BLOCKCHAIN

Über die Kunst der Verkettung im digitalen Zeitalter

Rafael Capurro

   
  

    

Was ist eine Kette? Die Antwort auf diese Frage hängt vom geschichtlichen, kulturellen, politischen und technischen Kontext ab. Eine Kulturgeschichte der Kette muss noch geschrieben werden. Sie reicht bis in die Bronzezeit. Das Wort Kette stammt vom Lateinischen catena. Das Grimmsche Wörterbuch deutet es wie folgt: "allein gewöhnlich eiserne kette, als stärkeres seil zum binden, fesseln, befestigen", "kette in der uhr" "als schmuck, von gold, silber, auch als abzeichen einer würde, als geschenk", sowie bildlich "wie band" "doch als stärkerer ausdruck; sclaverei, gefangenschaft". Mit Bezug auf die letzte Bedeutung ein Klasssiker-Zitat: "Ein Volk, das unter dem unerträglichen Joch eines Tyrannen seufzt, darfst du das schwach heißen wenn es endlich aufgährt und seine Ketten zerreißt? (J.W. von Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Am 12. August).

Der DUDEN definiert Kette als "aus ineinandergreifenden Einzelgliedern gefügtes [Metall]band", vielfach übertragen gebraucht im Sinne von "zusammenhängende Folge (von Ereignissen, gedanklichen Äußerungen u.a.)." In diesen Sinne hängen Ausdrücke wie "mit einer Kette binden", "an die Kette, in Ketten legen" und verketten "verknüpfen, verflechten" (15. Jh.) zusammen. Schmuckketten spielen eine bedeutende Rolle in vielen Kulturen.

Der Schmiedegott Hephaistos erfindet "Fesseln (desmous), unzerbrechlich, unlöslich", die er rund um das eigene Bett durch Hermes anbringen lässt: "[...] um die Pfosten [...] und auch vom Dachgebälk herunter baumelten viele, zart wie  Spinnengewebe, die keiner zu sehen vermöchte, selbst der seligen Götter". Dadurch ertappt er Aphrodite, seine Frau, und Ares in flagranti die dann gefesselt zum Gegenstand göttlicher Gelächter werden (Odyssee, VIII, 275-344). Aischylos schrieb eine folgenreiche Tragödie über den "gefesselten" Prometheus" (desmotes Prometheus). Dem "listenreichen" (polyphronos) Hephaistos entspricht der nicht weniger "wandlungsreiche" (polýtropon) Odysseus. Er lässt sich durch seine Gefährten, deren Ohren er mit Wachs bestrich, "an Händen und Füßen aufrecht an den Mast seines Schiffes fesseln (édesan)" um so den Gesang der Sirenen, "die alles wissen, was geschieht" zu hören. Als er sie "mit einem Wink mit den Brauen" bittet, ihn davon zu lösen, wird er durch Eurylochos und Perimedes noch stärker gefesselt und erst davon befreit (anélusan) als das Singen nicht mehr hörbar war (Odyssee, XII,  170-200). Die Griechen nannten métis diese Art von praktischer listenreicher Intelligenz, die sich von der sokratischen Kunst des Fragens (dialegesthai) unterscheidet.

Ketten dienen sowohl zur Fesselung von Mensch, Tier und Maschine als auch zum Transport- und Kommunikationsmittel. Als Antriebsmittel wurden über Jahrtausende Naturkräfte, Tiere und Menschen und seit der Industrialisierung die elektrische Kraft gebraucht. Die Eisenbahn sowie das Automobil und das Flugzeug sind Marksteine einer Kulturgeschichte der Kette.

Mit dem Computer findet eine neue Zäsur in der Kulturgeschichte der Kette statt. Die aus Zahlen gebildeten Ketten dienen zur Steuerung von materiellen und symbolischen Prozessen aller Art. Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts umspannt eine digitale Kette, das Internet, die ganze Welt und erstreckt sich allmählich über die Erde hinaus. Man kann die Informatik als Kunst des digitalen Verkettens auffassen. Die digitale Verkettung (ver)braucht zwar Energie, aber die Steuerung der Bewegungen findet anhand von digitalen Befehlsketten statt. Diese Steuerung betrifft auch die zwischenmenschliche Kommunikation. Wir leben in digitalen message societies. Fernkommunikation in alten Gesellschaften findet weitgehend auf der Basis von menschlichen Boten mit und ohne Unterstützung von Tieren und Maschinen sowie von verschiedenen kryptographischen Verfahren bei der materiellen Botschaftskodierung jenseits ihrer biologischen Kodierung im Gedächtnis des Boten statt. Die symbolische Kodifizierung durch die Schrift ist eine erste Form von Entanthropomorphisierung und Entbiologisierung der Kommunikationsmittel.

Das Medium des gesprochenen Wortes wird allmählich durch das geschriebene Texte und seit der Neuzeit durch den gedruckten Text verdrängt, was zu neuen gesellschaftlichen Fragen bezüglich der Deutungshoheit insbesondere seit der Reformation führt. Es stellt sich die Machtfrage bezüglich dessen, wer über die neuen Formen der Kommunikation verfügt und über sie bestimmt. Der geheime Austausch von Botschaften wurde zu einer entscheidenden politischen Macht, sowohl zur Sicherung als auch zum Sturz vom sozialen Systemen und deren symbolischen rechtlichen und moralischen Grundlagen. Die Kunst der digitalen Verkettung findet auch einen Niederschlag in Form von bibliothekarischen und archivarischen Systemen und Institutionen statt. Zu den Möglichkeiten der Steuerung von schriftlicher Kommunikation gehört nicht nur die Zensur, sondern auch das Machtmonopol des Staates. Ein Grundfrage bezüglich sozialer Kommunikation besteht darin, die Prozesse und die Botschaften so gut wie möglich sicher zu machen, das heißt, sie in ihrer Form zu schützen (safety) als auch den unerlaubten Einfluss von Dritten (security) abzuwehren. Die Verkettung anhand von digitalen Boten und Botschaften bildet das Rückgrat des gesellschaftlichen Lebens, das noch weitgehend rechtlich und politisch unreguliert verläuft mit gelungenen und krisenhaften Formen. Hier knüpft die blockchain Technologie an.

Was ist eine Kette? Diese Frage öffnet ein weites Feld an technischen, kulturgeschichtlichen, rechtlichen, ökonomischen und politischen Analysen, bei denen es sich lohnen würde, sie miteinander in Berührung zu bringen. Zuvor müsste aber eine philosophischen und begriffsgeschichtliche Analyse den Boden vorbereiten, auf dem eine solche Zusammenkunft von Perspektiven stattfinden kann, in deren Brechung etwas Neues sich zeigen könnte, das in der jeweiligen Sichtweise verdeckt bleibt.

Der Kettenbegriff spielt eine wichtige Rolle in Platons Höhlengleichnis, wo die Menschen in jener "unterirdischen Wohnstätte" "von Kind auf mit Fesseln (en desmois) an Schenkeln und Hals" fest gebannt sind: "Sie bleiben also immer an der nämlichen Stelle und sehen nur geradeaus vor sich hin, durch die Fesseln gehindert ihren Kopf herumzubewegen (periagein)" und nur in der Lage sind, die Schatten der Dingen zu sehen, die hinter ihren Rücken vorüber getragen werden (Rep. 514a-b). Die Gefangenen bleiben im Zustand der Torheit (aphrosyne), unfähig ihren Kopf zu bewegen, das heißt, zu reflektieren und einen anderen Gesichtspunkt einzunehmen, der ihnen erlauben würde, die Welt und sich selbst, mit anderen Augen wahrzunehmen anstatt den Zustand ihrer Verkettung als unveränderbar anzunehmen.

Der hier verwendete Kettenbegriff steht zwar in einem Kontext von Kommunikation und Wahrheitssuche, wird aber als eine Technik verstanden, die beides verhindern soll. Ketten dienen dazu, Menschen und, wie im anschließenden Text ersichtlich, auch  Göttern in ihrer physischen und geistigen Bewegungsfreiheit zu hindern. Im Dialog "Ion" vergleicht Sokrates die Tätigkeit der Dichter und Rhapsoden, die sich als Dolmetscher der Götter verstehen, mit einer "ganzen langen Kette (hormathós makrós) von Eisenstücken und Ringen", deren Anziehungskraft aus dem Magneten herstammt: "Ebenso erfüllt die Muse selbst zunächst die Dichter mit göttlicher Begeisterung, und indem durch diese Begeisterten wieder andere in Begeisterung versetzt werden, bildet sich eine ganze Kette (hormathós). Denn alle guten epischen Dichter geben alle diese ihre schönen Dichtungen nicht als Werke überlegter Kunst (ouk emphrones) von sich, sondern sie tun dies in einem Zustande der Begeisterung und Verzückung." (Ion 533 d-e) Mit anderen Worten, eine solche magnetische Kette, die Begeisterung hervorrufen soll, funktioniert nur, wenn der eigene Verstand des Vermittlers ausgeschaltet ist.

Arthur O. Lovejoy hat in seiner klassischen Studie "The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea" (Harvard University Press 1936/1964) die Bedeutung der Kette als leitende Idee in der Geschichte der abendländischen Metaphysik analysiert. Gegenüber der Vorstellung von Boten und Botschaften, die auf den Menschen von den Göttern her übermittelt werden und somit keine wechselseitigen Kommunikation erlauben, erhebt sich Sokrates mit seiner Kritik an die Vermittlungsrolle der Dichter. An ihrer Stellt tritt der horizontale Dialog auf der Basis von vernunftgeleiteten Fragen und Antworten. Beide Modelle sind Formen von Kommunikation, das heißt, Formen der symbolischen Verkettung und Vermittlung. Der sokratische Dialog bietet das Grundmuster einer von der Macht von religiösen und politischen Autoritäten befreiten Kommunikation wie sie in Europa viele Jahrhunderte später in der Aufklärung erträumt wurde und jetzt, im digitalen Zeitalter erneut überdacht werden sollte. Somit wären wir beinah bei den heutigen Ketten der digitalen Technologie, wobei hinzuweisen wäre, dass es vor allem seit dem 19. Jahrhundert eine Reihe von bahnbrechenden technischen Erfindungen gab, die im digitalen Zeitalter in Form von blockchain einen Höhepunkt erreichen. Dass diese Technologie als ein hervorragendes kryptographisches Verfahren darstellt,   ist die Frage nach Sicherheit, Vertrauen und Verlässlichkeit in einer noch weitgehend deregulierten und digital-vernezten message society. In prä-digitalen Gesellschaften waren die Fragen nach der Verlässlichkeit von Boten sowie nach der unverfälschte Wiedergabe einer Botschaft andere. Die Verkettung als digitale Vernetzung löst im 20. Jahrhundert den Motor als energetische Leitmetapher der Moderne ab.

Die vielleicht stärkste Brechung des Kettenbegriffs zeigt sich darin, dass wenn von Ketten in Bezug auf den Menschen als ein freiheitliches Wesen sowohl in seiner Individualität als auch im Hinblick auf eine freiheitliche Demokratie, der Kettenbegriff negativ besetzt erscheint. Ketten, zumal in ihrer metallenen Materialität, deuten über Jahrtausende auf Ausbeutung, Gefangenschaft und Sklaverei hin. Das gilt vergleichsweise auch für die Ausbeutung anderer Lebewesen und der Natur überhaupt. Andererseits hat der Kettenbegriff eine positive Konnotation sofern damit den freien Zusammenhalt zwischen Menschen, das füreinander stehen und einander vertrauen so dass ein gutes menschliches Ganzes, welcher Art und für wie Lange auch immer zustande kommen kann, gemeint ist.

Menschliche Kommunikation basiert auf einer solchen freiwilligen Verkettung von Boten und Botschaften, die sich nicht nur in technischer und künstlerischer, sondern auch in der symbolischen Form von Gesetzen und Normen äußert, deren Auszeichnung darin besteht, dass sie veränderbar sind da sie auf das Spiel endlicher Freiheiten beruhen, die selbst das eigentliche Band sind. Vertrauen ist, so gesehen, eine Dimension zwischenmenschlichen Zusammenseins, das heißt, zwischen Wesen, die etwas von sich preisgeben oder zurückhalten können. Wer wir sind, und nicht was wir sind, hängt von diesem sozialen Spiel von Vertrauen und Misstrauen ab. Man kann zwar sagen, dass man Vertrauen in einer Technologie hat, aber das ist immer metaphorisch gemeint. Die blockchain Technologie kann diesem freien Spiel des Verbergens und Offenbarens dienen aber sie schwebt nicht im leeren Raum, sondern ihre Chancen und Gefahren müssen kontextuell analysiert und bewertet werden.

Wie wollen wir in Deutschland, in Europa und weltweit mit der Verkettung digitaler Botschaften umgehen? Welche ethischen und rechtlichen Bedingungen sind für einen sinnvollen Umgang mit dieser Technologie notwendig?  Es ist an der Zeit, über diese Sozialtechnologie in Rahmen eines interdisziplinären Dialogs nachzudenken, wozu dieser Beitrag einen Anstoß bieten soll.


Weiterführende Literatur

Angeletics. Work in Progress

Die französischen Altphilologen Marcel Detienne und Jean-Pierre Vernant haben eine vorzügliche Studie über die metis geschrieben: "Les ruses de l'intelligence. La mètis des Grecs" (Paris 1974), deren Hauptinstrument verschiedene Arten von Fesseln waren.

Arthur O. Lovejoy hat in seiner klassischen Studie "The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea" (Harvard University Press 1936/1964) die Bedeutung der Kette als leitende Idee in der Geschichte der abendländischen Metaphysik analysiert.

R. Capurro & John Holgate (Eds.). Messages and Messengers - Angeletics as an Approach to the Phenomenology of Communication. München 2011.


Letzte Änderung: 18. März 2019

 
    

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