Beitrag zur Ad-hoc-AG Hochschulbildung
für
das digitale Zeitalter im europäischen Kontext im
Hochschulforum Digitalisierung der Hochschulrektorenkonferenz, 2019.
Bildung
und Information bedingen sich gegenseitig sowohl
begrifflich als auch sprachgeschichtlich. Man muss dabei zunächst
das Wort
Information von seiner lateinischen Herkunft (informatio) und seinem
griechischen Ursprung (eidos, idea,
morphe, typos) her verstehen, um sich
anschließend zu fragen, warum gerade im 18. Jahrhundert informatio im
pädagogischen Sinne von Formung der Sinne, des Verstandes und des
Charakters
mit Bildung übersetzt wurde. (1)
Diese
Übertragung ist vor allem Christoph Martin Wieland
(1733-1813) zu verdanken. Ilse Schaarschmidt schreibt: "Wieland
erläutert ausdrücklich durch
"Information" das Wort "Bildung". Niemand hat mehr dazu
getan, die Fremdwörter "Edukation" und "Information" durch
ein deutsches Wort zu ersetzen, als gerade der junge Wieland." (2)
Zuvor wurden die Begriffe "în-bildunge" und
"în-formunge" im theologischen Kontext in Zusammenhang mit
Genesis I,
26-27 gebraucht. (3) Claus Menze führt diese Übertragung aus
dem theologischen in den pädagogischen Bereich auf die
"Emanzipation des
dritten Standes" sowie auf die "kritische[n] Distanz des
vernünftigen
Menschen zu Theologie, Metaphysik, herrschender Gesellschaftsklasse"
zurück. (4)
Hans-Georg
Gadamer hat die Herkunft des Bildungsbegriffs
sowie die nachfolgende Bedeutungsentwicklung bei Hegel und Wilhelm von
Humboldt
nachgezeichnet. Er schreibt: "Der Begriff der Bildung, der damals zu
beherrschender
Geltung aufstieg, war wohl der größte Gedanke des 18.
Jahrhunderts, und eben
dieser Begriff bezeichnet das Element, in dem die Geisteswissenschaften
des 19.
Jahrhunderts leben, auch wenn sie das erkenntnistheoretisch nicht zu
rechtfertigen wissen." (5)
Mit
anderen Worten, die Frage was Hochschulbildung für das
digitale Zeitalter bedeutet, ist nicht nur eine
allgemeine, sich ihrer formalen Neustrukturierung besinnenden
Institution,
sondern sie muss sich inhaltlich den Herausforderungen des Zeitgeistes
stellen.
Sie muss in der Lage sein, über den geschichtlichen Horizont, der
heute
Digitalität heißt, zeitkritische Diskurse zu führen
und unterschiedliche
Machtansprüche von Politik und Ökonomie in Frage zu stellen.
Der scheinbar überkommene humanistische Bildungsbegriff des
18. und 19. Jahrhunderts, tritt dadurch im neuen Gewand. Religion,
Ökonomie, Staat und Militär, die Mächte welche die
Freiheit des Denkens im
Zeitalter der Aufklärung bedrohten oder einschränkte, wie
Immanuel Kant
mehrfach zum Ausdruck brachte (6).
In
seinem Buch "Code and other laws of
Cyberspace" zeigt Lawrence Lessig wie die Gesellschaft durch die
Spannung
zwischen den Systemen Markt, Recht, Moral und Softwarerchitektur
bestimmt wird. (7)
Wenn wir anstelle von 'Gesellschaft', 'Hochschule'
stellen, dann haben wir einen Rahmen, um die heutigen Spannungen zu
begreifen in denen die Hochschulen eingebettet sind. Dabei ist die Form
der
Gesellschaft und der Hochschule in einer "Kultur der Digitalität"
(Felix Stalder) nur eine Perspektive,
die nicht verabsolutiert werden sollte. (8)
Die jeweiligen Codes der anderen System werden zwar durch die
Digitalität und
durch die sich daraus entwickelnde Digitalisierung bestimmt, aber sie
sind
eigenständig in dem Sinne, dass sie in einem streitenden
Verhältnis zueinander
stehen. Der Code, welche für die Hochschulen gilt ist Wahrheit in
bezug auf die Wissenschaft und Wahrhaftigkeit in bezug
auf die Lehrenden/Forschenden und Lernenden.
Wie
stellen sich also die Hochschulen im jeweiligen
strategischen. d.h. auf lange Sicht orientierte Maßnahmen, und
taktischen, in
bezug auf die jeweiligen personellen und sachlichen Grundlagen ihres
Handelns
in diesem Spannungsfeld dar? Wichtig ist, dass der digitale Code nicht
aufoktroyiert,
sondern, im Luhmannschen Sinne, systemisch verstanden wird. Das System
Hochschule muß die "Mitteilung" des Digitalen als
"Sinnangebot" wahrnehmen, aus der es eine "Selektion" macht
("Information") und im System integriert ("Verstehen"). Die
Einheit dieser drei Momente (Mitteilung, Information, Verstehen) nennt
Luhmann
Kommunikation. (9)
Zur Zeit
bzw. entsprechend dem vorherrschenden digitalen
Zeitgeist der Digitalität, müssen die Hochschulen besonders
kritisch sein,
wenn der digitale Code sich anschickt, Wahrheit und Wahrhaftigkeit
entsprechend
seinen ökonomischen und politischen Machtinteressen zu bestimmen.
'Habe ich ein Algorithmus was für mich denkt...' würde Kant
heute zu Beginn von
"Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" hinzufügen wenn
er
schreibt: "Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so
großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von
fremder Leitung frei
gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens
unmündig bleiben;
und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern
aufzuwerden. Es
ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für
mich Verstand hat,
einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der
für mich Diät beurteilt,
u.s.w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe
nicht nötig zu
denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das
verdrießliche Geschäft
schon für mich übernehmen." (10)
Die
Aufgabe der Hochschulen im digitalen Zeitalter ist eine
doppelte: Sich digital umzubilden und den herrschenden Zeitgeist der
Digitalität im Hegelschen Sinne aufzuheben.
Anmerkungen
1. Vgl.
R. Capurro: Information. München 1978: http://www.capurro.de.html
2. Ilse Schaarschmidt: Der Bedeutungswandel der
Worte "bilden" und "Bildung" in der Literatur-Epoche von
Gottsched bis Herder. Inaugural-Dissertation, Albertus-Universität
in
Königsberg Pr. 1931.
3.
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode,
Tübingen 1975, S. 7.
4. Gen.
I, 26: כִּדְמוּתֵ֑נוּ בְּצַלְמֵ֖נוּ אָדָ֛ם נַֽעֲשֶׂ֥ה אֱלֹהִ֔ים וַיֹּ֣אמֶר (Na'ase
Adam Be'Tsalmenu Ki'Dmutenu). Lutherübersetzung.: "Lasset uns
Menschen
machen, ein Bild (בצלמנו
be-tsalmenu), das uns
gleich sei (כדמותנו ki-dmutenu)";
Septuaginta: κατ᾽ εἰκόνα ἡμετέραν καὶ καθ᾽ ὁμοίωσιν; Vulgata: ad
imaginem et
similitudinem nostram. Vgl. Gen. I, 27: "Und Gott schuf den Menschen
ihm
zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und
ein
Weib." Septuaginta: κατ᾽ εἰκόνα θεοῦ;
Vulgata: ad imaginem suam. Shaked Spier, ein israelischer Kollege der
in Berlin
lebt, erklärte mir den Unterschied zwischen tsalmenu und dmutenu
wie folgt:
"Es ist etwas schwierig zu erklären, aber Tselem bezieht sich rein
auf das
Optische, das Aussehen, das Bild (auf Hebräisch heißt
Le'Tsalem ein Foto
aufnehmen). Dmutenu ist etwas abstrakter, hat also auch mit dem Geist,
der
Seele oder dem Charakter zu tun, obwohl es nicht mit "in unserem
Geist" gleichzusetzen ist. Denk vielleicht an eine Figur im Theater
oder
Cinema – es handelt sich nicht nur um das Äußerliche, wie
sieht der
Schauspieler aus? wie ist er gekleidet und geschminkt?,sondern auch mit
Charakterzügen usw." (Shaked Spier, Email vom 4. April 2019). Zum
semantischen Feld von "în-bilden" erwähnt Schaarschmidt
"entbilden" im Sinne von "frei werden von sinnlichen
Vorstellungen", "überformen" als Übersetzung von
transformare,
"überbilden", "verbilden" sowie "einbilden" bei
Luther im Sinne von "einprägen" der Lehre (a.a.O. S. 13-14). Vgl.
R.
Capurro: Information, a.a.O. S. 175-180.
5.
C. Menze: Bildung. In: J. Speck, G. Wehle (Hg.): Handbuch
pädagogischer Grundbegriffe (München 1970), I, S. 136. Siehe:
R. Capurro: Information, a.a.O. S. 175.
6. Immanuel Kant: Was heißt: sich im
Denken
orientieren? Darmstadt 1975; Der Streit der Fakultäten.
Darmstadt 1975; Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung?" Darmstadt 1975.
7. Lawrence Lessig: Code and other laws of cyberspace, New
York 1999 (dt.Code und andere Gesetze des Cyberspace, Berlin 2002).
8. Felix Stalder: Kultur der Digitalität.
Berlin 2016.
9. Niklas Luhmann: Soziale Systeme.
Frankfurt a.M. 1984.
10. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung?" Darmstadt 1975, A 481-482.