Was ist eine
Kette?
Die Antwort auf diese Frage hängt vom
geschichtlichen, kulturellen, politischen und technischen Kontext ab.
Eine
Kulturgeschichte der Kette muss noch geschrieben werden. Sie reicht bis
in die
Bronzezeit. Das Wort Kette stammt vom Lateinischen catena. Das
Grimmsche
Wörterbuch deutet es wie folgt: "allein gewöhnlich eiserne
kette, als
stärkeres seil zum binden, fesseln, befestigen", "kette in
der
uhr" "als schmuck, von gold, silber, auch als abzeichen einer
würde, als geschenk", sowie bildlich "wie band"
"doch als stärkerer ausdruck; sclaverei, gefangenschaft".
Mit
Bezug auf die letzte Bedeutung ein Klasssiker-Zitat: "Ein
Volk,
das unter dem unerträglichen Joch
eines Tyrannen seufzt, darfst du das schwach heißen wenn es
endlich aufgährt
und seine Ketten zerreißt? (J.W. von Goethe, Die Leiden des
jungen Werthers,
Am 12. August).
Der DUDEN
definiert
Kette als "aus
ineinandergreifenden Einzelgliedern gefügtes [Metall]band",
vielfach
übertragen gebraucht im Sinne von "zusammenhängende Folge
(von
Ereignissen, gedanklichen Äußerungen u.a.)." In diesen Sinne
hängen
Ausdrücke wie "mit einer Kette binden", "an die Kette, in Ketten
legen" und verketten "verknüpfen, verflechten" (15. Jh.) zusammen.
Schmuckketten spielen eine bedeutende Rolle in vielen Kulturen.
Der
Schmiedegott Hephaistos erfindet "Fesseln
(desmous), unzerbrechlich,
unlöslich", die er rund um das eigene
Bett
durch Hermes anbringen lässt: "[...] um die Pfosten [...] und auch
vom
Dachgebälk herunter baumelten viele, zart wie
Spinnengewebe, die keiner zu sehen vermöchte,
selbst der seligen
Götter". Dadurch ertappt er Aphrodite, seine Frau, und Ares in
flagranti
die dann gefesselt zum Gegenstand göttlicher Gelächter werden
(Odyssee, VIII,
275-344). Aischylos schrieb eine folgenreiche Tragödie über
den
"gefesselten" Prometheus" (desmotes
Prometheus). Dem
"listenreichen" (polyphronos)
Hephaistos entspricht der nicht weniger
"wandlungsreiche" (polýtropon)
Odysseus. Er lässt sich
durch seine
Gefährten, deren Ohren er mit Wachs bestrich, "an Händen und
Füßen
aufrecht an den Mast seines Schiffes fesseln (édesan)" um so den
Gesang
der Sirenen, "die alles wissen, was geschieht" zu hören. Als er
sie
"mit einem Wink mit den Brauen" bittet, ihn davon zu lösen, wird
er
durch Eurylochos und Perimedes noch stärker gefesselt und erst
davon befreit (anélusan)
als das Singen nicht mehr hörbar war (Odyssee, XII,
170-200). Die Griechen nannten métis diese
Art von praktischer listenreicher Intelligenz, die sich von der
sokratischen
Kunst des Fragens (dialegesthai)
unterscheidet.
Ketten dienen
sowohl
zur Fesselung von Mensch, Tier
und Maschine als auch zum Transport- und Kommunikationsmittel. Als
Antriebsmittel wurden über Jahrtausende Naturkräfte, Tiere
und Menschen und seit
der Industrialisierung die elektrische Kraft gebraucht. Die Eisenbahn
sowie das
Automobil und das Flugzeug sind Marksteine einer Kulturgeschichte der
Kette.
Mit dem Computer
findet eine neue Zäsur in der
Kulturgeschichte der Kette statt. Die aus Zahlen gebildeten Ketten
dienen zur
Steuerung von materiellen und symbolischen Prozessen aller Art. Seit
dem Ende
des vorigen Jahrhunderts umspannt eine digitale Kette, das Internet,
die ganze
Welt und erstreckt sich allmählich über die Erde hinaus. Man
kann die
Informatik als Kunst des digitalen Verkettens auffassen. Die digitale
Verkettung (ver)braucht zwar Energie, aber die Steuerung der Bewegungen
findet anhand
von digitalen Befehlsketten statt. Diese Steuerung betrifft auch die
zwischenmenschliche
Kommunikation. Wir leben in digitalen message societies.
Fernkommunikation
in alten Gesellschaften findet weitgehend auf der Basis von
menschlichen Boten
mit und ohne Unterstützung von Tieren und Maschinen sowie von
verschiedenen
kryptographischen Verfahren bei der materiellen Botschaftskodierung
jenseits
ihrer biologischen Kodierung im Gedächtnis des Boten statt. Die
symbolische
Kodifizierung durch die Schrift ist eine erste Form von
Entanthropomorphisierung und Entbiologisierung der
Kommunikationsmittel.
Das Medium des
gesprochenen Wortes wird allmählich durch das
geschriebene Texte und seit der Neuzeit durch den gedruckten Text
verdrängt,
was zu neuen gesellschaftlichen Fragen bezüglich der
Deutungshoheit
insbesondere seit der Reformation führt. Es stellt sich die
Machtfrage bezüglich
dessen, wer über die neuen Formen der Kommunikation verfügt
und über sie
bestimmt. Der geheime Austausch von Botschaften wurde zu einer
entscheidenden
politischen Macht, sowohl zur Sicherung als auch zum Sturz vom sozialen
Systemen und deren symbolischen rechtlichen und moralischen Grundlagen.
Die
Kunst der digitalen Verkettung findet auch einen Niederschlag in Form
von
bibliothekarischen und archivarischen Systemen und Institutionen statt.
Zu den
Möglichkeiten der Steuerung von schriftlicher Kommunikation
gehört nicht nur
die Zensur, sondern auch das Machtmonopol des Staates. Ein Grundfrage
bezüglich
sozialer Kommunikation besteht darin, die Prozesse und die Botschaften
so gut
wie möglich sicher zu machen, das heißt, sie in ihrer Form
zu schützen (safety)
als auch den unerlaubten Einfluss von Dritten (security)
abzuwehren. Die
Verkettung anhand von digitalen Boten und Botschaften bildet das
Rückgrat des
gesellschaftlichen Lebens, das noch weitgehend rechtlich und politisch
unreguliert verläuft mit gelungenen und krisenhaften Formen. Hier
knüpft die blockchain
Technologie an.
Was ist eine
Kette?
Diese Frage öffnet ein weites Feld an
technischen, kulturgeschichtlichen, rechtlichen, ökonomischen und
politischen Analysen,
bei denen es sich lohnen würde, sie miteinander in Berührung
zu bringen. Zuvor
müsste aber eine philosophischen und begriffsgeschichtliche
Analyse den Boden
vorbereiten, auf dem eine solche Zusammenkunft von Perspektiven
stattfinden
kann, in deren Brechung etwas Neues sich zeigen könnte, das in der
jeweiligen
Sichtweise verdeckt bleibt.
Der Kettenbegriff
spielt eine wichtige Rolle in Platons
Höhlengleichnis, wo die Menschen in jener "unterirdischen
Wohnstätte"
"von Kind auf mit Fesseln (en desmois)
an Schenkeln und Hals" fest
gebannt sind: "Sie bleiben also immer an der nämlichen Stelle und
sehen
nur geradeaus vor sich hin, durch die Fesseln gehindert ihren Kopf
herumzubewegen (periagein)"
und nur in der Lage sind, die Schatten der
Dingen zu sehen, die hinter ihren Rücken vorüber getragen
werden (Rep. 514a-b).
Die Gefangenen bleiben im Zustand der Torheit (aphrosyne), unfähig
ihren Kopf
zu bewegen, das heißt, zu reflektieren und einen anderen
Gesichtspunkt
einzunehmen, der ihnen erlauben würde, die Welt und sich selbst,
mit anderen
Augen wahrzunehmen anstatt den Zustand ihrer Verkettung als
unveränderbar
anzunehmen.
Der hier
verwendete
Kettenbegriff steht zwar in einem Kontext von
Kommunikation und Wahrheitssuche, wird aber als eine Technik
verstanden, die
beides verhindern soll. Ketten dienen dazu, Menschen und, wie im
anschließenden
Text ersichtlich, auch Göttern in
ihrer
physischen und geistigen Bewegungsfreiheit zu hindern. Im Dialog
"Ion" vergleicht Sokrates die Tätigkeit der Dichter und Rhapsoden,
die sich als Dolmetscher der Götter verstehen, mit einer "ganzen
langen
Kette (hormathós makrós)
von Eisenstücken und
Ringen", deren
Anziehungskraft aus dem Magneten herstammt: "Ebenso erfüllt die
Muse
selbst zunächst die Dichter mit göttlicher Begeisterung, und
indem durch diese
Begeisterten wieder andere in Begeisterung versetzt werden, bildet sich
eine
ganze Kette (hormathós).
Denn alle guten epischen Dichter geben
alle diese ihre
schönen Dichtungen nicht als Werke überlegter Kunst (ouk
emphrones) von sich,
sondern sie tun dies in einem Zustande der Begeisterung und
Verzückung."
(Ion 533 d-e) Mit anderen Worten, eine solche magnetische Kette, die
Begeisterung hervorrufen soll, funktioniert nur, wenn der eigene
Verstand des
Vermittlers ausgeschaltet ist.
Arthur O. Lovejoy
hat
in seiner klassischen
Studie "The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea"
(Harvard University Press 1936/1964) die Bedeutung der Kette als
leitende Idee in
der Geschichte der abendländischen Metaphysik analysiert.
Gegenüber der
Vorstellung von Boten und Botschaften, die auf den Menschen von den
Göttern her
übermittelt werden und somit keine wechselseitigen Kommunikation
erlauben,
erhebt sich Sokrates mit seiner Kritik an die Vermittlungsrolle der
Dichter. An
ihrer Stellt tritt der horizontale Dialog auf der Basis von
vernunftgeleiteten
Fragen und Antworten. Beide Modelle sind Formen von Kommunikation, das
heißt,
Formen der symbolischen Verkettung und Vermittlung. Der sokratische
Dialog
bietet das Grundmuster einer von der Macht von religiösen und
politischen
Autoritäten befreiten Kommunikation wie sie in Europa viele
Jahrhunderte später
in der Aufklärung erträumt wurde und jetzt, im digitalen
Zeitalter erneut
überdacht werden sollte. Somit wären wir beinah bei den
heutigen Ketten der
digitalen Technologie, wobei hinzuweisen wäre, dass es vor allem
seit dem 19.
Jahrhundert eine Reihe von bahnbrechenden technischen Erfindungen gab,
die im
digitalen Zeitalter in Form von blockchain
einen Höhepunkt
erreichen. Dass
diese Technologie als ein hervorragendes kryptographisches Verfahren
darstellt, ist die Frage nach
Sicherheit, Vertrauen und Verlässlichkeit in einer noch weitgehend
deregulierten und digital-vernezten message society. In
prä-digitalen
Gesellschaften waren die Fragen nach der Verlässlichkeit von Boten
sowie nach
der unverfälschte Wiedergabe einer Botschaft andere. Die
Verkettung als
digitale Vernetzung löst im 20. Jahrhundert den Motor als
energetische
Leitmetapher der Moderne ab.
Die vielleicht
stärkste Brechung des Kettenbegriffs zeigt
sich darin, dass wenn von Ketten in Bezug auf den Menschen als ein
freiheitliches Wesen sowohl in seiner Individualität als auch im
Hinblick auf
eine freiheitliche Demokratie, der Kettenbegriff negativ besetzt
erscheint.
Ketten, zumal in ihrer metallenen Materialität, deuten über
Jahrtausende auf
Ausbeutung, Gefangenschaft und Sklaverei hin. Das gilt vergleichsweise
auch für
die Ausbeutung anderer Lebewesen und der Natur überhaupt.
Andererseits hat der
Kettenbegriff eine positive Konnotation sofern damit den freien
Zusammenhalt
zwischen Menschen, das füreinander stehen und einander vertrauen
so dass ein gutes
menschliches Ganzes, welcher Art und für wie Lange auch immer
zustande kommen
kann, gemeint ist.
Menschliche
Kommunikation basiert auf einer solchen
freiwilligen Verkettung von Boten und Botschaften, die sich nicht nur
in
technischer und künstlerischer, sondern auch in der symbolischen
Form von Gesetzen
und Normen äußert, deren Auszeichnung darin besteht, dass
sie veränderbar sind
da sie auf das Spiel endlicher Freiheiten beruhen, die selbst das
eigentliche Band
sind. Vertrauen ist, so gesehen, eine Dimension zwischenmenschlichen
Zusammenseins, das heißt, zwischen Wesen, die etwas von sich
preisgeben oder
zurückhalten können. Wer wir sind, und nicht was wir sind,
hängt von diesem
sozialen Spiel von Vertrauen und Misstrauen ab. Man kann zwar sagen,
dass
man
Vertrauen in einer Technologie hat, aber das ist immer metaphorisch
gemeint.
Die blockchain Technologie kann diesem freien Spiel des Verbergens und
Offenbarens dienen aber sie schwebt nicht im leeren Raum, sondern ihre
Chancen
und Gefahren müssen kontextuell analysiert und bewertet werden.
Wie wollen wir in
Deutschland, in Europa und weltweit mit der Verkettung digitaler
Botschaften umgehen? Welche
ethischen
und rechtlichen Bedingungen sind für einen sinnvollen Umgang mit
dieser Technologie notwendig? Es ist an
der Zeit, über
diese Sozialtechnologie in Rahmen eines interdisziplinären Dialogs
nachzudenken, wozu dieser Beitrag einen Anstoß bieten soll.
Weiterführende Literatur
Angeletics.
Work in Progress
Die
französischen
Altphilologen Marcel Detienne und Jean-Pierre Vernant haben eine
vorzügliche Studie über die metis
geschrieben: "Les ruses de l'intelligence. La mètis des Grecs" (Paris
1974), deren Hauptinstrument verschiedene Arten von Fesseln waren.
Arthur O. Lovejoy
hat
in seiner klassischen Studie "The
Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea" (Harvard
University Press 1936/1964) die Bedeutung der Kette als leitende Idee
in der
Geschichte der abendländischen Metaphysik analysiert.
R. Capurro &
John
Holgate (Eds.). Messages and
Messengers - Angeletics as an Approach to the Phenomenology of
Communication. München
2011.
Letzte Änderung: 18. März 2019