.
Sein Leiden überträgt sich auf die Frauen, die wahnsinnig werden.

Bedrohungen: Psychoides Unbewußtes: Grenzüberschreitungen, Einbeziehung des Gegensätzlichen, Verweiblichung.


Denk- und Lebensaufgaben:

Grenzen der nackten Sexualität prüfen.
Den Vergewaltiger in sich begegnen.
Die Verfallsformen der beiden phalloi durcharbeiten:
- die Herrschaftssucht des solaren Phallus (Machismo)
- die Gewaltsamkeit des chtonischen Phallus


Sich mit der inneren Weiblichkeit beschäftigen:
- Einsamkeit
- Gespenst des Bösen (Solar) und der Weiblichkeit (chtonisch)
- Den aufgeblasenen phallischen Stolz schlagen.
- Niemanden vorschreiben, wen er/sie lieben soll.

Bisexualität: Wenn ein Mann/eine Frau ein mehr an Vater/Mutter braucht.
Frauen sind nicht die alleinigen Tägerinnen des Eros. Der Mann hat Weib in sich. Männer sind nicht alleinige Träger des Logos

Hermes:  widersprüchlich, geht über Grenzen, setzt Grenzen. Dieb (Kühe seines Bruders Apollon): chtonisches impulsives Verhalten (Eigentum). Herme: Grenzstein: Versteinerung. Bändigung des chtonischen Phallus.

Wer nicht mit der chtonischen Unterwelt vertraut ist, kann andere nicht führen. Integration: Ich und Selbst, Spiritualität und Sinnlichkeit. Die Herrschaft des Mannes über sich selbst (enkrateia) darf nicht mit der Herrschaft über die Frau verwechselt werden (und umgekehrt). Keine Kodifizierung, sondern neue Existenzformen schaffen, in denen wir die Sexualität freier als unter dem Code des Machismus leben können.

Es geht nicht primär um die Sexualität, sondern um Formen der Macht und um den Zugang zur Wahrheit: Diätetik, Ökonomik und Erotik als Ästhetik der Existenz (M. Foucault).

Von der Asymmetrie der Partner zur Konvergenz der Liebe.

Uns Freiheit gewähren aber zugleich sie unter strengen Forderungen stellen. Die Dunkelheit (chtonischer Phallus) ist die numinose Quelle des Mannseins.

Offene Augen für die Dualität unseres Wesens.

Ein gentleman ist auch ein wildes Tier: man(n) muß nur ein Gefühl für den richtigen Moment haben, in dem er zu diesem Tier werden kann. Das ist die Integration der Schattenseite des chtonischen Phallus. Sonst gibt es nur die Auswege (Irrwege) des disziplinaren oder des barbarischen Machismus.


Letztes update: 15. April  2018

 
 
     

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