I.
Was ist Hermeneutik?
Wir
nennen den
Ertrag des
Verstehens Sinn. Sinn ergibt
sich dadurch, dass wir ein Sachverhalt
in
einem bestimmten Zusammenhang 'als' so und so auslegen. Verstehen ist
zunächst
immer
implizites Verstehen von etwas als
etwas. Der Ertrag der Auslegung
besteht
darin, dieses als
ausdrücklich zu machen. Martin Heidegger hat
in
"Sein und Zeit" diese Differenz zwischen dem unausdrücklichen
Verstehen
und der ausdrücklichen Auslegung terminologisch als Differenz
zwischen
dem hermeneutischen und dem apophantischen
Als gekennzeichnet. Eine
bestimmte
Form des apophantischen (oder expliziten) Verstehens besteht darin, das
Zu-Verstehende in
einem kausalen (im Falle eines Naturprozesses) oder in einem
motivationalen (im Falle menschlichen Handelns)
Begründungszusammenhang aufzufassen. Es waren vor
allem Platon und Aristoteles, die die methodischen Grundlagen des
wissenschaftlichen
Verstehens ('episteme') im Sinne des Erklärens aufgrund von
Ursachen und Beweisen sowie des Verstehens im Sinne der Suche nach
einer rationalen Begründung des eigenen Handelns, entwickelten.
Hermeneutik
als
Theorie des
Verstehens und Erklärens findet heute nicht nur im Medium der
unmittelbaren gesprochenen Sprache oder der (gedruckten) Schrift,
sondern vorwiegend im Kontext
der digitalen
Weltvernetzung
(Internet) statt. Das betrifft nicht nur die alltägliche
Sinnstiftung, sondern auch die
Konstitution
der Gegenstände wissenschaftlichen Forschens.
Mit anderen Worten, wir glauben etwas in seinem Sein erfaßt und
das
heißt verstanden oder erklärt zu haben, wenn wir es als
digitalisierbar
vorstellen. War es für die Neuzeit vor allem der Kontext
empirischer (körperlicher)
Sinnlichkeit der Garant für mögliche Sinnhaftigkeit und
sogar,
wie bei Kant, als Grenze der Vernunft (Begriffe ohne Anschauung sind
leer, Anschauung ohne Begriffe blind) von entscheidender Bedeutung, so
findet heute auch die
wissenschaftliche
Auslegung sinnlicher Daten weitgehend im digitalen Medium statt. Wir
können
deshalb von digitaler Hermeneutik sprechen.
II.
Hermeneutik im Kontext digitaler Weltvernetzung
Was
uns als
Botschaft oder
"Mitteilung" (N. Luhmann) und somit als Quelle der Sinnstiftung
aufgrund
eines Selektions- und Verstehensprozesses angeboten wird, steht heute
ausdrücklich
oder unausdrücklich, also auch im Falle einer unmittelbaren
sinnlichen
Anschauung, im Horizont des Digitalen. Der Kontext des Verstehens ist
somit
weder traditionell kulturalistisch, noch neuzeitlich naturalistisch,
sondern
artifiziell, genauer, digital. Die Hermeneutik kommt dadurch in die
Nähe
der Informatik und entfernt sich von
der neuzeitlichen
Theorie des Bewußtseins als Quelle von Sinn. Die klassischen
Fragen
von Sinnbrüchen, die zum Beispiel dem Bibelausleger dazu
führten,
hinter dem wörtlichen Sinn einen allegorischen, moralischen oder
anagogischen
Sinn zu suchen, stellt sich heute so dar, dass kontrafaktisch einem
Sender
einen Sinn unterstellt wird, der u.U. das Problem des Verstehens einer
bestimmten (digitalen) Sendung - von den täglichen Nachrichten
bis
hin zu den Miriaden von e-Mails - zumindest teilweise erklärt,
und wenn
nicht aus ökonomischem Kalkül, vielleicht aus Spaß
oder Bösartigkeit.
Das
ethische
Prinzip
der wohlwollenden Interpretation ('principle of charity')
wird in einer digital-vernetzten
Weltgesellschaft von einem grundlegenden Mißtrauen unterwandert,
zumal in diesem Medium Verstehen und Handeln fließend ineinader
übergehen (können). Interpretieren ist in diesem
Kontext immer (potentielles)
Handeln. Die
Beherrschung der Sprachen
des Netzes, sowie der verschiedenen Formen der Mitteilung bildet dabei
eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für das Gelingen
einer Interpretation bzw. einer Handlung und umgekehrt. Das Senden
einer Botschaft unter
diesen
Bedingungen, muß davon ausgehen, dass ihr Sinn sich im Kontext
einer
rekursiven und nicht überschaubaren Vernetzung ereignet.
Mögliche
Adressaten von digitalen Botschaften sind die potentiellen Vielen,
auch wenn es sich anscheinend um eine one-to-one
e-Mail-Kommunikation
handelt. Die Metapher des hermeneutischen Zirkels mutiert in die des
hermeneutischen Netzes.
Nicht
a
priori definierbare Kontexte können den Sinn einer Botschaft
theoretisch und praktisch beeinflußen. Das war schon im Falle der
mündlichen und schriftlichen sowie insbesondere der gedruckten
Botschaften
der Fall. Spätestens
seit Platon
haben wir gelernt, dass die Schrift gegenüber dem lebendigen
Dialog den Sinn einer Botschaft wesentlich
beeinflußt, denn die Schrift kann sich nicht "wehren". ihr
"Vater", so Platon im Dialog "Phaidros" (274c ff), ist abwesend. Diese
Einsicht gilt aber um so mehr und in
verstärkter Form, wenn wir mit dem
digitalen
Medium zu tun haben. Die Faktizität des Netzes, vor allem im
Hinblick auf solche Eigenschaften wie globale Distribution,
Interaktivität, Veränderbarkeit usw., bedingt das, was als
Sinn theoretisch und praktisch gelten kann.
Die Hermeneutik
des "faktischen Lebens" (Heidegger) mutiert zur Netzhermeneutik in der
die Interessen
der "Hermenautiker" (F. Kittler) sich im Spielraum digitalen Handelns
selbst bestimmen und von
anderen mitbestimmt werden.
Das hat Auswirkungen auf die Formen des (Mit-anderen-)Teilens von Raum
und Zeit. Netzraum
und
Netzzeit bedingen die Existenz von Individuen und
Gesellschaften.
Ökonomische und politische Macht sind mehr denn je Netzmacht.
Politische Ökonomie und Netzhermeneutik sind nicht abkoppelbar.
III.
Betriebswirtschaftliche Hermeneutik
Ansätze
zu
einer betriebswirtschaftlichen Hermeneutik liegen
bereits vor (Nonaka/Takeuchi 1997, Probst
et al. 1999, Von Krogh et al. 2000). Sie betreffen Fragen des
impliziten/expliziten
Wissens sowie der Wissensschaffung im Unternehmen. Auch und gerade wenn
diese Ansätze sich von der Technikgläubigkeit der
IT-Gründerjahre
distanzieren - indem sie zum Beispiel die naive Vorstellung
kritisieren,
dass die Informationsprobleme eine Unternehmens mit der
Einführung
moderner Informationstechnik gelöst wären - und vielfach die
Vorteile von face-to-face
Gesprächen hervorheben, lassen sich diese
Überlegungen nur in einer Situation verstehen, in der
IT-Kommunikation
- vom Internetportal, über Intranets bis hin zum täglichen
e-Mail - zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist.
Die
Frage nach
dem ökonomischen Erfolg des Handelns eines Unternehmens,
hängt entscheidend
davon ab, inwieweit das Unternehmen sich selbst und seine Umwelt
explizit reflektiert. Eine betriebswirtschaftliche
Hermeneutik
als Lehre vom Verstehen betriebswirtschaftlichen Handelns hat heute die
Aufgabe diese Reflexion unter den Voraussetzungen der digitalen
Weltvernetzung zu vollziehen. In Analogie zur juristischen Hermeneutik,
die sich mit der Interpretation bzw. Applikation von Gesetzen
befaßt, fragt die betriebswirtschaftliche Hermeneutik, inwiefern
digitalisiertes bzw. digitalisierbares Wissensprozesse für die
Ziele des Unternehmens situationsgerecht eingesetzt werden können.
Daraus ergeben sich die Fragen nach Wissensidentifikation,
Wissenserwerb,
Wissensentwicklung, Wissens(ver)- teilung, Wissensnuztung,
Wissensbewahrung
und Wissensbewertung (Bausteine des Wissensmanagement nach Probst et
al.), die Gegenstand des heutigen Wissensmanagements sind.
Fazit
Ziel
der
betriebswirtschaftlichen
Hermeneutik ist die Reflexion über die Bedingungen des Verstehens
im Kontext unternehmerischen Handelns. Die Kernfragen lauten:
- Welches
Wissen
besitzt das
Unternehmen?
- Wer
kann
sich
dieses Wissen aneignen?
- Wie
soll
das
geschehen?
Diese
Fragen
lassen sich auf
die Frage: Was ist überhaupt unter 'Wissen' im Kontext eines
Unternehmens
zu verstehen? zurückführen. Oder anders ausgedrückt:
Welches Wissen macht -- unternehmerisch gedacht -- Sinn?