I. DIGITALER HUMANISMUS
Ich lese
Arthur Kroker: "Digital Humanism. The Processed World of Marshall
McLuhan"
in der Internet-Version (Kroker). Die Medien sind Erweiterungen
("extensions")
des Menschen. Die Fusion von Technik und Biologie läßt uns
aber
ratlos. Denn bisher glaubten wir, selbst die Spitze der Evolution zu
sein.
Wir merken aber täglich, wie die Technobiologie auf uns wirkt und
uns transformiert. Die artifizielle Erweiterung unserer sinnlichen und
geistigen Vermögen strahlt auf uns zurück. Der Katholik
McLuhan
war keine lamentierende protestantische Seele. Er erkannte aber die
Ambivalenz
der Medien. Als schöpferische Erweiterung unseres Selbst und als
ihre
Verselbständigung in Form eines technischen evolutionären
Prinzips.
Die Wahrnehmung verselbständigt sich in den visuellen Medien, das
Gehirn im Computer. Angesichts dieser Verselbständigung schlagen
wir
Alarm, setzen uns zur Wehr und - sind gestreßt. Wir begreifen
nicht,
was mit uns geschieht. Was uns schöpferisch nützt,
erschöpft
uns zugleich. Und wie bei einer Krankheit - denn für McLuhan ist
die
Theorie der Medien eng mit der Theorie der Krankheiten verbunden -
führt
der Streß zur Amputation oder zur Isolierung des jeweiligen
Organs.
Wie
aber ließe sich das Gleichgewicht wiederherstellen? Denn das, was
innen war, ist jetzt außen, ausgesetzt, und das, was außen
war, unser Leib, befindet sich innerhalb einer weltumspannenden
Computervernetzung,
des Cyberspace, wie wir heute, dreißig Jahre nach "Understanding
Media", sagen (McLuhan 1964). Soweit die Diagnose. McLuhans Therapie
der
schöpferischen Einbildungskraft ("creative imagination") stellt
sich
als Alternative gegenüber einer uns verblendenden Nichtwahrnehmung
der Chancen, die das neue elektronische Paradigma mit sich bringt, dar.
Wo liegen aber die Grenzen einer solchen Therapie, die nach der
Vernunft
in den Medien sucht, der Hegelschen Suche nach der Vernunft in der
Geschichte
nicht ganz unähnlich? Kroker hebt zwei Aspekte hervor:
Nämlich
das von McLuhan unberücksichtigte Verhältnis von Technologie
und
Ökonomie und den von ihm überschätzten technologisch zu
bewirkenden Universalismus. Die Großprojekte der Tycoons der
Medien-
und Computerbranche lassen auf der einen Seite keinen Zweifel
darüber,
wer über unsere veräußerten Organe und Vermögen
entscheidend
mitbestimmt. Auf der anderen Seite sind die Grenzen eines naiven
technologischen
Universalismus inzwischen deutlicher sichtbar. Wir sind uns der
Gefahren
des kulturellen Kolonialismus, der Verflachung und
Vergleichgültigung
aller messages in der Einheitsbrühe der
Multimedialität,
des Verlusts des Reichtums unterschiedlicher symbolischer Welten und
vor
allem der nicht aufhebbaren Spannung zwischen der Realität und
ihrer
Simulation bewußter.
Dass
eine globale Vernetzung die Zeit aufheben und die Welt mit der
Pfingststimmung
einer global village vereinen wird, ist nicht nur eine
säkularisierte
Informationsphantasie, sondern sie übersieht die positive Seite
der
Interkulturalität und die damit zusammenhängende heilsame
Ernüchterung
bezüglich jeglicher Art von informationellen Heilsutopien. Trotz
Lichtgeschwindigkeit und der forcierten Anstrengungen beim Bau von
Datenautobahnen
ist nicht zu erwarten, dass so etwas wie eine gottähnliche
Gleichzeitigkeit
und eine bisher nur kontrafaktisch postulierte ideale (idealisierte)
Kommunikationsgemeinschaft
als Epiphänomen aus dieser Vernetzung hervorgeht. Zeit und Raum
verschwinden
nicht mit der Lichtgeschwindigkeit der Kommunikationstechnik, wie Paul
Virilio befürchtet (Virilio 1992), sondern wir können neue
Formen
unseres In-der-Zeit- und Im-Raum-seins gestalten, allerdings auf der
Basis
von nur teilweise beherrschbaren ökonomischen, kulturellen und und
technischen Bedingungen. Auch dies sehe ich als eine positive
Einschränkung
unseres Gestaltungswillens (Capurro 1995).
II.
VOM MYTHOS BIBLIOTHEK ZUM MYTHOS INFORMATION?
Die
Überschreitung
der eigenen Lokalität durch den Sprung in die Fluten der Netze hat
nichts Pfingstähnliches, sondern sie ist eine unter Umständen
kostspielige Zeitreise, die uns die Arbeit der lokalen Sammlung,
Verdichtung
und Umwandlung der meistens zunächst auf Verdacht vorselektierten
Informationen keineswegs abnimmt. Diese lokale Sammlung verstehe ich
sowohl
im Sinne einer persönlichen Selektion als auch im institutionellen
Sinne, wie zum Beispiel beim bibliothekarischen Sammlungsauftrag, der
sich
jetzt auf die Netze im Sinne eines Zugangsauftrags ausweitet. Der
Mythos
Bibliothek, die Vorstellung, das Weltwissen an einem Ort sammeln zu
können,
sollte aber nicht durch den Mythos Information, das heißt durch
die
Vorstellung, alles Wissen in einem virtuellen Hier und Jetzt
verfügbar
zu machen, ersetzt werden (Capurro 1996). Demgegenüber gilt, dass
die Bibliotheken Auskünfte über ihre Bestände und ihre
Dienste
mittels Internet verbreiten sollten, und umgekehrt sollte das vernetzte
Informationsangebot über öffentliche Bibliotheken lokal
zugänglich
gemacht werden, um den Grundsatz der Grundversorgung einer
demokratischen
Öffentlichkeit unter den Bedingungen von Cyberspace zu
gewährleisten.
Der
Vergleich mit dem Straßenverkehr ist vielleicht hilfreich, um das
Verhältnis zwischen Bibliotheken und Cyberspace zu erläutern.
Die Zunahme des motorisierten Verkehrs hat den Sinn von
Fußgängerzonen
deutlich werden lassen. Bibliotheken sind gewissermaßen
informationelle
Fußgängerzonen, aber Fußgängerzonen leben
letztlich
von den Nah- und Fernanschlüssen der Stadt, wozu sie gehören.
Mit anderen Worten, es wäre fatal, Bibliotheken und Cyberspace
gegeneinander
auszuspielen. Lokale öffentliche informationelle Räume werden
gerade vor dem Hintergrund des Cyberspace immer kostbarer im doppelten
Sinne des Wortes. Dieses Verhältnis stellt eine Herausforderung
sowohl
für Recht und Politik als auch für das kulturelle Leben
insgesamt
dar.
III.
DAS MENSCHENRECHT AUF KOMMUNIKATIONSFREIHEIT IM CYBERSPACE
Dass
die
bibliothekarische lokale Raum-Zeit-Ordnung ihren Vorrang teilweise
verliert
und den Charakter des Peripheren gegenüber dem globalen Cyberspace
einnimmt, läßt die Frage nach einer neuen weltweiten,
nach-Gutenbergschen
Spaltung zwischen Informationsarmen und -reichen entstehen. Wir
brauchen,
im Anklang und als Konkretisierung des Menschenrechts auf
Informationsfreiheit,
eine Proklamation des Menschenrechts auf Kommunikationsfreiheit im
Cyberspace.
Man kann sagen, dass erst durch eine allgemeine physische und geistige
Mobilität, die durch unterschiedliche Kulturtechniken (Rad,
Schrift,
Schiffahrt, Drucktechnik, Elektrizität, motorisierter Verkehr,
Luftfahrt,
Rundfunk, Telefon, Film, Fernsehen, Computer...) immer umfassender
wurde,
die Zusammengehörigkeit unterschiedlicher Ethnien und die
Vorstellung
eines allen Menschen gemeinsamen Raumes und einer gemeinsamen
Geschichte
konkret wurden. Die Erfahrung der globalen Vernetzung im Cyberspace ist
nicht weniger entscheidend für die Ermöglichung dieses
Zusammengehörigkeitsgefühls
als der Blick auf unseren blauen Planeten vom Mond aus. Und dennoch
stellen
solche technischen Fortschritte nicht zugleich die hinreichende
Bedingung
für eine Versittlichung der Menschheit dar. Sie bleiben
ambivalent,
denn sie scheinen etwas zu versprechen, was sie aber nicht halten
können.
Ein Telefongespräch kann eine Freundschaft beenden, es kann aber
auch
ein Menschenleben retten. Der Blick aus dem All kann kosmische
Gefühle
entstehen lassen, er kann aber auch totalitäre Phantasien
nähren.
Die Atombombe ist das negative Beispiel für eine
Technologie,
die die Menschheit nur im Horizont ihrer Vernichtung zu einigen vermag.
Das
Zeitalter der Aufklärung brachte das Ideal einer zensurfreien
wissenschaftlichen
Mitteilung auf der Basis der Drucktechnik hervor. So macht es für
Kant den Unterschied zwischen dem "öffentlichen" gegenüber
dem
"privaten Gebrauch" der Vernunft aus, ob jemand als Gelehrter seine
gedruckten
Schriften zensurfrei einer potentiell unbeschränkten "Leserwelt"
der
kritischen Beurteilung zur Verfügung stellt, oder ob seine
Äußerungen
durch die Vorgaben eines kirchlichen, politischen oder
militärischen
Amtes von vornherein eingeschränkt (deshalb "privat") sind. Im
ersten
Fall ist zusätzlich entscheidend, dass das Medium des Gedruckten
eingesetzt
wird, da sonst keine potentielle (!) Universalität erreicht wird
(Capurro
1995). Das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung ist seit
der Aufklärung eng mit der Drucktechnik gedacht und auch
verwirklicht
worden, wie am Beispiel der Pressefreiheit sowie der öffentlich
zugänglichen
Bibliotheken ersichtlich. Wir brauchen eine entsprechende
Gesetzesnovellierung
des Verständnisses dieses Menschenrechtes im Zeitalter der
elektronischen
Weltvernetzung.
Es
ist schließlich die Frage, ob und inwieweit die kulturelle
Bedeutung
des Buches durch die neuen Medien verdrängt oder, wie schon in
manchen
Fällen, ersetzt wird. Auch der Papyrus war zunächst dem
Pergament,
dem Stein und den Tontäfelchen in vieler Hinsicht überlegen,
was aber nicht daran hinderte, dass bis zur Erfindung des Buchdrucks
das
Pergament aufgrund seiner Robustheit den Vorzug behielt. Man sieht,
dass
die Wahl eines Mediums mit der Kultur eines ganzen Zeitalters
zusammenhängt.
Eine auf die Permanenz eines ewigen Textes bezogene kirchliche Praxis
hatte
andere informationelle Bedürfnisse als eine auf technische und
wissenschaftliche
Veränderungen sowie auf marktwirtschaftliche Universalität
ausgerichtete
Weltzivilisation.
IV.
VERNETZTE UNSTERBLICHKEIT
Mein
Navigieren
im Internet hat mit einer Net-Search-Suche über "media ethics"
begonnen
und dauert drei Abendstunden. Zunächst sind die Übertragungen
etwas zögerlich. Bereits beim ersten Menü erscheinen
vielfältige
Links. Ich versuche Schritt für Schritt vorzugehen, komme aber
gleich
vom Hundertsten ins Tausendste und bin lost in the net. So
kehre
ich also zum Anfang zurück und speichere des späteren
Überblicks
halber die URL-Adressen. Dann fange ich wieder von vorne an und zwar
mit
einem viel versprechenden Link, der folgende Überschrift
trägt:
"Principia Cybernetica" von Francis Heylighen, Senior Researcher des
Belgian
National Fund for Scientific Research und Valentin Turchin,
Informatik-Professor
an der City University in New York (Heylighen/Turchin 2002). Die
Autoren
gehen gleich in medias res, nämlich auf die Frage nach der
vernetzten Unsterblichkeit ein!
Ihrer
Meinung nach befinden wir uns durch die neuen Informationstechnologien
im Übergang zu einer höheren Evolutionsstufe, wodurch ein
Superwesen
("superbeing" oder "metabeing") uns so etwas wie eine kybernetische
Unsterblichkeit
bieten kann und zwar aufgrund unserer Integration in elektronischen
Netzwerken.
Sie geben zu, dass dabei das Problem einer Versöhnung zwischen der
individuellen, der sozialen und der planetarischen Ebene offen ist. Die
höchste Fähigkeit des Menschen besteht ihrer Ansicht nach in
unserer Kontrolle über die höchsten Ziele, nämlich
über
den Sinn des Lebens, über unsere Ethik also. Diese Ziele lassen
sich
nicht von der natürlichen Evolution ableiten, bemerken sie in
kritischer
Distanz gegenüber dem Fehlschluß einer naturalistischen
Einstellung.
Das führt zu der bekannten Vielfalt von ethischen Ansätzen,
deren
gemeinsamer Nenner aber der Wille zur Unsterblichkeit, eine Fortsetzung
des animalischen Willens zum Leben, ist. Dieser Wille zur
Unsterblichkeit
ist aber letztlich Sache der freien und schöpferischen
Entscheidung
und nicht der rationalen Rechtfertigung.
Die
kybernetische Unsterblichkeit unterscheidet sich von der metaphysischen
Unsterblichkeit, die von der wissenschaftlichen Kritik in Frage
gestellt
wurde. Während jene sich in einer neuen Form organisierter Materie
zu verwirklichen sucht, verliert sich die letztere in rein geistigen
Abstraktionen.
Gleichzeitig wird betont, dass die kybernetische Unsterblichkeit ein
Überleben
kognitiver Inhalte ermöglichen soll, obwohl wir uns dies heute nur
sehr vage vorstellen können. Eine unmittelbare Verbindung unseres
Nervensystems mit einer Maschine würde zum Beispiel bedeuten, dass
der Tod eines einzelnen Individuums nicht zugleich der Tod des gesamten
Systems ist. Wir wären in Metasysteme integriert, wobei offen
bleibt,
ob diese wiederum als eine eigene Individualität (ein "Metawesen")
oder als eine Gemeinschaft von Einzelwesen ("Superwesen") aufzufassen
wären.
Letzteres scheint für die Verfasser eher der Fall zu sein, wobei
nicht
alle Menschen sich für eine solche Integration entscheiden
müßten.
Aber auch eine Teilintegration bildet für Heylighen und Turchin
die
Voraussetzung für die Herrschaft des Menschen im All! Dieses Thema
wird dann in weiteren Links ausgeführt. Das World Wide Web ist
eine
Vorstufe zu einem "Supergehirn". Bisher findet eine sehr mühsame
Verbindung
zwischen unserem internen und dem externen Gehirn statt. Diese
Verbindung
könnte aber zum Beispiel mit Hilfe von Sensoren, die unsere
Gedanken
direkt, ohne Hilfe von Bildschirm und Tastatur, ans System weitergeben,
verringert werden. Wir würden dann selbst Web-Knoten werden.
Ich
unterbreche diese techno-metaphysischen Spekulationen, die sehr stark
nach
jener religiös-metaphysischen Utopie schmecken, die sie durch eine
angebliche technische Konkretheit zu überbieten glauben. Man lese
aber erneut Teilhard de Chardin zum Beispiel, und man wird dort eine
keineswegs
abstrakte oder metaphysische Vorstellung kosmischer Verbundenheit
finden.
Demgegenüber muten die "Principia Cybernetica" eindeutig gnostisch
an. Man findet sie in viel höherer literarischen Qualität bei
Stanislaw Lem in seiner "Summa technologiae" sowie im Roman "Also
sprach
Golem" vor (Lem 1982, 1984).
V.
KOMMUNIKATIONSKOMPENSATION
Wenn
wir
auf der einen Seite auf die Rückstrahlung der
Informationstechnologien
mit dem Hang zu Utopischen reagieren, dann besteht auch eine umgekehrte
kompensatorische Möglichkeit in der Betonung vom Gegenteil dessen,
was diese Technologien zu überbieten scheinen. Der Philosoph Odo
Marquard,
dem der Gedanke der Kompensation ein Schlüsselbegriff ist, hat
dies
in Zusammenhang mit unserer Illusionsbereitschaft gegenüber dem
von
Hermann Lübbe oder auch von Paul Virilio hervorgehobenen
Phänomen
der Beschleunigung in unserer Kultur analysiert (Marquard 1990). Ich
möchte
seine Gedanken hier folgendermaßen in bezug auf unsere
informationellen
und kommunikativen Utopien weiterführen. Unser nicht nur
mediologisches
Illusionsproblem besteht nämlich darin, dass der Illusionsgehalt
der
menschlichen Kommunikation mit moderner Kommunikationstechnik zunimmt.
Die menschliche Isolation scheint im Cyberspace aufgehoben zu sein.
Sodann
aber sieht es so aus, als ob unter Kommunikation nichts anderes als
Kommunikationstechnik
verstanden werden soll. Die tieferen Dimensionen menschlicher
Kommunikation
bleiben auf der Strecke, da sie ein schwieriges Unterfangen sind - und
bleiben. Damit wächst aber die Illusionsbereitschaft. Was aber wie
Therapie ausschaut, kann als Krankheitssymptom verstanden werden.
Schon
Platon war die Spannung zwischen dem lebendigen Logos und der Schrift
ein
zentrales Problem. Seine Schriftkritik läßt sich, gegen den
Strich gelesen, als eine Erinnerung an die notwendige kompensatorische
Funktion des lebendigen Gesprächs im einbrechenden Zeitalter der
Schrift
verstehen. Wir befinden uns paradoxerweise in der umgekehrten
Situation.
Jenes Medium, nämlich die globale Vernetzung, das sich
vordergründig
als ein schriftliches ausgibt, hebt in Wahrheit den bleibenden
Charakter
der Schrift auf und nimmt die Attribute der Oralität an. Das gilt
vor allem für die Metapher der Vernetzung selbst, denn, was kann
man
sich als ein besseres Bild für menschliche Vernetzung vorstellen,
als einen lebendigen Dialog, bei dem die Teilnehmer sich gegenseitig
beeinflussen,
unterbrechen, durcheinander, nebeneinander und gegeneinander reden, so
dass nur schwer die Autorschaft eines Gedankens, geschweige denn eine
originäre,
unwandelbare Formulierung auszumachen ist, denn letztlich kommt es
nicht
darauf an. Wenn der offizielle Sinn der Kommunikationstechnik die
globale
schriftliche und orale Vernetzung ist, dann gilt, dass wir einen
kompensatorischen
Bedarf für das Abgetrennte, Unvernetzte, Insularische haben.
VI.
ETHIK IM CYBERSPACE
Ethik
im Cyberspace - das bedeutet unser Leben lokal und global so gestalten,
dass subversive Praktiken sowohl auf verkrustete Isolationsstrukturen
als
auch auf totalitäre Kommunikationsutopien im doppelten Sinne des
Wortes
'anstößig' wirken. Theoretisch müßten sie durch
eine
philosophische Anthropologie begleitet werden, in deren Mitte eine
Reflexion
über Technik, Medien und Kultur steht. Ansätze dazu findet
man
zum Beispiel bei Ernst Cassirers Begriff der "symbolischen Formen"
(Cassirer
1994) sowie bei Helmuth Plessner (1982). Kultur im Sinne von Arbeit des
Menschen an sich selbst (cultura animi) bedeutet nicht die
gespenstische
Formung eines inneren Phantoms, sondern die Gestaltung unserer
"exzentrischen
Positionalität" (Plessner), oder, mit anderen Worten, unserer
evolutionär
offenen Existenz. Selbstgestaltung als Weltgestaltung findet vor dem
Hintergrund
einer Unbestimmtheit statt, wodurch alle unsere Formungen den Stempel
der
Kontingenz oder Vorläufigkeit in sich tragen. Was wir tun, tun wir
aber nicht nur vor einem Horizont offener Möglichkeiten, sondern
auch
in Gemeinschaft. Ein weltoffener dialogischer Konstruktivismus, so wie
ihn zum Beispiel Heinz von Foerster (1985) und Christiane Floyd (Floyd
et al. 1992) vertreten, ist der Antipode eines solipsistischen
Zerebralismus
im Sinne von Weltgestaltung als Gehirnkonstruktion.
Ethisches
Können, so der konstruktivistische Biologe Francisco Varela, ist
aber
nicht gleichzusetzen mit reflexiver Normenbegründung, sondern
betrifft
das gesamte leiblich-geistige Verhalten unseres In-der-Welt-seins und
läßt
sich nur anhand von entsprechenden Praktiken des Loslassens lernen
(Varela
1994). So dienen zum Beispiel Zen-Praktiken dazu, uns jener
Unbestimmtheit
oder Leere zu öffnen und uns von festgelegten Zielen zu
dezentrieren,
so dass wir uns dann gelassen(er) verhalten können. Wilhelm Kamlah
spricht vom "Gebot der Gelöstheit" (Kamlah 1973). Die Techniken,
wodurch
wir uns in diese Dimension der Offenheit einüben, sind immer
schon,
wie Michel Foucault (1993) gezeigt hat, in einer Spannung zu sehen mit
jenen Techniken, wodurch wir Stoffe transformieren, sowie mit denen,
wodurch
wir unsere symbolischen Welten semiotisch austauschen, mit den
Informations-
und Kommunikationstechnologien also (Capurro 1995). Solche Praktiken
der
Lebensformung machten den eigentlichen Sinn der antiken Philosophie
aus,
wie Pierre Hadot gezeigt hat (Hadot 1991). Vor diesem Hintergrund weist
der Titel 'Ethik im Cyberspace' auf die Frage: "Wie ist
(philosophisches)
Leben im Informationszeitalter möglich?" (Capurro 1995).
Nicht
weniger wichtig und gleichsam in Spannung zu Varelas ethischem
Können
ist die Kultivierung des universalen ethischen Blickes, des "Blickes
von
nirgendwo" ("view from nowhere") (Nagl 1992), der aber untrennbar
bleibt
vom Blick 'from now-here'! Ich denke dabei konkret an die
möglichen
Funktionen einer UN-Informationsagentur (Capurro 1996), aber auch an
das
Internet im Sinne einer soziotechnischen universalen Praxis, die zwar
kein
Pfingstwunder mit sich bringt, die in uns aber das Gefühl des
individuell,
national und ethnisch sich selbst relativierenden, also vernetzten
Weltbürgers
weiter und anders ausbildet, als dies schon aufgrund anderer Techniken
der Fall war. Die bisherigen Fragen einer Informationsethik im engeren
Sinne (Capurro 1995) müssen vor diesem Hintergrund neu durchdacht
werden.
Das
Ziel eines gemeinsamen Sprechens ist nicht primär und
notwendigerweise,
wie Lyotard gegenüber Jürgen Habermas hervorhebt (Lyotard
1990),
der Konsens, die rationale Transparenz und das kommunikative Handeln,
sondern
diesen liegen folgende Erfahrungen zugrunde: Kontingenz mitten in einem
(inzwischen nicht mehr so sehr) deterministischen Universum,
Relativität
mitten in einer Fülle von notwendigen praktischen Normen und
Gesetzen,
Paradoxien mitten in einer stets zu achtenden logischen Stringenz,
Ungewißheit
mitten in über Jahrtausende sanktionierten religiösen
Traditionen.
Durch solche Kontingenzerfahrungen wird die Geschlossenheit einer
kommunikativen
Wissens- und Konsenssituation gebrochen, so dass das scheinbare Wissen
und seine konsequente botmäßige Mitteilung sich als
Nicht-Wissen
entpuppen kann und der Dialog dorthin geführt wird, von wo aus er
neu entfaltet werden kann, zur Aporie. Denn das Entscheidende am
zwischenmenschlichen
Dialog, ob als face to face oder als interface, ist
letztlich, dass es einen Dialog gibt. Diese scheinbar banale
Tatsache ist,
emphatisch ausgedrückt, das Wunder aller Wunder, denn ohne sie
können
wir uns alle anderen Wunder, einschließlich des
'Cyberspace-Wunders'
im wahrsten Sinne des Wortes nicht einmal vorstellen, geschweige denn
sie
technisch realisieren. Nichts anderes als ein Vor- und Nachdenken
darüber
ist gemeint, wenn hier von Ethik im Cyberspace die Rede ist.