Einleitung
Mehr
als zehn
Jahre nach
der Entstehung des Internet stehen wir vor einer paradoxen Situation:
Je
mehr der anfängliche Mythos einer von der realen Welt sich
unterscheidenden
Cyberwelt verblaßt und das Internet zum Alltag von Millionen von
Menschen gehört (Kemper/Sonnenschein 2002), um so mehr wachsen die
Erwartungen, dieses Medium werde uns, in einer anderen Weise als dies
die
Individual- und Massenmedien des 20. Jahrhunderts zu tun vermochten,
einander
näher bringen, womit nicht nur die privaten Beziehungen, sondern
ebenso
sehr das kulturelle, wissenschaftliche, wirtschaftliche und politische
Leben der Menschen in einer gemeinsamen Welt gemeint sind.
Die
digitale
Weltvernetzung
ist zur Leitmetapher avanciert, die uns nicht nur strukturell, sondern
auch geschichtlich aus den utopischen Sackgassen der Moderne mit der
Maxime: Vernetzt euch! hinaus führen soll. Der Sinn dieser
Maxime scheint
die Aufforderung zu sein, die digitale Spaltung (digital divide)
zu überwinden. Dies ist das Ziel der internationalen
Aktivitäten,
die unter der Führung der Vereinten Nationen sich um den Abbau von
Hemmnissen für den Zugang der sog. Dritten Welt zum Internet
bemühen.
Das Internet, scheinbar ein utopischer Ort außerhalb der
alltäglichen
Sorgen der Menschen, wird immer mehr zur Projektionsfläche eben
dieser
Leiden und Hoffnungen. Demnach sollte der Sinn der Kontroverse um die
Überwindung
der digitalen Spaltung nicht nur darin bestehen, denen, die keinen
Netzzugang
haben, diesen Anschluß technisch zu ermöglichen, sondern es
geht um die Überwindung jener Vorstellung, die der digitalen
Globalisierung
einen eigenen höheren Seinsrang im Vergleich zur alltäglichen
Lebenswelt zuschreibt.
Die
Gesellschaft der netizens,
die sich zunächst als eine von der realen Welt abgehobene
Sphäre
wähnte und zuweilen noch zu cybergnostischen Vorstellungen neigt
bis
hin zur Bildung eines digitalen Superhirns, erlebt zur Zeit eine
massive
Ökonomisierung des Netzes, die jene metaphysischen Träume zu
vernichten droht (Maresch/Rötzer 2001). Als eine von der
physischen
Realität getrennte Sphäre gehört das Internet zur
Geschichte
jenes Irrtums von der "wahren Welt", wovon Nietzsche erzählt, dass
sie zur Fabel wurde (Nietzsche 1999, 80-81).
Oder
vielleicht
noch nicht
ganz? Denn die Fabel über die Cyberwelt scheint gerade von jenen
ökonomischen
und politischen Interessen gebraucht zu werden, die sich den lokalen,
vor
allem rechtlichen und moralischen Regulierungen zu entziehen versuchen,
um somit ihre Ziele aufgrund eigener Regeln besser erreichen zu
können.
Das deutet aber zugleich darauf hin, dass der bisherige Sinn der
Unterscheidung
lokal/global, so wie er zum Beispiel in Zusammenhang mit der
terrestrischen
Globalisierung in der Neuzeit geprägt und gebraucht wurde, sich
verändert
(Sloterdijk 1999). Was ist aber das Besondere an der digitalen
Globalisierung
und an ihrem Verhältnis zum Lokalen?
1. Sinn und
Grenzen
der digitalen Ontologie
Ich
werde diese
Frage vor
dem Hintergrund der Heideggerschen Metaphysikkritik erörtern.
Während
die klassische Metaphysik den Sinn von Sein am Leitfaden der
Anwesenheit
bestimmte, geht es Heidegger darum, die diesem Seinsbegriff
zugrundeliegende
Zeitdimension, nämlich die Gegenwart, aufzudecken. Auf der Basis
der
Analytik der Seinsweise menschlichen Existierens, des "Daseins",
gelingt
Heidegger sozusagen eine Falsifizierung des metaphysischen Paradigmas
(Heidegger
1976). Es gibt zumindest ein Seiendes, dessen Sein sich auf die drei
Modi
der Zeit erstreckt und zwar so, dass es sich vor allem vom Zu-sein oder
von seiner Zukunft her versteht und ausbildet. Wir sind zwar
Architekten
unseres Lebens, aber bei dieser Konstruktion fehlt uns eine letzte
Grundlage
oder arche sowie ein uns,
wie bei sonstigen Lebewesen, fest
bestimmender
Rahmen, auch wenn unser biologischer Code und unsere Faktizität
insgesamt
uns Grenzen des Seinkönnens setzt. Heidegger bringt diesen
Unterschied
pointiert so zur Sprache: Der Mensch ist "weltbildend", das Tier ist
"weltarm",
der Stein ist "weltlos" (Heidegger 1983).
Die
raum-zeitliche und leibhaftige
Erstreckung unseres Existierens in der Welt, d.h. in einem Netz von
Bedeutungs-
und Verweisungszusammen- hängen, das wir mit anderen Menschen
mit-teilen,
bestimmt unsere Leiblichkeit in dem Sinne, dass wir zugleich mit
unserem
Hier-sein auch ein Dort-gewesen-sein und ein Dort-sein-können
austragen
und so einen gemeinsamen Offenheitsbereich semantisch und pragmatisch
erschließen
und strukturieren (Capurro 1994). Diese Art leiblichen Existierens
ermöglicht
uns jene Technologien zu erfinden, wodurch wir im Raum oder in der Zeit
Entferntes näher bringen, ohne aber aufzuhören ein "Wesen der
Ferne" zu sein (Heidegger 1973: 54).
Aufgrund
der
Offenheit und
Unbestimmtheit unseres Lebens können wir nicht nur die Dinge als
so
und so bestimmt erfassen, sondern das Maß selbst oder den Sinn
von
Sein auslegen, und dadurch, wie Aristoteles schreibt, sie als Seiendes
in ihrem Sein verstehen (Aristoteles 1973, Met. 1060 b 31-36). Ein
bestimmtes
Seinsverständnis stellt die digitale Ontologie dar. Damit ist aber
nicht die Vorstellung gemeint, wonach letztlich alles was ist,
digitaler
Natur ist. Letzteres wäre die Kernaussage einer digitalen
Metaphysik
im pythagoreischen Geiste.
Digitale
Ontologie meint
eine bestimmte Strukturierung unseres Seinsverständnisses: Wir
glauben – und ich meine, dass dieser Glaube heute nicht nur
leitend ist
für
die Wissenschaft, sondern auch in einer diffusen Weise im Alltag –,
etwas
in seinem Sein verstanden zu haben, wenn wir es im Horizont des
Digitalen
ontologisch auslegen. Die Digitalisierbarkeit ist somit,
transzendentalphilosophisch
ausgedrückt, Bedingung der Möglichkeit der Konstitution sowie
letztlich auch der Manipulation und Herstellung von (natürlichen
und
künstlichen) Gegenständen. Sie ist der Horizont, vor dem wir
das Netz von Bedeutungs- und Verweisungszusammenhängen weben, das
Heidegger Welt nennt.
Der
Ursprung
der gegenwärtigen
digitalen Ontologie liegt in der Bestimmung von Zahl und Punkt bzw. von
Arithmetik und Geometrie in der griechischen Antike (Heidegger
1992,
Capurro 2002, Eldred 2001). Was den heutigen digitalen Seinsentwurf
auszeichnet,
ist die Tatsache, dass wir Zahl und Punkt nicht nur, wie in der Antike,
aus dem Bereich der natürlich Seienden (physei onta) heraustrennen
(chorizein), sondern dass wir sie in das elektromagnetische
Medium
einprägen, dieses also – und in Zukunft vielleicht auch lebende
Materie – digital in-formieren. In diesem Sinne knüpft
der
Informationsbegriff
an die antike Herkunft des lateinischen Begriffs informatio, im
Sinne von etwas eine Gestalt geben, an (Capurro/Hjørland 2002).
Damit schaffen wir eine globale technologische Sphäre, die, dem
Wesen
von Punkt und Zahl entsprechend, durch Entzeitlichung,
Entörtlichung
und Entkörperlichung ausgezeichnet ist (Greis 2001).
Vor
dem
Hintergrund einer
so verstandenen digitalen Ontologie hat die Differenz global/lokal zwei
unterschiedliche Bedeutungen. Sie kann sich zum einen auf die Differenz
zwischen der Globalität der elektromagnetischen Weltvernetzung und
der Lokalität einer Adresse (eines Servers, einer Website...)
innerhalb
des Netzes beziehen oder sie kann zum anderen das Lokale als das
auffassen,
was außerhalb des Netzes, in der physischen raum-zeitlichen Welt
also, vorkommt. Aus digital-ontologischer Sicht ist aber das, was wir
physisch
nennen nur dann in seinem Sein verständlich, wenn wir es im
Horizont
des Digitalen – nicht allein im Horizont der digitalen Weltvernetzung
–,
entwerfen.
Diese
Sicht
kann zu einer
digitalen Metaphysik mutieren, wonach alles, was ist, nur auf das
Digitale
reduziert wird. Wenn wir, statt dessen, die Perspektive der
Digitalisierbarkeit
im Sinne eines möglichen Weltentwurfs auslegen, dann verliert sie
den sich selbst zusprechenden Seinsgrund und wird zu einer
möglichen
Form des verstehenden In-der-Welt-seins. Dadurch kommt auch jene
Dimension
des Seienden, die ursprünglich im Trennungsverfahren der antiken
Metaphysik
und jetzt im Diskurs des Digitalen ausgeschlossen wird, nämlich
die
Natur im Sinne dessen, was von sich aus aufgeht (physis), zur
Geltung.
Aus physischer Sicht ist das Digitale, einschließlich der
digitalen
Weltvernetzung, wiederum etwas Lokales, eine besondere Sphäre, die
überschritten oder, bildlich gesprochen, zum Platzen gebracht
werden
kann (Capurro 2002a).
Der
Diskurs des
Digitalen
betrifft nicht nur das, was wir ontologisch verstehen, sondern auch und
vor allem das, was wir dadurch herstellen und kontrollieren
können.
Ihm unterliegt die phantasmatische Bedrohung der totalen Kontrolle.
Diese
ist die Kehrseite jener "Deklaration der Unabhängigkeit des
Cyberspace",
die mit großem Pathos von John Perry Barlow propagiert
wurde
und die mit folgenden Worten beginnt:
Governments
of the
Industrial World, you weary giants of flesh and steel, I come from
Cyberspace,
the new home of Mind. On behalf of the future, I ask you of the past to
leave us alone. You are not welcome among us. You have no sovereignty
where
we gather. (Barlow 1996)
Das,
was diese
für sich
bestehende Welt der digitalen Vernetzung besonders auszeichnet, ist
das,
was sie ausschließt, nämlich:
Cyberspace
consists
of transactions, relationships, and thought itself, arrayed like a
standing
wave in the web of our communications. Ours is a world that is both
everywhere
and nowhere, but it is not where bodies live. (Barlow, a.a.O.)
Der
"global
conversation of
bits" unter virtuellen Subjekten ("virtual selves") (Barlow, a.a.O.)
steht
die Welt des raum-zeitlichen leibhaftigen Lebens gegenüber. Diese
ist die Welt der Politik, der Ökonomie und des Rechts mit ihren
jeweiligen
lokalen Interessen. Letztlich ist es die Natur selbst, die aus einer
metaphysisch
konzipierten digitalen Welt kommunizierender Geister – und das setzt
voraus,
dass so etwas wie Kommunikation ohne Körper stattfinden kann
(Lyotard
1988) – ausgeschlossen wird. Der Natur eignet die
Dimension
der
Gesetzmäßigkeit,
aber zugleich die des Zufalls, wie die gegenwärtige Debatte um
Klonen
und Präimplantationsdiagnostik (PID) zeigt. Der Diskurs der
digitalen
Freiheit verdrängt die inzwischen sehr reale Vorstellung digitaler
Kontrolle eben dieser Freiheit. Das Verdrängte kehrt aber
zurück.
Gegenüber
dieser Deutung
des, wie wir es in Anschluß an Heidegger nennen
können,
"Informations-Gestells", hebt die Auslegung des Digitalen im Sinne
einer
digitalen Ontologie die Möglichkeit dieses Weltentwurfs hervor.
Demnach
ist die Informationstechnologie eine schwache Technologie, die die
Strukturen
der Metaphysik nicht verfestigt, sondern aushöhlt, wie wir es mit
Blick auf Vattimos "schwache Denken" ("pensiero debole")
ausdrücken
können (Vattimo 1990, Capurro 1995, Sützl 2002). Eine Kritik
der digitalen Vernunft, die zur Entlarvung und Entschärfung
metaphysischer
Phantasmen beiträgt, begnügt sich aber nicht damit, auf die
schwachen
Eigenschaften des Netzes, wie Dezentralisierung und chaotische
Wucherung
hinzuweisen, sondern sie will auch das, was der digitale Diskurs
selbst,
sofern er sich metaphysisch mißversteht, ausschließt, zur
Sprache
bringen. Letzteres ist die Sphäre der Natur sowie die der
Kontingenz
menschlichen Existierens.
Die
digitale
Weltvernetzung
hat zweifellos nicht nur eine umfassende Veränderung unseres
lokalen
In-der-Welt-seins bewirkt – einschließlich aller Formen
digitaler
oder virtueller Ausgestaltung unseres beruflichen, akademischen,
ökonomischen,
künstlerischen, politischen und religiösen Lebens –, sondern
sie bewirkt, wenn wir sie als ontologisches Programm verstehen, ebenso
eine Veränderung unseres In-der-Welt-seins. Damit ist nicht nur
die
digitale Perspektive auf die Natur, sondern zugleich die Art und Weise,
wie wir uns in den von der Natur bedingten Beschränkungen unseres
Hier-und-jetzt-seins verstehen, gemeint. In diesem Sinne ist die
digitale
Weltvernetzung eine, gegenüber den bisherigen Transport- und
Kommunikationstechnologien,
neue Form der Auslegung und Ausgestaltung unseres raum-zeitlich
ent-fernenden
In-der-Welt-seins. Menschliches Existieren heißt diese Offenheit
stets leiblich austragen und deshalb auch technisch gestalten zu
können.
Ulrich Beck hat, in Anschluß an Roland Robertson, diese durch die
digitale Vernetzung bewirkte Veränderung des Verhältnisses
zwischen
dem Lokalen und dem Globalen mit dem Ausdruck "Glokalität"
gekennzeichnet
(Beck 1997, Bauman 1998).
2. Die
Rückkehr
des Lokalen
Wenn
etwa zehn
Jahre nach
der Entstehung des Internet und der Vorstellung eines für sich
bestehenden
Cyberspace von einer Rückkehr des Lokalen die Rede ist, dann ist
damit
keine bloße Gegenüberstellung zwischen dem lokalen Dasein in
der physischen Welt und dem globalen In-der-Cyberwelt-sein gemeint.
Sondern
gemeint ist, dass jede Differenz lokal/global sich immer schon in der
grundlosen
Offenheit unseres Existierens in der Welt vollzieht. Die Kontingenz
unseres
In-der-Welt-seins, als Spannung von Offenheit und Bestimmtheit, die
unser
Leben durchzieht, bestimmt die, systemtheoretisch ausgedrückt,
operative
Geschlossenheit unserer Existenz, unsere existentielle Erschlossenheit.
Sie ermöglicht uns, die jeweilige Perspektive zu beobachten,
worunter
wir das Verhältnis lokal/global ontologisch jeweils bestimmen. Das
Wissen, wie wir Welt entwerfen, das ontologische Wissen, beruht auf
einem
Vorverständnis, auf Systemgrenzen also, und bleibt deshalb immer
konjektureller
Natur. Gleichwohl läßt sich dieses Vorverständnis
beobachten.
Die philosophische Hermeneutik nennt dieses rekursive Verhältnis
von
Vorverständnis, Auslegung, Verstehen und Bildung eines neuen
Vorverständnisses
bekanntlich hermeneutischen Zirkel (Capurro 1986).
Die
Grenzen des
Systems der
digitalen Weltvernetzung und die der darauf basierenden Vorstellung
einer
Informations- und Wissensgesellschaft kommen erst dann zum Vorschein,
wenn
wir den Gebrauch der Unterscheidung lokal/global im Sinne von
physisch/digital
in ihrer jeweiligen Einseitigkeit beobachten und die metaphysische
Verfestigung
der digitalen Sphäre in Frage stellen. Mit
Informationsgesellschaft
ist dann eine Gesellschaft, die sich genau auf der Grundlage der
digitalen
Ontologie konstituiert, gemeint.
Damit
tritt
genau das Gegenteil
dessen ein, was sich John Perry Barlow mit seinem oben erwähnten:
"leave us alone" vorstellte. Die Frage lautet vielmehr: cui bono? Wem
und
inwiefern kommt die digitale Globalisierung lokal zugute? Diese
Beobachtung
läßt sich aber auch umkehren, falls nämlich die
Einstellung
"leave us alone" sich auf die physische Sphäre bezieht und zu
einer
Abschottung eben dieser Sphäre führt. Die Welt des für
sich
bestehenden Cyberspace ist, wiederum nach John Perry Barlow,
"everywhere
and nowhere", die der existentiellen Sphäre ist aber nicht "hier
und
nur hier", sondern "hier und zugleich dort". Beide bieten, sofern wir
sie
als getrennte voneinander unabhängige Sphären beobachten,
jeweils
eine atopische und eine utopische Perspektive. Die Rückkehr des
Lokalen
im Sinne von Glokalität bedeutet aber mitten im Lokalen "where
bodies
live" (J.P. Barlow) und wo wir unsere Existenz raum-zeitlich, hier und
dort, heute, damals und morgen, austragen, die Auswirkungen digitalen
Handelns
sichtbar zu machen (Capurro/Pingel 2002). Rückkehr des Lokalen
bedeutet
somit kein technik-feindliches oder gar provinzielles Denken. Aber auch
das metaphysische Pathos der digitalen Globalisierung findet hier
keinen
Halt.
Das
Internet
taugt nicht
(mehr) als Basis für eine cybergnostische Philosophie des Geistes.
Es hat aber die Welt der digitalen Massenmedien des 20. Jahrhunderts
grundlegend
und nachhaltig verändert (Capurro 2000), sofern wir nämlich
nicht
nur in der Lage sind, Empfänger zentral verteilter Botschaften
oder
Sendungen zu sein, sondern selber Sender sein können. Es
ermöglicht,
mit anderen Worten, eine neue Botschaftskultur. Mit Bezug auf den
griechischen
Begriff von Botschaft (angelia)
spreche ich von einer Angeletik im
Sinne
einer Wissenschaft, die sich mit der Frage: Was sind Botschaften?
beschäftigt
und sie im Horizont der digitalen Weltvernetzung mit ihrer dezentralen,
multimedialen und interaktiven Struktur (one-to-many, many-to-one,
one-to-one)
empirisch und interdisziplinär zu beantworten versucht (Capurro
2000a
und 2001a). Peter Sloterdijk hat darauf hingewiesen, dass wir in einer
"Epoche der leeren Engel" oder in einem "mediatischen Nihilismus"
leben,
in dem wir, bei einer Vervielfältigung der
Übertragungsmedien,
die zu vermittelnde Botschaft vergessen haben: "Das ist das eigentliche
Dysangelion der Gegenwart" (Sloterdijk 1997: 75). Nietzsches Wort
"Dysangelion"
(Nietzsche 1999a, 211) hebt, gegenüber der "Frohen Botschaft"
(euangelion),
die Eigenschaft der Leere jener Botschaften hervor, die durch die
Massenmedien
verbreitet werden und die in Marshall McLuhans Spruch zum Ausdruck
kommt:
"The medium is the message" (McLuhan 1964).
Die
Frage
lautet nun, inwiefern
die digitale Weltvernetzung neue soziale Synergien ermöglicht,
jenseits
ihrer phantasmatischen Erscheinungsweise (Zizek 1997), etwa in Form
eines
Netz-Messianismus, der meistens im Namen bestimmter
Wirtschaftsinteressen
und Firmenprofile propagiert wird. Meine These lautet nun, dass eine
Rückbesinnung
auf die Lokalität einen lebensweltlichen Bezug öffnet,
wodurch
ein lokales Maß gewonnen werden kann. Denn das Netz eröffnet
einen Nicht-Ort (atopos), in dem wir uns symbolisch
begegnen
können. Unsere symbolischen digitalen Interaktionen hatten zwar
anfänglich
einen mittelbaren, gegenwärtig und in Zukunft aber einen wohl
immer
mehr unmittelbaren Einfluß auf die ökonomische, kulturelle
und
politische Zukunft der Menschen.
Im
Klartext,
die digitale
Weltvernetzung ist kein Lückenbüßer für die
metaphysische
Leere, sondern ein cooler Nicht-Ort, der erst in Berührung
mit existentiellen Grenzen eine Bedeutung gewinnen kann. In diesem
Sinne
glaube ich, dass das Interface ein angeletischer und hermeneutischer
Ort
ist, an dem, in der Sprache der Systemtheorie, Mitteilung zur
Information
wird und diese wiederum, aufgrund eines Verstehensprozesses, einen Sinn
für das System darstellt (Luhmann 1987).
Das
gilt es
z.B. bei der
Gestaltung des Interfaces zu beachten, also im Hinblick auf eine, wie
wir
sie nennen könnten, artifizielle Hermeneutik, die sich nicht
darauf
beschränkt, wahrnehmungspsychologische Aspekte von Websites zu
analysieren,
sondern diese Aspekte stets in Bezug zur semantischen und pragmatischen
Ebene setzt. Wir können auch von kulturvergleichender
Website-Forschung
sprechen.
Das
Netz ist
aber kein Heilmittel
gegen das "Unbehagen in der Kultur" (Sigmund Freud), sondern steht in
einer
immer stärkeren Wechselwirkung mit allen Sphären der
Gesellschaft
und spiegelt deren Konflikte wider. So gilt es hier erneut die
Differenz
lokal/global im Sinne einer Differenz innerhalb des Netzes zu
hinterfragen,
um nicht an der Oberfläche der globalen Weltvernetzung hängen
zu bleiben, sondern diese Differenz im Hinblick auf die lokalen, d.h.
geographischen,
ökonomischen, kulturellen, politischen usw. Interessen im
Interface
des jeweiligen Systems zu analysieren. So gesehen ist die
Weltvernetzung
weder ein bloßes technisches oder neutrales Artefakt noch ein
Machwerk
der Moderne, sondern eine Weise, wie wir unsere Existenz im Sinne eines
ontologischen Weltentwurfs gestalten. In-der-Welt-vernetzt-sein
bedeutet
dann eine echte Möglichkeit menschlichen Existierens,
vorausgesetzt,
wir besinnen uns unserer Kontingenz, indem wir global und lokal bei
Sinnen
bleiben.
Das
bedeutet,
dass wir gewahr
werden, dass das digital zirkulierende Wissen nur Sinn macht, wenn wir
es in Zusammenhang mit einem lokalen lebensweltlichen, meistens
impliziten
Bezug, mit einem Vorverständnis also, in Verbindung bringen. Der
Zusammenhang
zwischen implizitem und explizitem Wissen hat in jüngster Zeit die
Aufmerksamkeit der Betriebswirtschaft auf sich gezogen, wobei sie
an einem neuen Ort eine alte hermeneutische Wahrheit wieder entdeckt
hat
(Von Krogh/Ichijo/Nonaka 2000). Wissen ist keine bloße
Ware,
die auf Knopfdruck oder anhand einer ausgeklügelten Software aus
einem
Data Warehouse herausgefiltert werden kann. Das Gegenteil ist der Fall:
Solche Filter machen dann und nur dann einen Sinn, wenn sie auf der
Basis
lokaler Annahmen und Ziele – hermeneutisch ausgedrückt: anhand
von
verobjektivierten Vorverständnissen (Capurro 1986) – erfolgen. Je
globaler, d.h. unbestimmter solche Hypothesen sind, um so leerer und
sinnloser
ist die dabei scheinbar gewonnene Information. Das zeigen nicht zuletzt
die vielen Treffer zu einer Suchanfrage im Internet. Mit anderen
Worten,
die Frage nach der Relevanz des Wissens steht und fällt mit
unserer
Fähigkeit, aus Mitteilungen Informationen zu selektieren und diese
in Vorverständnisse zu integrieren. Die Informations- und
Wissensgesellschaft
verliert erst dann zumindest teilweise ihren Fetisch- Charakter, wenn
wir
diese Fähigkeit in den verschiedenen Sphären (Erziehung,
Bildung,
Wirtschaft, Politik) ausbilden und so die Globalität mit der
Lokalität
in Berührung bringen.
Die
primäre Schnittstelle
einer solchen Berührung ist zwar das Interface, aber die
Rückkehr
der Lokalität, so wie sie hier verstanden wird, meint zuallererst
das physische raum-zeitliche Dasein der Menschen. Es ist dann zu
fragen,
was die digitale Globalisierung für diese oder jene Gesellschaft
oder
Gruppe innerhalb dieser oder jener Kultur unter diesen oder jenen
wirtschaftlichen
Verhältnissen konkret an Veränderungen der Lebensbedingungen
bringt, ob, zum Beispiel eine privilegierte Minderheit von der
digitalen
Weltvernetzung profitiert und dadurch die schon vorhandene Kluft
zwischen
Armen und Reichen noch tiefer wird, ob die Chancen für eine
bessere
Ausbildung steigen, ob bisher unterdrückte Stimmen im politischen
oder kulturellen Umfeld sich Gehör verschaffen können, ob die
Chancen für eine fortschreitende Demokratisierung steigen, ob sich
neue Betätigungsfelder eröffnen, so dass die lokale
Wirtschaft
neue Impulse, sprich: neue Arbeitsplätze, schafft und,
schließlich,
ob die kulturelle Vielfalt sich im Medium der digitalen Globalisierung
so artikulieren kann, dass ihre Aneignung auf der Basis und in
Auseinandersetzung
mit der lokalen Geschichte, den Traditionen und Metaphern und in der
eigenen
Sprache stattfinden kann.
Der
bloße
technische
Anschluß (access) der sog. Dritten Welt an die digitale
Infrastruktur
des World Wide Web löst per se keine sozialen Fragen. Im
Mittelpunkt
einer auf die konkreten Bedürfnisse der Menschen sich
ausrichtenden
digitalen Kultur muß, paradox ausgedrückt, die Leiblichkeit
stehen. Die Spannung zwischen dem Digitalen und der physischen Existenz
bildet die eigentliche Antriebskraft für die Fragen einer
Informationsethik
im 21. Jahrhundert (Frohmann 2000, Capurro 2000b, Capurro 2003).
Zugleich
ist hervorzuheben, dass die vielfältigen Formen menschlicher
Kommunikation,
die die Weltvernetzung bietet, zu neuen Formen von Gemeinschaften
führen,
die quer zu den bisherigen geographisch und kulturell bedingten
Lokalitäten
stehen, so dass Netz-Gemeinschaften sich vielfältig mit physischen
Lokalitäten überschneiden, d.h. zur Erweiterung und
Bereicherung
des lebensweltlichen Horizontes, aber auch zur Austragung neuer und
alter
Konflikte führen können.
Ausblick
Man
kann
vermuten, dass der
Einbruch der globalen und interaktiven Weltvernetzung in die
Lokalität
sich zwar anders, aber auch nicht weniger traumatisch auswirkt, als
dies
bei den Massenmedien des 20. Jahrhunderts der Fall war. In diesem Sinne
ist die Cybergnosis ein Symptom unseres metaphysischen Begehrens, uns
jenseits
von Raum und Zeit, d.h. jenseits der Leiblichkeit zu konstitutieren.
Die
Kehrseite dieses Begehrens besteht dann nicht nur im vermeintlichen
Ausschluß
der Lebenswelt aus dem Cyberspace, sondern im zynischen Gebrauch dieses
Ausschlusses, um auf Kosten anderer besser zu leben. Insofern ist der
mögliche
Sinn einer Rückkehr des Lokalen ein Aufruf zur Aufdeckung dessen,
was im digitalen Diskurs verworfen wird. Nur so kann das Netz
seine
Faszination, etwas zu sein, woran wir uns angleichen sollten, zumindest
teilweise verlieren. Aber genauso wenig kann es darum gehen, die
digitale
Weltvernetzung bloß im Sinne eines Werkzeugs aufzufassen, beim
dem
es letztlich nur darum geht, es – und letztlich auch die Lebenswelt
selbst – unter seine eigene Kontrolle zu bringen.
Das
wäre
nicht nur eine
unangemessene Vereinfachung der Komplexität moderner Technik am
Leitfaden
der Werkzeug-Metapher. Es würde zudem alle Paradoxien, die eine
solche
digitale Kontrolle der digitalen Kontrolle auf sich zieht,
übersehen,
auch und gerade wenn man bedenkt, dass eine globale Kontrolle immer
zugleich
eine durch bestimmte lokale Mächte ausgeübte Kontrolle sein
kann.
Statt dessen wird es darum gehen, dieses Phantom nicht auf das Lokale
zurück
zu projizieren, sondern das Handeln mit der Differenz zwischen dem
Lokalen
und dem Globalen zu beobachten und die jeweilige Art und Weise, wie
diese
Differenz ausgelegt wird, wiederum zu beobachten. Am Beispiel von John
Perry Barlow heißt dies, zu zeigen, wie der anfängliche
Diskurs
des Cyberspace sich des Ausschlusses des Physischen bedient, um diese
Differenz
wiederum in Frage zu stellen.
Eine
solche
Beobachtung zweiter
Ordnung läßt sich in vielfältiger Weise in der
konkreten
Lebenswelt durchführen. Sie ist Kernpunkt einer künftigen
(Bio-)Informationsethik.
Sie zielt dabei auf jene Schnittstelle, den menschlichen Körper,
der
immer mehr zum Fluchtpunkt von Informations- und Biotechnologien wird.
Die Frage, die sich dann stellt, ist inwiefern der infobiologische
Diskurs
genau jene beunruhigende Dimension der Natur (physis), als
dasjenige,
was von sich aus entsteht, zuläßt, vor allem in Anbetracht
der
beinah uneingeschränkten Möglichkeiten der digitalen
Manipulation
des Lebendigen. Der Mensch, der sich der phantasmatischen Ambivalenz
seines
Begehrens gewahr wird, muß sich mit dem konkreten Leiden
konfrontieren
lassen, anstatt die Digitalisierung für die allzu banalen Ziele
des
Profits und der Ausbeutung weiterhin zu mißbrauchen.
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